
Der Blickwechseltest
POPULÄR GESEHEN.
Ibsens „Nora“ genießt eine Freiheit, die nicht auf Augenhöhe basiert. Das kennen wir aus Situationen, wo Menschenvon der Laune Anderer abhängen. Egal ob beim Sozialamt oder in der Schule. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Nora lebt mit ihrem Ehemann Torvald im gemeinsamen Eigenheim. Torvald behandelt Nora wie ein Püppchen, mit dem er spielen kann, er nennt sie „Eichkätzchen“ und „Singlerche“ und nimmt sie genauso wenig ernst wie früher ihr Vater. Nora lebt ihr Leben, muss aber stets ihren Mann um Erlaubnis fragen. Der Philosoph Philipp Pettit erläutert anhand von Ibsens Theaterstück, was er „Freiheit als Nichtbeherrschung“ nennt. „Um eine freie Person zu sein, muss man über die Fähigkeit verfügen, bestimmte wesentliche Entscheidungen zu treffen, ohne die Erlaubnis eines anderen einholen zu müssen.“
Gerechte Freiheit bedeutet, Anderen auf Augenhöhe begegnen zu können und den Einfluss anderer Menschen nicht fürchten zu müssen. Nora braucht, um „frei“ zu sein, nicht bloß das Fehlen von Einmischung, sondern auch das Fehlen von Beherrschung. Natürlich ist es besser, wenn man mit Nachsicht und Wohlwollen behandelt wird, als mit Bösartigkeit konfrontiert zu werden. Wenn man dann schlechter Behandlung entgeht, „kann man sich aber nur zu einem glücklichen Schicksal gratulieren und nicht zu Freiheit“ (Pettit). Der Sklave, der sich selbst dazu gratuliert, wie frei ihn doch sein glückliches Schicksal oder sein scharfer Verstand macht, ist in antiken römischen Komödien nur eines: eine Witzfigur. Noras Zwangslage kennen wir aus Situationen, wo Menschen von Lust und Laune eines anderen abhängen: das kann passieren auf dem Sozialamt, in der Schule, in der Arbeit, am AMS, in einem Heim. Überall dort, wo Machtverhältnisse bestehen, wo wir auf das Wohlwollen des Anderen angewiesen sind, der Gnade anderer ausgeliefert.
„Es ist auch die ganze existenzielle Bedrohung, nie wissen, was entscheidet die Regierung, mich nicht mehr wehren können, weil ich nicht gesund werde, ich bin da komplett angewiesen“, das erzählt eine ältere Frau angesichts der aktuellen Sozialkürzungen.: „Es fühlt sich alles nur mehr existenziell an.“ Solange beispielsweise Armutsbetroffene und Kranke nicht hinreichend abgesichert sind, werden sie sich in einer Lage befinden, in der sie auf das Wohlwollen der Mächtigeren angewiesen sind. Das weist uns auf den Wert sozialer und politischer Regelungen hin, die beispielsweise in Noras Milieu noch nicht existiert haben.
Zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Recht, das befreit. Wie erkennt man „gerechte Freiheit“? Pettit schlägt hier den „Blickwechsel Test“ vor: sich ohne Grund zur Angst oder Ergebenheit in die Augen schauen zu können.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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