„Das war ein regelrechter Klimawandel“
Anny Knapp war 30 Jahre lang Obfrau der Asylkoordination Österreich, im vergangenen Oktober ist sie in Pension gegangen. Ein Gespräch über die Flüchtlingsankunft 2015, über besser trainierte Beamte und den eigenen Antrieb. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Eva Maria Bachinger, Fotos: Karin Wasner
Bevor es das Internet gab, war sie die Auskunftsperson in Asyl- und Migrationsfragen schlechthin. Ganz verabschiedet hat sie sich aber noch nicht: In ihrem Büro in der Wiener Burggasse türmen sich noch Berge von Unterlagen: „Es ist rund um meinen Arbeitsplatz über die Jahre eine Art Landschaft entstanden. Die gehört noch gesichtet, manches entsorgt.“
Wenn Sie zurückblicken, was fällt Ihnen zuerst ein?
Dass wir es in den 1990er-Jahren auch nicht leicht hatten. Manches ist besser geworden. Viele der Verbesserungen wurden allerdings durch Urteile der Höchstgerichte bewirkt oder von der EU vorgeschrieben. Ich denke auch daran, mit welcher erstaunlichen Energie nicht nur in den vergangenen Jahrzehnten viele Initiativen entstanden sind. 2015 hat es mich echt vom Hocker gehaut, wie viele Menschen zu den Bahnhöfen gegangen sind und Flüchtlinge willkommen geheißen haben. Das war ein regelrechter Klimawandel und für mich eine schöne Überraschung.
Was ist heute konkret besser?
Die Zustände in der Schubhaft waren in den 1990er-Jahren der pure Wahnsinn, das kann man sich nicht vorstellen, dass so etwas in einem westeuropäischen Land möglich war. Das ist heute eindeutig besser. Die Grund- und Freiheitsrechte haben mehr an Bedeutung gewonnen und die Willkür der Polizei ist nicht mehr so massiv gegeben wie damals. Früher ist es schnell mal passiert, dass man bei der Polizei die Stiegen runtergefallen ist. Heute sind die Beamten auf Deeskalation trainiert, früher waren sie die Machos. Insofern frag ich mich angesichts der Diskussion um die Sicherungshaft, was das nun wieder soll? Da waren wir schon weiter. Auch in den EU-Richtlinien ist Haft für Asylwerber etwa beim Dublin-Verfahren eingebaut worden, das war nicht vorgesehen. Auch der Plan die Asylverfahren an der Grenze zu führen ist sicherlich keine Verbesserung. Die Intention ist ganz klar, dass die Türen und Tore von Österreich fest verriegelt werden müssen. Bei der ÖVP gibt es offenbar ein Trauma, 2015 darf sich nicht wiederholen. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass die menschenrechtliche Sicht auf das Asylrecht keine große Bedeutung hat, auch nicht die Frage der europäischen Verantwortung und Solidarität.
Wie beurteilen Sie die türkis-grüne Regierung grundsätzlich?
Ich bin jedenfalls froh, dass die FPÖ weg ist. Das ist keine Frage. Es war schon schlimm genug, dass die Freiheitlichen in die Regierung gekommen sind und dann gab es auch noch so einen Sympathieträger namens Kickl als Innenminister. Es kann nur besser werden, auch wenn es einen Wermutstropfen gibt. Denn offenbar haben die Türkisen das Thema Asyl von der FPÖ übernommen. Der neue Innenminister Karl Nehammer ist ja auch nicht von der liberaleren Fraktion. Im aktuellen Programm ist für mich der sogenannte koalitionsfreie Raum besorgniserregend. Wenn es eine Krise gibt und keine Einigung mit den Grünen zustande kommt, dann macht die ÖVP bestimmte Gesetze einfach mit der FPÖ. Es ist für die Grünen sicher keine leichte Situation. Ich kann nun nur hoffen, dass sie viel Fingerspitzengefühl und Standhaftigkeit beweisen.
Sie meinen, dass es nicht mehr viel Bewusstsein zu geben scheint, dass das Recht, einen Asylantrag zu stellen ein Menschenrecht ist. Aber kann das nicht auch damit zusammenhängen, dass viele Armutsmigranten via Asylverfahren nach Europa kommen?
Das ist ein Thema, das schwierig zu diskutieren ist. Das Asylrecht sollte man nicht verändern, es hat eine historische Dimension. Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus haben viele Weltregionen systematisch unterjocht und ausgebeutet. Wir sind zwar auf der Butterseite, aber womit genau hätten wir uns das verdient? Insofern ist nicht zu rechtfertigen, Menschen in anderen Gegenden, die keine Perspektive sehen, woran wir auch einen Anteil haben, zu sagen, ihr dürft nicht kommen. Wir sind in Österreich nicht einmal so weit, Menschen aufzunehmen, die besonders hart unter den Bedingungen in Flüchtlingslagern leiden. Eine Ausnahme hat es in der Vergangenheit gegeben, als knapp 2.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen wurden. Aber seitdem verweigern wir systematisch das Resettlement-Programm der UNO, wir verweigern auch das Relocation-Programm der EU für Flüchtlinge aus Griechenland und Italien. Wir denken nicht einmal daran, Flüchtlinge zu evakuieren. Wir beteiligen uns nur daran, die EU-Grenzen systematisch abzuriegeln.
Soll man die Bereiche Asyl und Migration nicht besser trennen um das Asylwesen zu entlasten?
Österreich hat bisher keine Migrations-Strategie entwickelt, um Leute auch zum eigenen Nutzen anzuwerben. Die Latte ist viel zu hoch gelegt: Es ist nur Leuten möglich, zu kommen, die eine hohe Qualifikation haben oder Vermögen besitzen. Menschen mit einer durchschnittlichen Qualifikation oder ohne Ausbildung steht die Tür nicht offen. Als weitere Möglichkeiten gibt es nur die Familienzusammenführung sowie geringe Kontingente für Schlüsselarbeitskräfte. In den 1990er-Jahren gab es einen Versuch der Gemeinde Wien, philippinische Krankenschwestern ins Land zu holen. Da wurde aber auch kritisiert, dass dann vor allem jene Menschen abgeworben werden, die im Land selbst gebraucht werden.
Soll man Asyl wieder in einer EU-Botschaft in der Herkunftsregion beantragen können?
Ja, damit könnte man auch die Schlepperei bekämpfen und müsste nicht so viel in den Grenzschutz investieren. Früher gab es ein Botschaftsverfahren, aber das hat nicht funktioniert, weil man gar nicht wollte, dass es funktioniert. Es gibt gewisse Animositäten in der österreichischen Verwaltung. Das Außenamt hatte nicht gut mit dem Innenressort kooperiert, das sind zwei verschiedene Welten. Der eine Mitarbeiterstab kommt aus dem Polizeibereich, der andere aus der Diplomatischen Akademie. Da herrschte auch Angst, dass es zu einer totalen Überlastung der Botschaft kommt, wenn sich das herumspricht. Das war auch der Fall, als in der afghanischen Community das Gerücht kursierte, dass Österreich afghanische Flüchtlinge aufnehmen würde. Binnen kurzer Zeit wurden 5.000 Asylanträge gestellt. Daraufhin hat man die Botschaft geschlossen und das war damals leider auch der Anlass, das Botschaftsverfahren ganz abzuschaffen. Aber wenn man etwas wirklich will, ist es machbar.
Die soziale Ungleichheit nimmt zu. Viele fühlen sich auch durch Globalisierung und Digitalisierung abgehängt. Ist das auch ein Grund für Fremdenfeindlichkeit?
Die Propagandamaschine läuft unbarmherzig dahin, fernab jeder Realität. Eine Verdrängung von Österreichern am Arbeitsmarkt findet ja nicht wirklich statt. Wenn, dann passiert das im Niedriglohnbereich, aber da trifft es auch wieder vorwiegend Migranten. Es wird einfach ein Neidkomplex geschürt. Immer wieder spricht die FPÖ von der sozialen Hängematte. Da wird nicht zwischen Leuten unterschieden, die sich im Asylverfahren oder der Grundversorgung befinden, und jenen, die bereits Asyl und einen Anspruch auf Mindestsicherung haben. Es herrscht die Haltung vor: Wenn es mir nicht gut geht, dann soll es anderen auch nicht gut gehen. Es gibt ja auch genügend Österreicher, die sich herumwinden und Mindestsicherung beziehen, aber bei den Flüchtlingen wird von vornherein angenommen, dass sie nur deswegen nach Österreich kommen. Viele glauben, wir würden ihnen alles in den Rachen werfen und die Leute müssten überhaupt nichts tun.
Was könnte man der Propaganda wie Sie sagen, entgegenhalten?
Man kann wohl nur andere Geschichten erzählen und das möglichst authentisch. Mit Fakten und Zahlen kommt man nicht durch. Man kann von Menschen erzählen, deren Geschichten einen berühren und wo sich jemand denkt: so könnte es mir auch gehen. Da kann man vielleicht noch Verständnis erreichen. Auch Erfolgsgeschichten können helfen, das wurde in den letzten Jahren ja auch gut gemacht. Etwas aus dem Leben, so wie etwa „Der Pflegehelfer Umar betreut drei Pflegebedürftige“. Es geht um Bilder, die Positives vermitteln, die muss man den Bildern, die Angst und Schrecken verbreiten, entgegenhalten.
Was war über all die Jahre Ihr innerer Antrieb?
Ich habe ein Gerechtigkeitsgefühl, besonders bei sozialen Fragen. Und um hier positive Änderungen zu bewirken, braucht man einfach einen langen Atem.
Was werden Sie sich jetzt in der Pension gönnen?
Ich werde wieder mehr lesen, Literatur und historische Analysen. Ich möchte in Konzerte gehen und Sport betreiben. Und ich werde meine Besuche bei meinen Eltern in Kärnten nicht auf ein, zwei Tage beschränken, sondern länger bleiben. Aber ich plane nicht systematisch, ich lasse mich gerne auch treiben.
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