„Das gibt einem ein bestärkendes Gefühl“
Sie haben nach dem Terroranschlag in Wien eine gemeinsame Gedenkkundgebung abgehalten und agieren, wenn es um Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus geht, solidarisch. Victoria Borochov von der Jüdischen österreichischen Hochschüler*innenschaft (JöH) und Hager Abouwarda von der Muslimischen Jugend Österreichs (MJÖ) im Gespräch. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell, Alexander Pollak, Fotos: Karin Wasner
Ist es in eurem Alltag eigentlich relevant, dass ihr jüdisch bzw. muslimisch seid?
Victoria: Bei mir ist es mittlerweile in jedem Lebensbereich relevant. Ich studiere Judaistik, ich bin Vize-Präsidentin der JöH, ich habe im Kulturbereich der Israelitischen Kultusgemeinde gearbeitet und ich mache Führungen in der Synagoge, also mein ganzes Leben dreht sich ums Judentum. Aber in meinem privaten Umfeld, mit nichtjüdischen Freunden und Freundinnen ist das nicht so relevant, da bin ich dann einfach ich. Auch wenn wir natürlich über Antisemitismus sprechen, zum Beispiel wegen der Vorkommnisse bei den Corona-Demos.
Hager: Bei mir ist es ähnlich. Dass ich muslimisch bin, ist schon relevant, etwa durch meine Glaubenspraxis, während das in meinem Freundeskreis weniger Thema ist. Wobei: wenn ich muslimische Freundinnen und Freunde treffe, kann es schon sein, dass wir darüber reden, was wir im öffentlichen Raum erlebt haben. Deutlich spürt man das auch, wenn man eine Wohnung sucht oder sich um einen Job bewirbt. Da gibt es absurde Geschichten: Eine Freundin hat mir einmal erzählt, sie wurde bei der Führerscheinprüfung gefragt, ob sie nicht ihr Kopftuch ausziehen will. Sowas beschäftigt einen, ob wieder irgendwelche Vorfälle kommen. Mir hat einmal ein Berater geraten: Such dir lieber einen Job, wo du nicht sichtbar bist. Vielleicht in einem Callcenter. Das war ein „gut gemeinter“ Ratschlag. Aber ich weigere mich, dass meine Zukunft vielleicht in einem Callcenter ist.
MJÖ-Pressesprecherin Hager Abouwarda und JöH-Vize-Präsidentin Victoria Borochov im Gespräch. Tut die Politik genug oder wird vor allem geredet?
Habt ihr euch einmal überlegt, ob ihr eure Religionszugehörigkeit sichtbar machen wollt?
Hager: Meine Religionszugehörigkeit wird ja durch das Kopftuch sichtbar, das war eine persönliche Entscheidung und soll für andere keine Botschaft darstellen. Ganz plakativ: Weder Minirock noch Kopftuch ist eine Einladung zu einer Handlung oder einem Kommentar.
Victoria: Bei mir war es umgekehrt. Ich wollte eigentlich nicht als Jüdin erkennbar sein. In der Schulzeit habe ich das eher versteckt. Aber meine Arbeit in der JöH, wo ich mit jüdischen Leuten zusammen bin, hat mich bestärkt. Jetzt traue ich mich auch, eine Kette mit dem Davidstern sichtbar zu tragen, oder eben als jüdische Aktivistin in der Öffentlichkeit zu sprechen. Und damit auch zu riskieren, zur Zielscheibe zu werden.
Habt ihr das Gefühl, sichtbar zu sein ist ein Risiko in Österreich?
Hager: Auf jeden Fall, da kann ich Victoria nur zustimmen. Du wirst einfach zur Zielscheibe, entweder von rassistischen Menschen, die dich identifizieren oder auch sonst.
Borochov, Abouwarda: Aktiv in der JöH oder MJÖ zu sein, gibt einem Zugehörigkeit und das Gefühl, dass man nicht allein ist.
Habt ihr selbst Unangenehmes erlebt?
Hager: Ja, sicherlich, nicht wenig. Egal ob in den Öffis oder auf der Straße, da fallen Schimpfworte öfters so nebenbei, wenn man aussteigt.
Victoria: Bei mir ist das etwas anders, weil ich nicht erkennbar jüdisch bin. Aber zum Beispiel, als ich zehn Jahre alt war, hat ein Junge in der Schule auf den Treppen begonnen, mich zu schubsen und gemeint: „Du Scheiß-Jüdin, ich bring dich und deine ganze Familie um.“ Auch in den sozialen Netzwerken kriege ich Hassnachrichten. Das kommt in Wellen. Zum Beispiel im Mai, nach der Gegenkundgebung „Gegen jeden Antisemitismus“ erhielt ich sehr viele antisemitische Meldungen. Auch jetzt bei unserer Anzeige gegen Kickl. Das kann einen schon sehr belasten.
Wie seid ihr aufgewachsen, war Religion bei euch zuhause ein Thema?
Hager: Ich erinnere mich, dass meine Eltern ab und zu gebetet haben, also die religiöse Praxis bekommt man als Kind mit. Aber es war kein großes Thema, das unser Leben irgendwie bestimmt hätte.
Victoria: Wir waren in meiner Kindheit nicht wirklich eine religiöse Familie. Wir sind jeden Freitag und Samstag zum Schabbes zu meinen Großeltern gegangen. Damals ist der Fernseher im Hintergrund gelaufen, die Kinder haben geschaut. Mittlerweile sind sie ein bisschen religiöser geworden. Ich selbst bin nicht sehr religiös, aber ich liebe meine Kultur.
Würdet ihr sagen, ihr seid merkbar anders sozialisiert worden? Im Kindergarten ist es ja in Österreich, anders als in anderen Ländern unüblich, die großen Feste gemeinsam zu feiern.
Victoria: Das war für mich weniger relevant, weil ich die jüdischen Feiertage immer mit meiner Familie gefeiert habe. Ich fand Weihnachten und Nikolo immer ganz süß, weil ich da Geschenke und Süßigkeiten bekommen habe. Aber mittlerweile finde ich schon, dass es mich beeinflusst, vor allem, wenn jüdische Studentinnen zu Jom Kippur eine Prüfung machen müssen, obwohl es der höchste jüdische Feiertag ist. Das muss berücksichtigt werden.
Hager: Als Kind merkt man das vielleicht nicht so. Man feiert Weihnachten in der Schule, daheim hatten wir das nicht. Aber wir sind zum Beispiel zum Christkindlmarkt gegangen. Ich höre aber von anderen Jugendlichen, die zum Ramadan gesetzlich einige Tage frei nehmen dürften, dass sich Lehrer darüber aufregen.
Welche Rolle spielen Organisationen wie die JöH und MJÖ? Wie seid ihr dort hingekommen?
Hager: Ich bin schon seit einigen Jahren bei der MJÖ und für mich war es eine wichtige Erfahrung, dass ich mich dort nicht fremd oder anders gefühlt habe. Keiner hinterfragt mein Aussehen, mein Kopftuch. Du wirst als Person einfach so angenommen. Das war eine Erleichterung, ein safe space. Wenn ich negative Erlebnisse hatte, konnte ich mit anderen darüber reden. Vielen geht es dort genauso. Zugleich gibt einem ein bestärkendes Gefühl, dass man nicht allein ist.
Victoria: Das könnte ich genauso unterschreiben. Ich war an einer öffentlichen Schule, hatte kaum jüdische Freund*innen und habe gemerkt, dass da ein kleines bisschen Zugehörigkeitsgefühl fehlt. Es war purer Zufall, dass ich über Freundinnen zur JöH gekommen bin. Alle waren extrem nett und willkommenheißend, plötzlich merkte ich, hier gibt es diese Zugehörigkeit. So bin ich dann einfach geblieben (lacht). Die JöH ist auf jeden Fall ein „Safe space“, wo man gegen Antisemitismus kämpft, wo man gemeinsam aufsteht, und nicht immer in der Opferrolle ist. Das ist extrem bestärkend. Ich weiß nicht, wo ich ohne die JöH heute wäre.
Hager Abouwarda über die „Islamlandkarte“: Wie sollte man das bewerten, wenn so eine Maßnahme von der Integrationsministerin kommt?
Wie entkommt man der Opferrolle, das klingt sehr ambivalent?
Victoria: Da wird man automatisch hineingedrängt, man muss sich richtiggehend aus dieser Rolle herausbrechen. Natürlich sind Jüdinnen und Juden Opfer des Holocaust, und wir sind heute noch Opfer von Antisemitismus. Aber nicht nur. Wir sind stark, wir stehen dagegen auf. Deswegen haben wir auch FPÖ-Chef Kickl angezeigt.
Hager: Wir verstehen uns selbst als Brückenbauer*innen in der MJÖ. Es gibt von verschiedener Seite Menschen, die die Gesellschaft spalten. Uns ist es wichtig, mit verschiedensten Menschen zusammenzuarbeiten, karitative Projekte auf die Beine zu stellen, aktiv für die Gesellschaft da zu sein. Das ist bestärkend, man sieht nicht nur die negativen Seiten, die Hasskommentare, sondern erlebt auch andere, positive Reaktionen von Menschen. Wie du gesagt hast, Victoria, die Opferrolle sucht man sich nicht aus, aber es ist eben wichtig, da rauszukommen.
Wie kam es zu den Kooperationen zwischen euren Organisationen?
Hager: Ich glaube, das erste Mal war der Protest gegen das Lueger-Denkmal, und es gab auch andere wechselseitige Unterstützungen. Auch beim Terroranschlag am 2. November. Drei Tage danach haben wir gemeinsam eine Gedenkkundgebung organisiert, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Das haben wir auch heuer wieder gemacht.
Ein wichtiges Projekt der MJÖ war es, gegen Antisemitismus aufzutreten. Wie kam es dazu, hat da auch die Diskussion um muslimisch motivierten Antisemitismus eine Rolle gespielt?
Hager: Unter anderem, ja. Wir haben bemerkt, dass muslimische Bürger*innen für einen Anstieg des Antisemitismus verantwortlich gemacht werden. Deshalb wollten wir uns damit auseinandersetzen, gesamtgesellschaftlich aber vor allem innermuslimisch. Wenn man an Österreichs Geschichte denkt, dann wollen wir nicht, dass man die Problematik nur der muslimischen Community zuschiebt. Wir selbst haben ein Buch herausgebracht, „Muslim*innen gegen Antisemitismus“, wir haben Gespräche mit Zeitzeug*innen oder etwa eine Reise nach Auschwitz organisiert.
Interessant ist, dass die Politik Antisemitismus mittlerweile sehr klar ablehnt. Man hört fast wöchentlich Wortmeldungen, es gibt Gedenktage. Andererseits ist die Politik bei anti-muslimischen Rassismus zumindest sehr leise oder befeuert ihn sogar noch. Ist diese Ungleichbehandlung ein Thema bei euch?
Victoria: Politiker*innen treten gerne auf und sagen „Never again“. Aber die Frage ist: Was wird tatsächlich gemacht? Es gibt immer noch Antisemit*innen im Nationalrat, noch mehr auf der Straße. Das Innenministerium warnt Jüdinnen und Juden, sie sollen sich in Acht nehmen. Man fühlt sich durch die Politik nicht wirklich beschützt, sondern eher im Stich gelassen. Ich würde mir wünschen, dass der Antisemitismus auf den Corona-Demos viel schärfer kritisiert und geahndet wird. Nicht das jüdische Leben soll sich in Acht nehmen, sondern die Rechtsextremisten.
Hager: Es ist leicht für die Politik, symbolisch etwas zu verkünden. Aber wer macht wirklich etwas, wer organisiert wirklich etwas? Das sind dann meistens die Jugendorganisationen. Als am Ring die Gedenkbilder an NS-Opfer wiederholt beschmiert und zerstört wurden, waren das Jugendorganisationenen wie die MJÖ, die dann 24-Stunden Mahnwache gehalten haben. Das ist ehrlich gemeinte Solidarität. Da ist auch der Rabbiner gekommen und hat uns im Ramadan zum Fastenbrechen Essen gebracht.
Victoria Borochov zur Sachverhaltsdarstellung der JöH gegen Kickl nach einem ZiB2-Interview: „Ich finde es wichtig, dass wir das gemacht haben, aber schade, dass es niemand anderes gemacht hat.“
Victoria, du hast die Sachverhaltsdarstellung der JöH zu Herbert Kickl angesprochen, warum der Schritt?
Victoria: Kickl hat in einem ZiB2-Interview aus unserer Sicht ganz klar den Holocaust verharmlost, indem er die strukturelle Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden mit der jetzigen Situation verglichen hat. Das wollten wir so nicht stehenlassen. Wir wollten aufzeigen, dass ein Nationalratsabgeordneter im öffentlich-rechtlichen Fernsehen den Holocaust verharmlost und das ohne Konsequenzen bleibt. Ich finde es wichtig, dass wir das gemacht haben, aber extrem schade, dass es niemand anderes gemacht hat.
Weiterhin Thema ist die „Islamlandkarte“, für die es viel Kritik gab, auch dass sie wissenschaftlich keine Erkenntnisse bringt. Im Auftrag des Integrationsministeriums erstellt, hat die Art der Präsentation islamische Organisationen in den Kontext von religiösem Extremismus gestellt. Wie seht ihr das?
Victoria: Wir haben das stark kritisiert, das fanden wir eine Frechheit der Politik.
Hager: Interessant war, dass wir, bevor sie online ging, schon eine Kampagne gegen die „Islamisierung der Politik“, gemacht haben, weil wir bereits seit Jahren beobachten können, dass das Thema „Islam“ politisch instrumentalisiert wird, um von eigenen Verfehlungen und Mißständen abzulenken. Wie sollte man das bewerten, wenn so eine Maßnahme von der Integrationsministerin kommt? Die Folgen konnte man sehen, es tauchten verhetzende Schilder vor Moscheen auf und man stachelt Menschen mit dieser Karte auf. Was uns sehr gefreut hat, ist, dass es eine unheimlich große Solidaritätswelle gegeben hat. Das war bestärkend. Zugleich fragt man sich, wie ernst wird die Zivilgesellschaft genommen, wenn die Karte nicht gelöscht wurde?
Im türkis-grünen Regierungsprogramm ist noch von einer Forschungs- und Dokumentationsstelle für religiös motivierten politischen Extremismus und Rassismus die Rede. Was blieb, ist eine Stelle für den „politischen Islam“. Wurde das Projekt nur schlecht umgesetzt oder ist es insgesamt fragwürdig?
Hager: Es ist wichtig, gegen jede Art von Extremismus vorzugehen. Dazu müsste man sich unsere Gesetzeslage anschauen, ob es Lücken gibt und ob wir eine ausreichende Regelung haben. Dass die „Islamlandkarte“ problematisch ist, sieht man jedenfalls schon daran, dass sie von der Dokumentationsstelle politischer Islam erstellt wurde. Damit wird klar, dass das Argument der Ministerin, die Karte sei neutral, nicht greift.
Wie seht ihr euer Verhältnis zu den Dachorganisationen, zur IGGÖ, der Islamischen Glaubensgemeinschaft, und zur IKG, der Israelitischen Kultusgemeinde? Reibt ihr euch da oder läuft das ganz harmonisch?
Victoria: Die IKG vertritt ja alle jüdischen Gemeinden in Österreich. Wir vertreten jüdische Studierende. Teilweise haben wir sehr verschiedene Ansichten, wir sind sicherlich lauter in unserem Aktivismus, aber wenn wir Unterstützung brauchen, ist die IKG auf jeden Fall eine Anlaufstelle. Dass uns im Oktober der Präsident für einen Austausch getroffen hat, fanden wir einen wichtigen Schritt.
Hager: Wir sind unabhängig und es gibt auf jeden Fall Reibungsfläche. Um ehrlich zu sein, ist die IGGÖ keine Anlaufstelle für uns, wir halten vieles, was dort passiert, für falsch. Wenn sie etwas Gutes machen, dann sagen wir das auch. Als die Frauensprecherin 2020 ausgetreten ist, haben wir uns aus feministischen Gründen hinter sie gestellt, und gesagt: Es kann nicht sein, dass ein Gremium, das die gesamte muslimische Community vertreten sollte, nur aus Männern besteht. Das Projekt Ende letzten Jahres zum Empowerment von Mädchen und Frauen fand ich gut.
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