
Augen zu, Augen auf
Bereits früh regte sich Kritik an den Ausgangsbeschränkungen, die uns auferlegt wurden. Stehen die Verordnungen und 500-Euro-Strafen für einen nichtbeachteten Abstand in einem Verhältnis zur tatsächlichen Gefahr? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher, Illustrationen: Eva Vasari
Ein Vormittag Ende April, die Sonne scheint, nur vereinzelt sind Menschen auf den Straßen. „Wir sind in einer Situation, die wir nie für möglich gehalten hätten. Der Staat greift massiv in all unsere Belange ein: Sei es, dass wir mit Masken in ein Geschäft gehen müssen oder ich mich frage, ob ich meine Eltern sehen oder mich beim Spaziergang auf ein Bankerl setzen darf“, erzählt Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich.
Wie ein fernes Unwetter zog die Covid-19-Krise auf. Zuerst aus China ein fernes Grollen, dann ein immer näherkommendes Donnern aus dem Nachbarland Italien. Ende Februar erreichte das Virus SARS-CoV-2 Österreich. In den darauffolgenden Wochen regnete es Maßnahmen und Verordnungen: Reiseeinschränkungen, Veranstaltungsabsagen, physische Distanzierung, Schul- und Universitätsschließungen, Ausgangsbeschränkungen. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten brachen plötzlich weg.
Gehorsame Seelen
Mit so rasch umgesetzten und tiefgreifenden Grundrechtseingriffen hatte Daniela Ingruber nicht gerechnet. Die Politikwissenschafterin wunderte auch, dass sich die Bevölkerung zu Beginn alles gefallen ließ: „Viele haben in der ersten Schockphase wohl gesagt: Augen zu und durch.“ Einerseits hilfreich zur schnellen Bekämpfung der Pandemie, andererseits besorgniserregend, wie wenig die Einschränkungen zunächst hinterfragt wurden, so Ingruber. „Das kann einerseits an einer immer noch monarchistischen Seele liegen, aber natürlich gab es mit dem Nationalsozialismus nochmal eine Zeit, in der die Menschen lernten, dass man nicht anders denken dürfe und zu gehorchen habe“, erklärt Ingruber. So etwas werde weitergegeben. „Wir wissen aus der Forschung, dass es bis zu zwei oder drei Generationen dauert, bis Vorurteile aus den Köpfen rausgehen. Ähnlich ist es im Umgang mit Befehlen.“
Offene Wunden
Die Krise zeigte verschärft, wo bereits zuvor wunde Punkte lagen. Ob prekäre Arbeitsverhältnisse, Herausforderungen für Alleinerziehende und Patchworkfamilien, Mangel an Pflegekräften, zunehmende häusliche Gewalt, erschwerter Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen oder ungleiche Verteilung von Bildungschancen.
Bevölkerungsgruppen, die von vornherein einer gesellschaftlichen Isolierung ausgesetzt sind, traf es besonders hart. In Haftanstalten wurden Besuche sowie Aus- und Freigänge ausgesetzt. Auch in Alters- und Pflegeheimen war kein Besuch erlaubt. In einigen Einrichtungen wurde Wachpersonal eingestellt. Kaum ein Spaziergang oder Arztbesuch war für die BewohnerInnen möglich. Mittlerweile häufen sich die Beschwerden von Angehörigen, die aus ihrer Sicht völlig überzogene Freiheitsbeschränkungen kritisieren. So berichtet die BewohnerInnenvertretung, die die Rechte von Menschen in Heimen gesetzlich vertritt, von einem Fall, in dem einer Pflegeheimbewohnerin verwehrt wurde, ihre Brille vom Optiker abzuholen. Andernfalls dürfe sie zwei Wochen ihr Zimmer nicht verlassen.
Ist da etwas aus dem Ruder gelaufen? Viele Regelungen wurden unklar formuliert, die Menschen fühlten sich verunsichert, meint Annemarie Schlack. „Es ist wichtig zu wissen: Was ist ein Wunsch der Regierung? Und was darf die Polizei wirklich sanktionieren? Da gab es viele Fälle, wo die Polizei ihre Befugnisse überschritten hat.“ Ein Beispiel machte Caritas-Geschäftsführer Klaus Schwertner öffentlich: Ein Wiener erhielt eine Strafverfügung über 500 Euro. Das Vergehen: Auf dem Weg zur Apotheke zur Medikamentenabholung den Mindestabstand von einem Meter zu seinem Bruder nicht eingehalten zu haben. Eine hohe Summe für den Mann, der 980 Euro Pension bezieht.
Problematisch war auch das Verbieten einiger Demonstrationen: „Es geht nicht, dass Versammlungen mit dem lapidaren Hinweis auf Corona untersagt werden“, meint Schlack. „Dass Fehler passiert sind in dieser Eile, ist klar. Doch jetzt braucht es eine transparente Fehlerkultur.“ Das Recht auf Gesundheit sei natürlich wichtig, es könne jedoch nicht dauerhaft über andere Menschenrechte gestellt werden. „Wenn Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausgesetzt werden, ist das extrem gefährlich. Ich schaue da nach Ungarn, wo die Orbán-Regierung nun per Dekret ohne Kontrolle und ohne Enddatum regiert“, warnt die Amnesty-Geschäftsführerin. Davon sei Österreich weit entfernt. Dennoch waren demokratiepolitisch bedenkliche Entwicklungen zu beobachten: Eilige Gesetzesverabschiedungen in Sammelnovellen, verkürzte Begutachtungsfristen, kaum Parlamentsdiskussionen und zunehmendes Regieren per Erlass. „Gerade jetzt braucht es eine informierte und kritische Bevölkerung“, betont Schlack.
Moderne Dystopie
Wachsam zu bleiben, insbesondere was Überwachungsmaßnahmen betreffe, fordert auch der israelische Erfolgsautor Yuval Noah Harari in der Financial Times. Vorübergehende Maßnahmen hätten oft die üble Eigenschaft, über Notstandszeiten fortzudauern, vor allem unter dem Vorwand, dass sich ja schon die nächste Krise – etwa ein Wiederausbruch oder ein neues Virus – am Horizont abzeichnen würde. Wichtig sei nun, „dass die Gesetze und Verordnungen wieder zurückgeschraubt werden, während wir darauf schauen müssen, dass Grund- und Menschenrechte nicht auf Dauer eingeschränkt bleiben“, bekräftigt die Demokratieforscherin Ingruber. „Ich hoffe, dass die Menschen ein Gefühl dafür bekommen haben, dass eine Regierung nicht alles darf und es so wichtige Kontrollinstrumente wie den Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof zu schützen gilt.“ Ein stärkeres Parlament wäre wichtig, nicht nur Parlamentssitzungen, die wie eine Inszenierung anmuteten. Ebenso eine starke Opposition: „Da war tagelanges, wochenlanges Schweigen.“
Was wird bleiben?
Daniela Ingruber beobachtete nach verschiedenen Krisen eine Art Biedermeierphase: „Die Menschen ziehen sich zurück, beschäftigen sich mit sich selbst und igeln sich ein“, Das könne die Stunde der Populisten und Polemiker sein, warnt sie.
Home-Office, Essenslieferung, OnlineUnterricht. „Diese Pandemie hat dafür gesorgt, dass manche Dinge einfach schneller gekommen sind“, vermutet Ingruber. Das bedeute auch eine Änderung, wie Menschen in einer Demokratie partizipieren. „Wie bekomme ich so überhaupt noch mit, wie es anderen geht, wie die Welt draußen aussieht?“ Die Reiseeinschränkungen könnten sich nicht auf Dauer halten lassen. „Ich bin gerade in Osttirol, das ist vom Handel und auch von der Kultur viel stärker mit Südtirol, also Italien, verbunden als mit dem Rest Tirols oder mit Kärnten“, berichtet Ingruber. Das sei nur ein Beispiel unter vielen: „Wir sind in Europa schon so vernetzt, dass die Grenzen wieder schneller aufgehen werden, als man es uns jetzt glauben macht.“
Eine Chance sieht die Politikwissenschaftlerin in einem neuen Grundrechtsbewusstsein: „Wir könnten uns jetzt genauer überlegen, was Freiheit eigentlich bedeutet und welche Freiheiten uns wichtig sind.“ Darauf setzt auch Annemarie Schlack von Amnesty. Sie wünscht sich ein neues Solidaritäts- und Gemeinschaftsgefühl. Und ergänzt: „Wenn ich ein wenig träumen darf.“
Milena Österreicher arbeitet als freie Journalistin, Übersetzerin für Spanisch und Portugiesisch sowie als Sprachtrainerin.
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