Aufschwung in Afrika und Europa in einer Hauptrolle
Die Erzählung vom hoffnungslosen Kontinent Afrika begleitet uns schon sehr lange, die Erzählung vom Zerfall Europas und des Westens seit einigen Jahren. Beide Narrative verstärken sich gegenseitig. Dabei sind die Realitäten ganz andere. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Hans Stoisser
Ich bin mit Maryanne und Amollo im Kaffeehaus in Nairobi verabredet. Zur Vorbereitung einer „Learning Journey“, die drei Wochen später stattfinden wird. Amollo sitzt bereits da. „Maryanne kommt nicht. Sie ist in Mombasa hängen geblieben,“ berichtet sie. Wir sind sauer und beschließen, dass Maryanne unseren Kaffee und Kuchen bezahlen soll. Am Ende unserer Besprechung schicken wir ihr den Fotoscan der Rechnung. Sie bezahlt prompt mit „mobile money“ über ihr Mobiltelefon. In Echtzeit hat der Kellner die Zahlungsbestätigung, wir verlassen das Lokal. Wäre das in Österreich möglich? Die Bezahlung einer Kaffeehausrechnung durch Dritte, 500 km entfernt?
Digitale Transformation
Es waren nur wenige findige Unternehmer, die Ende der 1990er Jahre mit hohem Risiko in den Ausbau der Mobiltelefonie in Afrika investierten. Heute aber haben drei Viertel der Afrikaner ein Mobiltelefon. Im Jahr 2007 wurde in Kenia die erste „mobile Bank“ M-Pesa gegründet. Die Telefonnummer wurde damit zur Bankkontonummer. In Kenia wird heute knapp die Hälfte der Wirtschaftsaktivitäten über das Mobiltelefon bezahlt. Wie auch unsere Kaffeehausrechnung in Nairobi. Am afrikanischen Kontinent gibt es mittlerweile über 140 „mobile Banken“. In Afrika hat die Mobiltelefonie hunderten Millionen Menschen innerhalb weniger Jahre Zugang zur „Welt“ gegeben. Und wenige Jahre später hat „mobiles Geld“ diesen Menschen Zugang zur Geldwirtschaft verschafft. Telekommunikation und Geldwirtschaft sind Grundvoraussetzungen, um im modernen Sinn wirtschaften zu können.
Die Digitalisierung hat längst das Leben auch der Armen grundlegend verändert. In Ostafrika sind mehr als eine Million
ländliche Haushalte mit so genannten „Heimsolaranlagen“ ausgestattet. Ein einfaches Solarpanel, Beleuchtung und Leitungen, ein Radio oder Fernseher. Nicht ans öffentliche Stromnetz angeschlossen, aber ans Telefonnetz mit eingebauter SIM-Karte. Mit mobilem Geld wird der Strom bezahlt, etwa in Höhe der Kosten, die sich der Haushalt durch nicht mehr notwendiges Brennholz und Kerosin erspart. Das britisch-kenianische Unternehmen M-Kopa oder das deutsche Startup Mobisol sind einige der Vorreiter, die diese Innovation entwickelt haben. Ich spreche hier von Unternehmen, die die Suche nach Lösungen für (afrikanische) Kunden als ihren Unternehmenszweck sehen. Und nicht die Maximierung des eigenen Gewinns. Der Gewinn kann niemals Zweck sein, er ist die Folge von erfolgreich angebotenen nachhaltigen Lösungen. Dieser Unterschied ist wichtig, er zeigt den Unterschied zwischen funktionierender Realwirtschaft und den Nullsummenspielen der Finanzwirtschaft.
Neben Nairobi sind Kigali in Ruanda, Lagos in Nigeria, Accra in Ghana und Johannesburg und Kapstadt in Südafrika die Hotspots. Startups und etablierte Unternehmen arbeiten an digitalen Zahlungsdienstleistungen, Plattformen für Mobilitäts- und Botendienste per Taxi oder Motorräder, GPS-basierten Adresssystemen und vielen mehr.
In Ruanda werden die oft chaotisch anmutenden „Mutatos“ – die Gemeinschaftstaxis, wichtigstes Verkehrsmittel in den afrikanischen Städten – längst bargeldlos bezahlt. Die Versorgung der ländlichen Spitäler und Gesundheitsposten mit Blutkonserven und Medikamenten erfolgt im unwegsamen Land mit Drohnen. Ein flächendeckender digitaler Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist im Aufbau. - Afrikanische Städte zeigen uns, wie Software den Mangel an Ärzten, Lehrern und Infrastrukturen teilweise kompensieren kann.
Keiner der zigtausenden westlichen Entwicklungsexpertinnen und -experten, die sich in den 1990er-Jahren den Kopf über die weitere Entwicklung Afrikas zerbrochen und tausende Pläne produziert haben, inklusive des Autors dieser Zeilen, hatte dabei die Mobiltelefonie auf dem Radar.
Auch hatte niemand geahnt, dass Globalisierung und Digitalisierung ganz Neues entstehen lassen. Heute sprechen wir von „Leapfrogging“, dem Überspringen von Entwicklungsschritten. Mit dem Mobiltelefon wurde die Festnetztelefonie übersprungen, der Masseninternetzugang erfolgte gleich über das Mobiltelefon und nicht über den Desktopcomputer. Und Stromnetze werden gleich dezentral und „smart“ gebaut, bevor sie flächendeckend – und ineffizient – die Länder überziehen. Aber es ist sogar mehr als ein Überspringen. Eine eigenständige digitale Transformation ist entstanden, nicht behindert durch alte Technologien, Regulierungen und Besitzständen und deswegen näher am Bedarf der Menschen.
Kritiker stellen die Frage, ob diese Innovationen auch wirklich der breiten Masse der Menschen etwas bringen und ob diese Geschichten nicht überhaupt nur eine neoliberale Erfindung sind.
Aufschwung in Afrika
In den 1980er Jahren arbeitete ich im laut Armutsstatistik ärmsten Land der Welt, im westafrikanischen Kap Verde. In den 1990ern wieder im ärmsten Land, im südostafrikanischen Mosambik. Auch in Uganda, Äthiopien, Tansania, Simbabwe und einigen anderen Ländern. Immer hörte und las ich die Geschichten vom hoffnungslosen Kontinent. Ich hingegen habe immer mit Leuten zusammengearbeitet, die von Jahr zu Jahr besser ausgebildet waren, einen höheren Lebensstandard hatten und in einem wirtschaftlich immer dynamischeren Umfeld lebten. Eine ganz andere Wahrnehmung.
Etwa ab der Jahrtausendwende sah man das auch in den Statistiken. Die Wirtschaftsleistung Sub-Sahara-Afrikas hat sich in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten in Kaufkraftparitäten real verdoppelt, das Pro-Kopf-Einkommen ist trotz steigendem Bevölkerungswachstum um die Hälfte gestiegen. Im Durchschnitt, inklusive der gescheiterten Staaten wie Somalia oder Süd-Sudan.
Die Armut ging zurück. Zählten 1990 noch 56 Prozent der Afrikaner zu den absolut Armen (weniger als 1,9 Dollar pro Tag), waren es 2015 34 Prozent. Gleichzeitig ist eine Mittelschicht entstanden, zu der man je nach Definition zwischen einem Fünftel und einem Drittel der 1,2 Milliarden Afrikaner zählen kann. Diese Zahl wird sich in den nächsten 15 Jahren wohl verdoppeln. – Afrika hinkt der weltweiten Wohlstandsentwicklung zwar hinterher, aber ein wirtschaftlicher Aufbau ist in vollem Gang.
Wenn wir in Europa Afrikanerinnen und Afrikaner in Schlauchbooten in Sizilien oder Griechenland ankommen sehen, glauben wir, sie drängen zu uns, weil sie immer ärmer werden. Das Gegenteil ist der Fall. Weil auf unserem Nachbarkontinent immer mehr Menschen aus der absoluten Armut herauskommen, immer mehr das Geld für die Ausreise aufbringen können und weil die Bevölkerungszahlen noch immer im Steigen begriffen sind, versuchen immer mehr ihr Glück zum Beispiel auch in Europa. Das ist logisch und nachvollziehbar. Auch wenn die afrikanischen Länder aufholen, die absoluten Wohlstandsunterschiede werden noch lange bestehen bleiben.
Paradoxerweise hat die Flüchtlingskrise von 2015 das Narrativ vom Krisenkontinent Afrika verstärkt, statt es den neuen Realitäten angepasst. Die Medienöffentlichkeit hat lange nicht zwischen Menschen auf der Flucht – Menschen, die aus Angst ihr Land verlassen – und Migranten – Menschen, die sich aus Hoffnung auf ein besseres Leben aufmachen – unterschieden. Damit auch nicht zwischen Syrien, Nigeria oder Senegal. Aus MigrantInnen wurden schnell einmal „Armuts-“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“. Die Geschichte, die wir uns über Afrika erzählten, wurde in Funktion der europäischen Innenpolitik geschrieben und nicht als eine Beschreibung der afrikanischen Realität. Unser falsches Bild von Afrika hängt eng mit unserer eigenen Krise in Europa zusammen.
Vernetzte globale Gesellschaft
Kishore Mahbubani, der Intellektuelle aus Singapur, sieht sieben „Säulen“, die Europa bzw. der Westen geschaffen hat und die von der gesamten Welt übernommen wurden: die freie Marktwirtschaft, freie Wissenschaft und Forschung, die Leistungsgesellschaft, ein politischer und kultureller Pragmatismus, eine Friedenskultur, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und das offene Bildungs- und Ausbildungssystem.
Das sind die Grundlagen der vernetzten globalen Gesellschaft, eines komplexen, dezentral organisierten Systems, ohne eindeutiges Machtzentrum. Sie machen es möglich, dass heute 7,5 und zukünftig 10 bis 11 Milliarden Menschen überhaupt überleben und darüberhinaus, dass immer mehr Menschen auch gut leben können und immer mehr aus der Armut finden.
Die bisherige Geschichte der Menschheit muss zuallererst als „Flucht aus Armut und Krankheit“ (Angus Deaton) beschrieben werden und nicht als eine Ansammlung von Ungerechtigkeiten, die es natürlich gibt und gegen die wir etwas tun müssen. Weil uns aber die Erzählung vom hoffnungslosen Kontinent Afrika immer schon begleitet, sehen wir die positiven Entwicklungen am Nachbarkontinent nicht.
Hinzu kommt seit etwa 2008, dem Beginn der Finanzkrise, die Erzählung vom Zerfall Europas und des Westens. Wir kommen gar nicht auf die Idee, von einer positiven Rolle Europas zu sprechen. Die beiden Narrative – hoffnungsloses Afrika, Zerfall Europas – verstärken sich gegenseitig.
Was, wenn wir die genannten Beiträge Europas als Grundlage sehen würden, um mit den globalen Herausforderungen wirtschaftliche Entwicklung, Migration und Klimaveränderungen umzugehen? Wir würden nicht zu allererst die Abschaffung des ungerechten Wirtschaftssystems oder des Kapitalismus fordern. Vielmehr würden wir das globale System weiterentwickeln wollen und die Potenziale einer dezentral organisierten globalen Gesellschaft erkennen, die die Freiheit des Einzelnen mit der Kreativität und Intelligenz der Vielen zu vereinen versucht.
Und wir würden eine „Mission“ Europas erkennen, die vernetzte globale Gesellschaft auf Basis der sieben Säulen humanistischer zu gestalten. Gemeinsam mit den afrikanischen Ländern, von denen wir lernen können, wie man die digitale Transformation näher am Bedarf der Menschen ausrichtet.
ZUR PERSON I Hans Stoisser ist Unternehmer und Managementberater, Associate beim Global Peter Drucker Forum und war über 30 Jahre in unterschiedlichen Funktionen in afrikanischen Ländern tätig. Er organisiert „Learning Journeys“ nach Nairobi und Kigali, um unternehmerisch denkenden Menschen das innovative Afrika näher zu bringen. Publikationen: „Der schwarze Tiger – Was wir von Afrika lernen können“ (Kösel Verlag, 2015)
www.ecotec.at www.hansstoisser.com
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo