
Ein Kampf gegen Windmühlen?
Vor 25 Jahren wurde SOS Mitmensch gegründet, um dem
sogenannten Anti-Ausländervolksbegehren der FPÖ etwas
entgegenzusetzen. Seitdem setzt sich die NGO für Menschenrechte und gegen diskriminierende Politik ein. Doch wie viel Macht hat die Zivilgesellschaft?
Text: Clara Akinyosoye
"Mauthausen-Befreite als Massenmörder" – der Satz prangt in großen Lettern auf einem Schild, das auf einem einfachen Holzständer vor einem Panzer des österreichischen Bundesheeres positioniert wurde. Es ist eines von vielen Plakaten, mit denen SOS Mitmensch Verstrickungen der FPÖ in neonazistische Kreise beweisen will: aufgestellt vor der Präsidentschaftskanzlei am Nationalfeiertag. Die Wanderausstellung der Menschenrechtsorganisation ist so etwas wie ein Störsignal, eine höfliche, aber bestimmte Intervention, die zumindest kurz mit der Gemütlichkeit des Feiertags bricht. Einem Tag, an dem viele Menschen in der Wiener Innenstadt das Befreitsein von den Besatzern feiern. Für Alexander Pollak, seit 2011 Sprecher von SOS Mitmensch, ist es eine passende Gelegenheit, um öffentlichkeitswirksam gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ zu argumentieren.
Von Hietzing zum Heldenplatz
Die Opposition zur Politik der Freiheitlichen Partei führt wie ein roter Faden durch die Arbeit von SOS Mitmensch. War es doch 1992 „Österreich zuerst“, besser bekannt als Anti-Ausländervolksbegehren der FPÖ, das zur Gründung der NGO führte. Es waren Bürgerliche – KünstlerInnen, JournalistInnen sowie PolitikerInnen verschiedener Couleur: Grün, Rot und Schwarz – die nach einem Treffen in André Hellers Wohnung in Hietzing die „Allianz der Vernunft“ bildeten und am 10. Dezember 1992 SOS Mitmensch ins Leben riefen. Mit dabei waren Musiker Willi Resitarits genauso wie der damalige Caritas-Direktor Helmut Schüller und Ex-Grünen-Politiker Peter Pilz. Zusammen organisierten sie innerhalb weniger Wochen das Lichtermeer am Heldenplatz, mit 300.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern die größte Kundgebung der Zweiten Republik.
In Opposition zu Schwarz-Blau
Aus der bunt gemischten Plattform wurde aber bald eine eigenständige NGO, die zunehmend als Mahnerin der SPÖ-ÖVP-Regierung auftrat. Die MitstreiterInnen aus den Parteien und SOS Mitmensch gingen getrennte Wege. Die NGO professionalisierte und etablierte sich als Kampagnenorganisation. Nicht jede Kampagne war von Erfolg gekrönt, erzählt der ehemalige Sprecher der Menschenrechtsorganisation Philipp Sonderegger, der sie elf Jahre lang entscheidend mitformte. So scheiterte etwa der Versuch, im Jahr 2000 Druck für eine Neuwahl aufzubauen, um eine Regierungsbeteiligung der FPÖ zu verhindern. „Die Kampagne hat nicht gegriffen.“ Trotzdem konnte die NGO, die sich damals durch ein langfristiges Spendensystem „auf gesunde finanzielle Beine“ stellte, ihre Kampagnenfähigkeit unter der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Beweis stellen. SOS Mitmensch initiierte Proteste gegen Schwarz-Blau, die sich im Zeitalter vor Facebook und Twitter, vor allem auf den Straßen abspielten. Der Nebeneffekt: Die NGO wurde nur noch als Opposition gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung wahrgenommen. „Medien haben nur noch Anfragen zu Schwarz-Blau gestellt“, erinnert sich Sonderegger. Es habe gedauert bis „wir uns wieder als Asylorganisation positionieren konnten“. Mit Nadja Lorenz machte SOS Mitmensch 2004 eine prominente Menschenrechtsanwältin zur Vorsitzenden, die die Organisation bis 2014 leitete und prägte.
Ein Tisch für Ute Bock
Als zentrale Aufgabe der NGO sah Sonderegger immer die Stärkung anderer zivilgesellschaftlicher AkteurInnen. So baute SOS Mitmensch die Infrastruktur für Ute Bock auf – „vom Tisch bis zum Verein“, und half der Initiative Ehe ohne Grenzen nach ihrer Gründung. Der Antirassismus-Verein ZARA war in den ersten Jahren Untermieter in den Räumlichkeiten von SOS Mitmensch. Die Stärkung der Zivilgesellschaft sei auch heute notwendig, sagt Sonderegger. „Verschiedene Kräfte versuchen die Zivilgesellschaft zu diskreditieren“, – etwa indem NGOs als „Asylindustrie“ abgestempelt oder kriminalisiert werden.
SOS Mitmensch – politisch verfolgt
2004 ermittelte das Bundeskriminalamt monatelang gegen die damalige NGO-Vorsitzende Lorenz und Georg Bürstmayr, ebenfalls Menschenrechtsanwalt. Die Vorwürfe: Schlepperei und Aufruf zum Ungehorsam gegen Gesetze. Lorenz sollte „um jeden Preis angezeigt werden“, zitierte die Wochenzeitung Falter aus Ermittlerkreisen. Der damalige Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) wolle KritikerInnen seiner Asylpolitik „als Schlepper hinter Gittern sehen“, schrieb Falter-Journalist Florian Klenk. Amnesty International sprach von „klassischer politischer Verfolgung“. Die Ermittlungen gegen Bürstmayer und Lorenz wurden schließlich eingestellt. Der Eindruck, dass zivilgesellschaftliche AkteurInnen eingeschüchtert werden sollten, blieb. Schon ein Blick nach Ungarn zeigt, dass die Schwächung der Zivilgesellschaft ein erklärtes Ziel einer Regierung im Herzen Europas sein kann. Auch in der heimischen NGO-Szene befürchten einige, unter einer kommenden ÖVP-FPÖ-Regierung könnte die Zivilgesellschaft unter Druck geraten – etwa indem Vereinen Förderungen gestrichen werden. So drohte kürzlich ein FPÖ-Politiker in einer Fernsehdiskussion damit, es würde SOS Mitmensch „der Geldhahn abgedreht“, sobald seine Partei in der Regierung ist. Dann sei „Sense mit dem Schwachsinn, der verbreitet wird“. Allerdings erhält SOS Mitmensch keine staatlichen Gelder, sondern finanziert sich ausschließlich durch private Spenden. Genau deshalb müsse man erst recht solidarisch mit NGOs sein, die bedroht sind, sagt der Sprecher von SOS-Mitmensch, Alexander Pollak.
Grüner Zulauf zur Zivilgesellschaft
Ein positives Szenario für die NGO-Szene zeichnet Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle: Durch das Ausscheiden der Grünen aus dem Nationalrat könne es auch zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft kommen. Die mehr als 100 MitarbeiterInnen, die nun arbeitslos geworden sind, hätten viel Know-how aufgebaut. „Sie verstehen das politische Lobbyinggeschäft und kennen die Strukturen von innen“, seien damit wertvolle MitarbeiterInnen „für Initiativen, die lernen wollen, wie man ins politische System interveniert“, sagt Stainer-Hämmerle. Zulauf könnten NGOs, die auf ehrenamtliche Unterstützung bauen, auch durch die Menschen erhalten, die in der Vergangenheit Grün gewählt haben und sich nun „unter Umständen nicht mehr vertreten fühlen“. Dies steigere die Bereitschaft für zivilgesellschaftliches Engagement. Falls es unter einer ÖVP-FPÖ-Regierung tatsächlich zu einer Schwächung der Sozialpartner kommen sollte, könnte zudem eine Allianz der NGOs mit den Gewerkschaften entstehen, so die Politologin. „Hier könnte viel in Bewegung kommen“.
Hofer verhindert
Im Fall einer Koalition mit der FPÖ werde es Proteste auf der Straße geben, kündigte Alexander Pollak an. Wie im Jahr 2000 warnt die NGO vor einer Regierungsbeteiligung der FPÖ. „Keine Koalition mit dem Rassismus“, mahnte man damals. „Rechtsextreme und neonazinahe Personen könnten in Ministerämter gelangen“, warnt man auch heute. Die Schwarz-Blaue-Koalition kam trotzdem und erlebt nun voraussichtlich eine Wiederauflage. Ein Kampf gegen Windmühlen? „Man hat oft das negative Bild einer Zivilgesellschaft, die scheitert“, sagt Pollak. „Wir haben keine Allmachtsphantasien“, aber durch Informationsarbeit, das Aufbauen von Druck und die Unterstützung vieler Menschen, sei schon viel gelungen. Nachdem der Verfassungsgerichtshof 2016 die Wahl von Alexander Van der Bellen zum Bundespräsidenten für ungültig erklärt hatte, startete SOS Mitmensch vor der Wahlwiederholung eine Wahlmunterkeitskampagne: Prominente riefen in Videos zum Wählen auf. Und die NGO veröffentlichte Recherchen über die Nähe Hofers zu der für antisemitische und rassistische Inhalte bekannten Zeitschrift „Aula“. Durch die Zivilgesellschaft sei es gelungen, „zu verhindern, dass der Kandidat der extremen Rechten gewinnt“. Recherchen des Dokumenationsarchivs des österreichischen Widerstandes, die SOS Mitmensch öffentlich machte, führten 2014 zum Rücktritt des FPÖ-Spitzenkandidat für die EU-Wahl Andreas Mölzer. Er hatte unter einem Pseudonym rassistische Texte – etwa über Fußballspieler David Alaba – verfasst. Auch der damalige Kanzler Werner Faymann (SPÖ) und Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) forderten Mölzer nach den Enthüllungen und der öffentlichen Entrüstung darüber zum Rücktritt auf. Der Druck wirkte.
„Harte Bretter bohren“
Es sei die ureigene Aufgabe von NGOs, Themen in die Öffentlichkeit zu bringen und über öffentliche Debatten Druck aufzubauen, sagt Politologin Stainer-Hämmerle. Und zwar besonders die Themen, „die sonst nicht repräsentiert würden, weil die Fürsprecher zunächst fehlen“. Es sei ein Erfolg, wenn diese Themen dann auch „von Parteien aufgegriffen werden, bis hin zur Verankerung in den Programmen“. So war es etwa eine langjährige Forderung von SOS Mitmensch und anderen NGOs, dass AsylwerberInnen schon während des Asylverfahrens Deutschkurse besuchen dürfen. 2016 kam die Regierung der Forderung nach. Auch der Zugang zur Rot-Weiß-Rot-Karte wurde nach jahrelanger Kritik der NGOs erleichtert. Es seien „harte Bretter zu bohren“, sagt Pollak, doch es gelinge immer wieder. Wenig Aussicht auf baldige Umsetzung hat die Forderung der NGO nach einem Wahlrecht für Menschen, die keine StaatsbürgerInnen sind, aber schon lange ihren Lebensmittelpunkt in Österreich haben, und nicht zuletzt hier Steuern zahlen. Seit Jahren kritisiert SOS Mitmensch, dass immer mehr Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind – ein demokratiepolitisches Problem. Um darauf aufmerksam zu machen, organisiert die NGO in Wahljahren die Pass-Egal-Wahl – eine Aktion, bei der Nicht-StaatsbürgerInnen ihre Stimme abgeben können. Das Interesse der Medien war dem Event auch dieses Jahr gewiss. Und damit war wieder ein Thema gesetzt. Um die Öffentlichkeit zu erreichen, setzt Alexander Pollak stark auf Aktivismus und Soziale Medien. Nicht unbemerkt blieb etwa die Kampagne der NGO, mit der sie vergangenes Jahr gegen die Kürzung der Mindestsicherung für Flüchtlinge mobil machte. Mit einem Schild in der Hand hatte Pollak PolitikerInnen empfangen, wo sie sich zu Tagungen oder Feierlichkeiten zusammenfanden. „Bevor ich als Politiker die Mindestsicherung auf weniger als die Hälfte kürze, halbiere ich mein Gehalt“ stand auf dem Schild geschrieben. Eine höfliche, aber bestimmte Intervention.
Clara Akinyosoye, arbeitet bei orf.at. Mitherausgeberin des Magazins „fresh – black austrian lifestyle“. Sie war Chefredakteurin von „M-MEDIA“ und leitete die Integrationsseite der Tageszeitung „Die Presse“.
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