
Datenkörper
POPULÄR GESEHEN. Über Gesundheits-Apps und andere Selbstoptimierer. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Beide haben Platz genommen an einem kleinen gemütlichen Tisch in ihrem Lieblingsbeisl. Nina und Kurt gehen gerne hier her. Das Internet ist schwach in der hinteren Ecke beim Hofausgang. Das hat den Vorteil, dass die Krankenversicherung nicht checken kann, was sie essen und trinken. Nina bestellt ein Bier und auch gleich eines für Kurt. Ihre Smartphones legen sie vorsichtig neben sich. Alles bleibt ruhig. Bis das Bier serviert und der erste Schluck gemacht ist. Kurts Handy beginnt rot zu blinken und heftig zu vibrieren. Verdammt, das Netz geht heute auch hier hinten. Kurt schaut Nina an. Die zuckt mit den Achseln. Die App der Krankenversicherung hat das Bier erkannt. Das wird den Versicherungstarif im nächsten Monat für Kurt hinauf schnalzen lassen. Ungesundes – dazu zählt die App ein Glas Bier – wird bestraft. Am Nachbartisch sitzen zwei Männer, die sich bereits das zweite Bier bestellen. Ohne dass die Gesundheitskontrolle angeschlagen hätte. Kurt und Nina schauen sich vielsagend an. „Sind wahrscheinlich in anderer Einkommensklasse“, sagt Nina. Kurt nickt. Personen mit höherem sozialen Status dürfen mehr trinken, weil der Algorithmus der Versicherung das sinkende Krankheitsrisiko bei steigendem Einkommen mit einberechnet. Der finanzielle Vorteil kommt den reicheren Nachbarn gleich mehrfach zu Gute.
Schaut die Geschichte von Kurt und Nina wie eine erfundene Zukunftsvision von morgen aus, so hatte der Versicherungskonzern Generali bereits heute Preisnachlässe angekündigt, wenn KundInnen ihm die Körperdaten per App zusenden. Wer sich zukünftig der Kontrolle verweigert, wird einem Generalverdacht ausgesetzt: Bist du kein Selbstoptimierer? Die Versicherungen schaffen es so, immer mehr Risiken auf die Versicherten abzuwälzen und zu behaupten, dass diese an ihren Krankheiten selber Schuld sind. Doch wie werden wir uns fühlen, wenn jede Handlung von uns prinzipiell verdächtig ist? Wird uns dann das Gesundheits-App zur elektronischen Fußfessel?
Kurt und Nina haben genug für heute Abend. Sie lassen die vollen Gläser zurück, zahlen und machen sich auf zur U-Bahn. Beide ergattern die letzten freien Sitzplätze und starren müde ins Leere. Sie bemerken das kleine Werbeplakat ihnen gegenüber nicht, das bereits einen schnellen Check mit der eingebauten Gesichtserkennung veranlasst hat. Das Smartphone in Ninas Tasche beginnt auffordernd zu vibrieren. Sie holt es aus dem Mantel und liest die rot blinkende Nachricht: „Sie steigen jetzt aus und gehen die letzten Stationen zu Fuß. Ihre Gehbilanz ist unterdurchschnittlich. Mit gesundheitlichen Grüßen, Ihre Versicherung.“ Nina wirft Kurt einen verzweifelten Blick zu: Wir können uns höhere Tarife nicht mehr leisten. Ich steig aus.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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