
Die Rückkehr der Sündenbock-Sage
Mit der Debatte, wie viele Migrant*innen auf den Intensivstationen liegen, haben wir zuletzt einen neuen Tiefpunkt erreicht. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kolumne über Diversität: Clara Akinyosoye
Im ersten Schock der Krise war ein Gefühl der Einheit zu spüren. Politiker*innen wandten sich in ihren Reden an alle, die hier leben. Der Mangel an mehrsprachiger Kommunikation, um wirklich die gesamte Bevölkerung zu erreichen, zeigte freilich schon damals, dass Österreich nicht in all seiner Vielfalt wahr- und angenommen wird. Dass der Österreichische Integrationsfonds MigrantInnen im Glauben ließ, man dürfe das Haus nicht mal zum Spazierengehen verlassen, war ein trauriger, medial wenig beachteter Tiefpunkt in der Coronakrise. Nach Vorwürfen, Menschen, die ihre Familie im Sommer auf dem Balkan besucht hatten, hätten das Virus nach Österreich eingeschleppt und die zweite Welle ausgelöst, erlebten wir – alle lockdownmüde – zuletzt einen neuen Tiefpunkt im politisch-medialen Diskurs. Es ging darum, ob auf Intensivstationen nicht überproportional viele Migrant*innen liegen. Es ging nicht darum, zu eruieren, ob es womöglich an mangelnder Kommunikation liegen könnte. Auch nicht darum, zu hinterfragen, ob es in einer Pandemie besser wäre, Österreichs Mehrsprachigkeit zu akzeptieren und Infokampagnen mehrsprachig zu gestalten. Nein. Migrant*innen würden sich eben nicht an die Regeln halten, so der Vorwurf.
Dass Menschen mit Migrationsbiografie überproportional in Systemerhalter-Berufen tätig sind – etwa als Kassierer*innen, Reinigungs-, und Pflegekräfte – das wird hingegen kaum thematisiert. Dass sie oft in Jobs tätig sind, bei denen Homeoffice nicht und Abstandhalten nur schwer möglich ist – kein Thema für die Politik. Dass viele Migrant*innen besonders stark vom Jobverlust durch die Maßnahmen betroffen sind – wer will das denn bitte diskutieren? Menschen mit Migrationsgeschichte sind es ja gewohnt, als Sündenböcke herzuhalten. Übrigens: Der Sündenbock hat eine interessante Geschichte. Im Alten Testament wird das Ritual für den Versöhnungstag der Israeliten beschrieben. Der Hohepriester legte seine Hände auf den Kopf eines Bockes und lud ihm so alle Sünden des Volkes eines Jahres auf. Danach wurde der Bock in die Wüste geschickt. Klingt fast vertraut.
Clara Akinyosoye ist Journalistin bei orf.at und Ex-Chefredakteurin von M-Media.
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