„Dieses Jahr ist ein Knackpunkt“
Zeynep Buyraç ist neue Vorstandsvorsitzende von SOS Mitmensch. Die Schauspielerin im Gespräch über ihren Weg nach Österreich, ihre Ziele für SOS Mitmensch, das besondere Wahljahr und ein charmantes Wien.
Interview: Milena Österreicher. Fotos: Yasmina Haddad.
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MO-Magazin: Du bist mit 19 Jahren aus der Türkei nach Österreich gekommen. Was hat dich zu dem Schritt bewegt?
Zeynep Buyraç: Ich wollte immer schon Schauspielerin werden. Ich bin sehr theateraffin sozialisiert worden, meine Mutter ist jedes Wochenende mit mir ins Theater gegangen. Mit 15 Jahren war ich dann das erste Mal in Wien und hatte mich so in diese Stadt verliebt, dass für mich bald klar war: Ich werde nach Wien gehen und dort Schauspiel studieren, weil ich auch die Theatertradition und österreichische Autor:innen kannte. Es war aber auch eine gewisse Naivität dabei, die man mit 19 Jahren hat, um so eine Lebensentscheidung zu treffen. Aber ich bin sehr froh, dass ich die hatte.
Wie war der Start für dich im neuen Land?
Oh, schwierig. Schwierig, weil ich allein gekommen bin und niemanden kannte. Hinzu kamen die bürokratischen Wege und Hürden, die in diesem Land ja durchaus schwierig sind, wenn man sich nicht auskennt. Ich hatte in meinem Leben sehr viel mit der MA 35 zu tun. Da hat es in den ersten zwei Jahren durchaus Situationen gegeben, wo ich dachte: Warum tue ich mir das an? Ohne Familie, Freund:innen oder Bekannte in einem komplett anderen Land zu sein, ist ein sehr mutiger Schritt. Aber wenn man so etwas durchzieht, entwickelt man auch eine Stärke, die man sonst so vielleicht nicht bekommen hätte. Ich bin definitiv aus meiner Komfortzone raus und sehr froh darüber, denn es hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin.
Wie ist es dir mit der deutschen Sprache ergangen?
Ich bin in Istanbul in die deutsche Schule gegangen und habe dort die Sprache gelernt. Ich habe die Erfahrung gemacht, was es heißt, eine komplett neue Sprache auf Bildungsniveau zu lernen. Daher weiß ich auch aus eigener Erfahrung, dass es sehr wohl möglich ist, Kindern im Schulsystem diese Sprache beizubringen – wenn man es möchte und Angebote dafür schafft. Daher kommt auch mein Engagement in puncto Bildung in Österreich.
Verdient Wien in deinen Augen den Titel der unfreundlichsten Stadt der Welt, den es regelmäßig gewinnt?
Nein. (lacht) Es gab einmal den wunderbaren Satz, ich glaube in einem Posting im STANDARD-Forum, wo ein User unter einen Artikel über Wien als die lebenswerteste Stadt geschrieben hat: Ich lass mir mein Wien von keiner Studie dieser Welt schönreden. Unfreundlich? Ja, wahrscheinlich sind wir das. Aber die Stadt ist auch nach wie vor sehr charmant.
Das sagen womöglich nur die Wiener:innen.
Das kann gut sein. Ich bin schon so eine Wienerin, dass ich die Stadt nur verteidigen kann. (lacht)
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„Wenn wir Zuschauer:innen in unseren Sälen haben wollen,
müssen wir einfach auch die Gesellschaft repräsentieren“
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Was hat dir hier anfangs geholfen?
Ich glaube, mir hat es geholfen, dass ich gar nicht in Österreich sozialisiert war, so seltsam das auch klingen mag. Ich komme aus der Metropole Istanbul, einer 15-Millionenstadt, und dann landet man in Wien und wird plötzlich nur mehr auf die eine oder andere Weise auf seinen Pass reduziert. Das war ein großer Schock. Plötzlich wurde ich ständig mit Fragen zur Türkei und Vorurteilen konfrontiert und wurde quasi das Sprachrohr für 80 Millionen Menschen. Ich kannte das so nicht und hatte daher eine gesunde, „arrogante“ Haltung, weil ich diese Rolle, zu der man mich zwingen wollte, nicht akzeptiert und nicht angenommen habe. Dabei war wahrscheinlich auch wichtig, dass mir das erst mit 19 Jahren passiert ist, wo man schon an einem gewissen Punkt im Leben steht. Das war mein großes Glück. Es ist sicher etwas anderes, wenn einem Kind von der Gesellschaft erzählt wird „Du wirst etwas nicht erreichen können, weil du eine Zuwanderungsgeschichte hast“, als wenn man das zu einer erwachsenen Person sagt, die anders sozialisiert wurde.
Erlebst du diese Zuschreibungen heute noch in deinem Alltag und Beruf?
Immer wieder, aber ich bin so ein sturer Mensch, wenn man mir sagt, das wird nicht gehen, denke ich mir: Jetzt erst recht! Sonst wäre ich auch nicht nach Österreich gekommen und nicht hier geblieben. Es gab zum Beispiel Vorsprechen für Rollen, wo man mich gefragt hat, ob ich ernsthaft bei dem Namen bleiben möchte. Das sind Sachen, die einem passieren. Und ich denke in fast jedem Beruf, aber gerade auch in der Schauspielbranche, werden viele Entscheidungen über das Äußerliche getroffen. Es gibt sicher Rollen, die ich dadurch nicht bekommen habe, aber von denen weiß ich ja nichts, weil das Entscheidungsprozesse sind, von denen wir nichts mitbekommen.
Was sagst du zu Rollenangeboten, bei denen es vorwiegend um Zuwanderungsgeschichten geht?
Man wird in unserer Schauspielbranche oft darauf reduziert bzw. gibt es die Erwartung, dass man sich permanent beruflich mit dem Thema auseinandersetzt. Wenn ich Stücke oder Drehbücher lese und Figuren dabei sind, die eine Einwanderungsgeschichte haben, ist das etwas Tolles, dass diese Figuren sichtbar werden. Mir ist aber wichtig, inwiefern diese Einwanderungsgeschichte für die Figur wichtig ist. Ist es nur ein Alibi für die Figur, damit wir auf Papier eine Diversität herstellen? Oder ist es eine grundsätzlich komplexe Figur, auf die ich Bock habe? Das ist für mich die entscheidende Frage: Habe ich Bock darauf, diese Figur zu spielen, weil ich da eine großartige, komplexe Geschichte dahinter sehe. Wir hatten hier auch im Werk X einen Riesenerfolg mit dem Stück „Gegen die Wand“, das Theaterstück des gleichnamigen Films, das wir zehn Jahre lang gespielt haben. Da habe ich keine Sekunde ein Problem damit, dass die Hauptfigur die junge Türkin Sibel ist, weil ich diese wunderbare, komplexe Geschichte dahinter sehe und vor allem sehe, was der Abend erzählen will. Das ist so viel wert, dass ich mich über solche Rollenangebote sehr freue.
Burgtheater-Schauspielerin und Vorsitzende von SOS Mitmensch Zeynep Buyraç spricht inzwischen gern über ihre Zuwanderungsgeschichte, da diese vor allem jungen Menschen Mut machen könne.
Hat es dich überrascht, dass du 2021 die erste Schauspielerin mit türkischem Background am Burgtheater warst?
Das hat uns alle sehr überrascht, auch das Burgtheater. Als ich damals meinen Vertrag bekommen habe, fragte ich scherzhalber unsere Dramaturgin, ob es vor mir schon eine türkischstämmige Schauspielerin dort gegeben hatte. Sie haben dann recherchiert und sind draufgekommen: Nein, gab es noch nicht. Wenn man überlegt, wie viele Österreicher:innen, die türkischstämmig sind, wir in diesem Land haben und was für eine Geschichte Österreich mit der Zuwanderung aus der Türkei hat, haben das dann doch alle Beteiligten für absurd gehalten, dass ich 2021 die erste war. Aber ich bin sehr glücklich, dass wir alle überrascht waren und dass so viel darüber berichtet worden ist, weil es dadurch eine Sichtbarkeit bekommen hat. Ich habe jahrelang meinen Beruf ausgeübt, ohne dass meine Herkunft ein Thema war, und das führte zu einer gewissen absurden Normalität, weil es ja immer noch eine Ausnahmesituation ist. Ich bin nach wie vor noch die Einzige am Burgtheater. Das heißt, diese Normalität ist noch nicht angekommen und deswegen müssen wir auch in der Öffentlichkeit darüber reden.
Gleichzeitig nervt es aber auch viele Menschen mit Migrationsgeschichte, immer darauf angesprochen und reduziert zu werden, wo dann etwa ihre Arbeit in den Hintergrund rückt.
Das kann ich total verstehen. Ich hätte diese Interviews wahrscheinlich nicht am Anfang meiner Karriere gemacht. Mir ist es erst mit 40 Jahren passiert, dass es thematisiert wurde. Es stand auch nicht mehr zur Debatte, ob ich meinen Beruf gut kann oder nicht, da ich ihn schon seit über 20 Jahren in diesem Land ausübe. Jetzt spreche ich gerne über meine Zuwanderungsgeschichte, da sie wichtig für mich ist, und weil es auch etwas Besonderes ist, den Schauspielberuf nicht in seiner Muttersprache auszuüben. Das sage ich nicht, weil ich mir toll vorkomme, sondern weil ich weiß, es gibt Menschen, und vor allem junge Menschen, die ähnliche Einwanderungsgeschichten haben, und ihnen das Mut machen kann. Es ist auch ermüdend, darüber zu reden, aber ich weiß, es ermutigt Menschen und das sehe ich auch als meine Verantwortung.
Siehst du mittlerweile mehr Diversität auf den Bühnen und in den Filmen hierzulande?
Ja, das sehe ich, auch wenn ich es in Deutschland noch stärker wahrnehme. In Österreich ist auf jeden Fall ein Wunsch danach da. Und es ist auch eine Notwendigkeit, Diversität zu leben und abzubilden, weil wir nun mal in einer diversen Gesellschaft leben. Wenn wir Zuschauer:innen künftig in unseren Sälen haben wollen, müssen wir einfach auch die Gesellschaft repräsentieren. Und ich bin froh, dass viele Theatermacher:innen das so sehen und dementsprechend besetzen. Diversität ist keine Modeerscheinung, die in fünf Jahren vorbei ist, das ist unsere Realität und das müssen wir ernst nehmen und ernst meinen.
Bei einem Interview hast du einmal erzählt, dass du manchmal negative Reaktionen bekommst, wenn du mit deiner Tochter in der Öffentlichkeit Türkisch sprichst. Wo kann man hier ansetzen?
Ich persönlich beachte diese Reaktionen mittlerweile nicht mehr. Für mich ist es ganz natürlich in meiner Muttersprache mit meiner Tochter zu sprechen. Für meine Tochter ist das anders, denn sie ist zweisprachig aufgewachsen. Ich will nicht, dass sie das Gefühl bekommt, dass Türkisch nichts wert wäre, und ich denke, das ist mir und meinem Mann gelungen, ihr das mitzugeben. Ich kenne das auch von Kolleg:innen aus Exjugoslawien, die erzählen, dass ihre Eltern ihnen ihre Sprache nicht beigebracht haben, weil sie nicht wollten, dass die Kinder einmal darunter leiden. Ich finde, wir sollten auf jeden Fall die Sprachen weiterhin mit unseren Kindern sprechen.
Und wir müssen vor allem in der Gesellschaft diese Trennung zwischen sogenannten guten und schlechten Sprachen, die auch unbewusst sehr schnell passiert, abbauen. Manchmal, wenn ich in der Öffentlichkeit Türkisch spreche, bekomme ich auch die Frage: Was ist denn das für eine tolle Sprache? Dann sage ich, dass das Türkisch ist und das ist meist das Ende des Smalltalks. Manche Menschen können sich gar nicht vorstellen, dass das Türkisch ist, weil sie ein ganz konkretes, absurdes Bild von dieser Sprache und von den Menschen haben, die diese Sprache sprechen.
Wir sind eine mehrsprachige Gesellschaft und das ist ein Gewinn. Dadurch wird auch keine Sekunde die deutsche Sprache gefährdet, da spreche ich aus meiner eigenen Erfahrung. Ich hätte nie im Leben so gut Deutsch lernen können, wenn ich nicht meine Muttersprache so perfekt hätte sprechen können. Das ist wissenschaftlich auch nachgewiesen: Wenn ich meine Muttersprache nicht gut kann, werde ich keine andere Sprache gut lernen können. Ich tue mir sehr schwer, wenn ich dann lese, es sei verboten, am Schulhof die Muttersprache zu sprechen, damit alle Kinder Deutsch lernen. Das Ziel ist dann definitiv nicht, dass es diesen Kindern besser geht.
Du bist seit Frühjahr die neue Vorsitzende des ehrenamtlichen Vorstands von SOS Mitmensch. Wann hat dein Engagement für SOS Mitmensch begonnen?
Ich kenne SOS Mitmensch und ihre Arbeit schon lange. Der erste Austausch fand vor ein paar Jahren statt. Ich habe auch einige Jahre den Ute Bock-Preis moderiert und war an verschiedenen Kampagnen beteiligt. So entstand die Zusammenarbeit und vor über einem Jahr wurde ich dann gefragt, ob ich Mitglied des Vorstands werden möchte. Das war ein logischer Schritt für mich, auch nachdem die Organisation mir gesagt hatte, sich weiblicher und diverser aufstellen zu wollen.
Es gab zuvor Konflikte im alten Vorstand, bis hin zu Diskriminierungsvorwürfen. Wie gehst du damit um?
Ich nehme diese Vorwürfe wahnsinnig ernst. Der gesamte neue Vorstand und die Geschäftsführung sind mitten im Prozess, unsere Strukturen auf „blind spots“ hin zu überprüfen und uns dementsprechend zu verbessern. Wir können durch Kritik nur lernen und besser werden. Wir müssen alle selbstkritisch bleiben – das betrifft nicht nur uns als einzelne Organisation – und dementsprechend auch über strukturelle Verbesserungsmöglichkeiten nachdenken und sie umsetzen. Dass ich jetzt als Vorsitzende dieses Vorstands agieren darf, ist erst der Anfang und definitiv noch nicht das Ende.
Welche konkreten Verbesserungen sind angedacht?
Neben der Überprüfung von Strukturen, ist für mich das Thema Sensibilisierung ein sehr wichtiges. Ich kenne das auch aus meiner eigenen Rassismuserfahrung, dass es oft eine andere Sensibilisierung braucht. Denn Diskriminierung und Konflikte können auch dadurch entstehen, dass jemand etwas sagt, das andere verletzt, ohne dass das beabsichtigt gewesen wäre. Wichtig ist zu wissen: Wie schaffen wir es, dass so etwas nicht passiert? Und wenn es passieren sollte, wie können wir als Organisation in dieser Situation reagieren und wohin kann sich die betroffene Person wenden? Der oberste Wunsch und das oberste Ziel ist aber natürlich, dass es gar nicht vorkommt. Das kann man mit Workshops gestalten oder mit Vertrauenspersonen. Es gibt verschiedene Ansätze, die wir gerade ausarbeiten und in den kommenden Monaten konkretisieren werden.
Sollten bei Menschenrechtsorganisationen diesbezüglich höhere Standards gelten?
Selbstverständlich müssen wir viel selbstkritischer mit dem Thema umgehen, was aber nicht heißt, dass diese höheren Standards nicht auch für alle anderen Bereiche gelten müssen. Man darf nicht vergessen, wir sind alle Menschen und niemand ist letztendlich davor gefeit. Wichtig finde ich die bereits angesprochene Sensibilisierung. Höhere Standards sollten vor allem aber auch in der Politik gelten. Hier finde ich es ganz wichtig, dass ich mir nicht Reden von Politiker:innen anhören muss, die so dermaßen rassistisch und beleidigend sind, wie sie derzeit vorkommen.
SOS Mitmensch ist seit über dreißig Jahren ein aktiver Teil der österreichischen Zivilgesellschaft. Welche Bedeutung hat das zivilgesellschaftliche Engagement für dich?
Eine sehr große und im Moment brauchen wir es mehr denn je. Es gibt so viele wichtige Organisationen in Österreich, die seit vielen Jahren unermüdliche Arbeit leisten, die alles andere als angenehm ist. Es ist die Aufgabe dieser NGOs, ein Warnsignal zu sein und immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wenn etwas falsch läuft. Das ist eine harte Aufgabe, denn sie erfordert viel Geduld, da sich nichts von heute auf morgen ändert. Da muss man stur, kompromisslos und unbequem bleiben. Und das bewundere und schätze ich seit Jahren sehr an SOS Mitmensch. Umso mehr freue ich mich jetzt im Vorstand ein Teil davon sein zu können. Aber natürlich würde ich mir wünschen, so wie es die großartige Ute Bock einmal gesagt hat, dass es uns irgendwann nicht mehr braucht: dann, wenn diese Arbeit nicht mehr notwendig ist.
Ist die Zivilgesellschaft in diesem besonderen Wahljahr mit EU- und Nationalratswahlen gut aufgestellt?
Ich hoffe es. Dieses Jahr ist ein Knackpunkt. Ich bin seit über 20 Jahren in Österreich und habe schon etliche Wahlen und Regierungen miterlebt. Doch das ist für mich das erste Mal, dass die Spaltung und Diskriminierung so bewusst und offen kommuniziert wird. Man signalisiert das im Moment so schamlos offen, dass es mir wirklich Angst macht. Es gibt innerhalb von Europa einen Konsens, über den es keine Diskussion geben sollte. Das sind der Schutz der Demokratie und die Würde des Menschen, also die Menschenrechte. Das wird aber im Moment von bestimmten Parteien mehr als relativiert. Das finde ich sehr besorgniserregend. Da ist es auch die Aufgabe von SOS Mitmensch, zu zeigen, dass diese Spaltung uns am Ende des Tages allen schaden wird. Es wird uns durch Diskriminierung und Einschränkung von Freiheiten nicht besser gehen. Das ist unsere Aufgabe in diesem besonderen Jahr, das allen Menschen klar zu machen.
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„Das ist für mich das erste Mal, dass die Spaltung und
Diskriminierung so bewusst und offen kommuniziert wird“
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Woran denkst du hier bei der Relativierung und Einschränkung unserer Freiheiten?
Wenn wir jetzt etwa von „Remigration“ sprechen und ernsthaft darüber reden, dass Menschen, die in unseren Ländern leben bzw. auch geboren wurden, weggeschickt werden sollen. Oder wenn wir anfangen, die Menschenrechtsvereinbarungen, die Österreich unterzeichnet hat, wie die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention, zu relativieren. Oder etwa im Kunst- und Kulturbereich: Als der neue Spielplan des Burgtheaters veröffentlicht wurde, wandte sich die FPÖ an die Regierung und meinte, der Spielplan sei demokratiegefährdend und man müsse da eingreifen. Allein wenn ich das Wort „eingreifen“ höre, wird mir schlecht. Also, dass wir tatsächlich offen diesen demokratischen Grundkonsens zur Debatte stellen, halte ich für unglaublich gefährlich.
Natürlich gibt es Probleme in unserem Land, gar keine Frage. Doch Probleme werden von Parteien wie der FPÖ ausgenutzt, um Menschen Angst einzujagen. Durch diese Politik werden sie aber nicht gelöst. Im Gegenteil: Irgendwann haben wir dann alle mal Angst davor, offen und ehrlich unsere Meinung zu kommunizieren. Wir werden in einer Gesellschaft leben, die tatsächlich Angst hat. Das wollen wir doch nicht und vor allem: Dort waren wir schon mal. Das kommt ja noch dazu: Wir kennen es aus der Geschichte, wir wissen, wie das wäre.
Aber natürlich müssen wir auch überlegen: Welchen Punkt haben wir verpasst? Wie kann es möglich sein, dass eine Partei, die so eine Spaltung betreibt, nun in den Umfragen vorne liegt? Hier müssen wir selbstkritisch bleiben und die Sorgen der Menschen tatsächlich ernst nehmen, aber gleichzeitig auch aufzeigen, dass es ihnen nicht besser gehen wird, wenn diese Partei gewinnt.
Nach dem Treffen rechter Politiker:innen und Rechtsextremist:innen in Potsdam gab es zahlreiche Proteste in Österreich wie Deutschland. Allerdings scheinen die Proteste in Deutschland länger anzudauern, sich mehr Initiativen und Bündnisse daraus zu bilden. Warum ist es in Österreich nicht in dieser Dimension weitergegangen?
Das hat wahrscheinlich auch damit etwas zu tun, dass wir permanent mit Skandalen beschäftigt sind. Wir sind spätestens seit dem Ibiza-Video mit so vielen Skandalen umgeben, dass ich auch als Privatperson manchmal selbst nicht mehr weiß, worüber ich mich ärgern soll. Dieser Ausnahmezustand ist der Normalzustand geworden, sodass wir uns scheinbar daran gewöhnt haben, dass bestimmte No-Gos okay geworden sind. Nichtsdestotrotz dürfen wir es nicht als normal wahrnehmen. Man muss jeden Tag aufstehen und sich bewusst machen, das ist alles nicht normal: Korruption ist nicht normal. Der Benko-Skandal ist nicht normal. Dieser Zustand ist nicht normal. Nein, man muss Politik nicht so machen. Nein, das muss alles nicht so passieren, das darf nicht sein. Wir müssen uns täglich daran erinnern, dass das ein Ausnahmezustand ist, an den wir uns nicht gewöhnen dürfen.
Was sind deine Ziele nun als Vorsitzende von SOS Mitmensch?
Auf jeden Fall der Kampf gegen Diskriminierung: Das war immer eine der Grundsäulen meines persönlichen Engagements und da bin ich bei SOS Mitmensch nun am richtigen Ort. Konkret ist mein Ziel im Vorstand, dass wir diverser werden, dass wir „state of the art“ sind und uns dahingehend strukturell verbessern. Und natürlich möchte ich auch all die Projekte und Kampagnen weiterführen, wie etwa „Das Gemeinsame zuerst“, wo wir uns mit vielen NGOs zusammen gegen diese politische Spaltung im Land stemmen und sagen: Wir sind für ein Miteinander. Ein weiteres Ziel ist, die Stärkung der Zivilcourage voranzutreiben. Das tut SOS Mitmensch seit langem und das halte ich weiterhin für ganz wichtig.
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