
Der weibliche Unruhestand
Das Pensionsantrittsalter von Frauen wird ab 2024 dem der Männer schrittweise angeglichen. Knapp die Hälfte der Frauen schafft es jedoch aktuell bereits nicht, direkt aus dem Berufsleben in die Pension überzutreten. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher, Illustration: Eva Vasari
Es ist beängstigend“, erzählt Patrizia Orlando am Telefon. Sie ist Elementarpädagogin in einer elternverwalteten Kindergruppe in Wien, 51 Jahre alt, und arbeitet seit bald 30 Jahren mit Kindern zwischen zwei und sechs Jahren, „mit viel Einsatz und Engagement“. In ihrem gleichaltrigen Umfeld beobachtete sie in den vergangenen Jahren immer mehr Stundenkürzungen, vereinzelt auch Kündigungen. Orlando macht sich Sorgen: um ihren Arbeitsplatz, um drohende Arbeitslosigkeit mit zunehmendem Alter, um zu wenig Geld auf dem Pensionskonto. Knapp 15 Jahre fehlen ihr noch, dann kann sie ihre Pension antreten. „Wenn ich wüsste, ich könnte mit 60 Jahren in Pension gehen, wären meine Sorgen kleiner“, sagt sie. 2024 wird das Pensionsantrittsalter von Frauen – derzeit 60 Jahre – schrittweise dem der Männer angeglichen. Ab 2033 gilt dann für Frauen wie für Männer das Regelpensionsalter von 65 Jahren. In Europa ist Österreich eines der Schlusslichter, was die Angleichung des Antrittsalters betrifft. Doch was bedeutet diese formalrechtliche Gleichstellung für Frauen hierzulande? Frauen bekommen aktuell im Durchschnitt über 40 Prozent weniger Pension als Männer und sind öfter von Altersarmut betroffen.
Länger arbeiten, mehr Geld?
„Es wäre zynisch zu sagen, wenn Frauen fünf Jahre länger arbeiten, werden sie eine entsprechend höhere Pension bekommen“, sagt Ingrid Mairhuber, Politikwissenschafterin bei der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeits welt (FORBA). Ein höheres Antrittsalter führe nicht automatisch zu einem längeren Verbleib am Arbeitsmarkt und in Folge zu höheren Pensionsleistungen. Fast jeder zweiten Frau gelingt es bereits heute nicht, aus einer Erwerbstätigkeit direkt in die Pension überzutreten. Das zeigt eine Studie aus dem Vorjahr, die im Auftrag der Arbeiterkammer von FORBA und dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) durchgeführt wurde. Untersucht wurden der Erwerbsaustritt, der Pensionsantritt und die Anhebung des Frauenpensionsantrittsalters ab 2024. Laut Studie gingen nur 48,1 Prozent aller unselbstständig erwerbstätigen Frauen 2019 direkt aus einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis in Alterspension.
WIFO-Ökonomin C. Mayrhuber: erhob, wieviele Frauen direkt in den Ruhestand wechseln.
„Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es nur knapp die Hälfte der Frauen ist“, sagt dazu Studienautorin und WIFO-Ökonomin, Christine Mayrhuber. Zudem sei überraschend, dass dieser Anteil im Untersuchungszeitraum 2010 bis 2019 sinkend war. Das heißt, es wechseln immer weniger Frauen direkt von einem Arbeitsverhältnis in den Ruhestand. Zwischen dem Ende der Beschäftigung und dem Pensionsantritt klafft eine Lücke von mehreren Monaten bis Jahren. Rund 20 Prozent konnten in den zehn Jahren vor Pensionsantritt gar keine Beschäftigung aufweisen.
Mehrfachbelastungen
Die Gründe sind vielschichtig: Viele Frauen haben durch Kinderbetreuung oder Angehörigenpflege einen unsteten Erwerbsverlauf, der es erschwert, mit zunehmendem Alter eine Arbeit zu finden. Hinzu kommen in Branchen, in denen Frauen oft arbeiten, stark belastende Bedingungen, die die Arbeitsfähigkeit im Alter zunehmend minimieren. „Die Frauen sind zum Teil komplett ausgepowert“, sagt Ingrid Mairhuber, die im Rahmen der AK-Studie Interviews mit erwerbslosen Frauen aus den Bereichen Handel, Gebäudereinigung sowie mobile Betreuung und Pflege geführt hat. „Bei Frauen kommt hinzu, dass sie eine jahrzehntelange Doppeloder Mehrfachbelastung durch Job und Familie haben und dadurch oftmals im Alter noch weniger fit sind.“
Patrizia Orlando: initiierte Online-Petition gegenAltersarmut bei Elementarpädagog*innen.
Auch Patrizia Orlando weiß von Kolleginnen aus der Elementarpädagogik zu berichten, die krankheitsbedingt ausgestiegen oder ins Burnout geraten sind. Mitte März initiierte sie mit der Obfrau der elternverwalteten Kindergruppen, Anna Maria Beitel, die Online-Petition „Altersarmut von Kindergruppenbetreuer*innen und Elementarpädagog*innen verhindern!“. Damit soll auf die finanzielle Lage elementarpädagogischer Bildungseinrichtungen und deren Mitarbeiter*innen aufmerksam gemacht werden. „Meine große Sorge ist, dass ich in eine Spirale hineingerate, wo ich einfach keine Arbeit mehr bekomme“, erzählt Orlando. „Mit dem Arbeitslosengeld könnte ich mir mein Leben nicht leisten. Der Großteil meines Gehalts fließt jetzt schon in die Miete und andere anfällige Zahlungen.“
Weibliche Altersarmut
Laut Statistik Austria erhalten Frauen im Durchschnitt eine Alterspension von 1.167 Euro brutto monatlich, Männer hingegen 2.022 Euro. Der sogenannte Gender-Pension-Gap entsteht neben Kinderbetreuung, Pflege und Teilzeitarbeit auch dadurch, dass Frauen oftmals ungleich bezahlt werden, dass Männer länger im aktiven Erwerbsleben stehen sowie auch durch die Berufswahl, wenn Frauen in „klassischen“ Branchen wie Handel oder Soziales arbeiten, die schlechter bezahlt sind.
Die Schieflage spiegelt sich auch in der Altersarmut wider, die in Österreich überwiegend weiblich ist. Im Jahr 2021 war die armutsgefährdete Gruppe über 65 Jahren mit 146.000 Frauen im Vergleich zu 64.000 Männern mehr als doppelt so groß. Ingrid Mairhuber befürchtet durch die Anhebung des Antrittsalters einen weiteren Anstieg an weiblicher Altersarmut: „Es wird für viele Frauen sehr schwierig, mit über 60 am Arbeitsmarkt zu bleiben. Entweder sind sie gesundheitlich so eingeschränkt, dass sie nicht mehr arbeiten können und wollen, oder sie haben ohnedies keinen Job mehr.“
Damit die steigende Altersgrenze für Frauen nicht mit einer Verlängerung ihrer Erwerbslücke und folglich noch niedrigeren Pensionen einhergeht, sind laut den Expertinnen auch die Betriebe gefragt, es Menschen zu ermöglichen, bis zum Pensionsantritt in Beschäftigung zu bleiben. WIFO-Ökonomin Christine Mayrhuber nennt als mögliches Modell die Niederlande. Wenn Arbeitnehmer*innen dort krankheitsbedingt 40 Tage fehlen, muss ein zweijähriger Reintegrationsplan festgelegt werden. Wenn die Reintegration in diesem Zeitraum nicht gelingt, muss der Betrieb in diesem Zeitraum die Invaliditätspension übernehmen. „Auf diese Weise sind Betriebe angehalten, Mitarbeiter*innen in den Arbeitspro- zess zu integrieren, auch wenn sie nicht mehr zu 100 Prozent arbeitsfähig sind. Für Betriebe ist eine 80 Prozent-Leistung betriebswirtschaftlich günstiger als Invaliditätspension zu zahlen“, erklärt Mayrhuber. Ähnliche Vorgaben gebe es auch in der Schweiz, in Schweden und Finnland. In Österreich habe sich aber eingebürgert: Alles oder nichts, entweder voll leistungsfähig oder gar nicht.
Ingrid Mairhuber von FORBA rät Frauen, sich bezüglich Pension gut zu informieren.
Zwei Seiten einer Medaille
In den letzten Jahrzehnten sind auch sogenannte atypische Beschäftigungsverhältnisse – Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigungen sowie Zeitarbeitsverhältnisse –, in denen besonders Frauen erwerbstätig sind, angestiegen. Laut Ökonomin Mayrhuber hat die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen – auch in atypischen Beschäftigungsverhältnissen – dazu geführt, dass mehr und mehr Frauen eine Pensionsleistung haben. Rund 90 Prozent der über 65-jährigen Frauen erhalten regelmäßige Pensionsleistungen. Allerdings sind diese Pensionen sehr gering, so die Ökonomin. „Es sind zwei Seiten einer Medaille. Einerseits bedeuten geringe Erwerbseinkommen geringe Frauenpensionen, andererseits gibt es dennoch ein gewisses Maß an ökonomischer Selbstständigkeit durch eine eigene Pension.“ Ingrid Mairhuber von FORBA rät Frauen, sich gut zu informieren: „Das Pensionssystem ist grundsätzlich schon von Männern für Männer gemacht, aber es gibt positive Stellschrauben, an denen Frauen drehen können, wenn sie diese kennen.“ Dazu zählen u.a. die Selbstund Weiterversicherung bei Pflege von Angehörigen, die Höherversicherung oder auch Zuschläge, wenn man über das Antrittsalter hinaus arbeitet. Mairhuber hatte Frauen interviewt, die ihr berichteten, dass sie in Pension gegangen sind und dann im gleichen Job weiter gearbeitet haben, weil die Pension so gering war. „Das ist absurd, denn sie würden für jedes Jahr, das sie länger arbeiten, 4,2 Prozent Zuschlag zu ihrer späteren Pension bekommen“, ergänzt Mairhuber.
Patrizia Orlando kann sich derzeit nicht vorstellen über das Pensionsantrittsalter hinaus zu arbeiten. Der Gedanke einer Umschulung beschäftigt sie umso mehr. Weniger Belastung, mehr Gehalt, mehr Jobsicherheiten. Bis jetzt hat sie den Schritt noch nicht unternommen: „Ich bin fit, ich arbeite irrsinnig gerne mit Kindern, ich bringe viel Erfahrung mit und wüsste nicht, wozu ich mich umschulen lassen sollte. Noch bleibe ich dabei“, meint die Pädagogin.
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