Einspringen, wo der Staat versagt
Der Österreicher Jakob Frühmann engagiert sich seit sechs Jahren bei der NGO Sea-Watch. Ein Gespräch über seine Einsätze auf See, Verschärfungen und den Menschenrechtsdiskurs in Österreich.
Interview: Sarah Kleiner.
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
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Die Mittelmeerroute ist bis heute eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt. Die UN schätzt, dass im vergangenen Jahr etwa 2.400 Menschen beim Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken sind. Aufgrund der ausbleibenden staatlichen Rettungsmissionen wurde die zivile Seenotrettung zur wichtigsten Instanz für das Überleben Ertrinkender. Jakob Frühmann fährt seit 2017 mit der deutschen NGO Sea-Watch auf See.
MO-Magazin: Sie haben vor Ihrem Engagement bei Sea-Watch als Lehrer in Österreich gearbeitet. Wie wurden Sie zum Seenotretter?
Jakob Frühmann: Ich war in Wien an unterschiedlichen Orten engagiert. Ich habe ein Jugendzentrum mitgegründet und war u. a. im Zuge der Fluchtbewegung von 2015 an unterschiedlichen solidarischen Gruppen beteiligt. Und ich war immer sehr dem Meer verbunden, habe während des Studiums auch einen Segelkurs gemacht. Irgendwann habe ich diese zwei Leidenschaften verbunden: Die Passion, zur See zu fahren, und nicht hinnehmen zu wollen, dass genau in diesem Meer Menschen auf ihrem Weg nach Europa ertrinken.
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„Ich wollte nicht mehr hinnehmen, dass in dem Meer,
dem ich sehr verbunden bin, Menschen ertrinken“
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Die zivile Seenotrettung wird zunehmend kriminalisiert, wie hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert?
2015, nachdem unter anderem durch Sebastian Kurz die Balkanroute geschlossen wurde, hat sich eine eigentlich alte, aber dann wieder verstärkt befahrene Migrationsroute übers zentrale Mittelmeer erneut aufgetan. Die staatlichen – vor allem italienischen – und europäischen Behörden waren überfordert mit der Anzahl ankommender Boote. Daraufhin hat sich die zivile Flotte herausgebildet, nicht nur, aber maßgeblich vorangetrieben von Sea-Watch. Der Grundgedanke war, dort einzuspringen, wo der Staat überfordert ist oder versagt.
Anfangs gab es ja in dem Bereich noch Kooperationen mit staatlichen Einsatztruppen.
Ja, 2016 und 2017 gab es Kooperationen mit staatlichen Schiffen und Behörden und eine übergeordnete Koordination von Rettungseinsätzen. So wie das vorgesehen ist im internationalen Seerecht. Laut diesem hat jeder Küstenstaat für ein gewisses Gebiet die Aufgabe, Seenotfälle zu koordinieren, das ist die sogenannte „search and rescue region“. Was wir die letzten Jahre beobachten, ist ein sukzessiver Rückzug der zuständigen europäischen Behörden und Organe, auch ein Ausbleiben der Koordination von Rettungen. Wir arbeiten transparent und informieren über Seenotfälle bzw. halten die Seenotrettungsleitstellen am Laufenden. Standardmäßig bekommen wir keine Antwort. Andererseits ist auch eine sogenannte „non-assistance“ zu beobachten. Das betrifft vor allem Malta. Dieses hat sich vor Jahren aus der Seenotrettung verabschiedet und ist nicht mehr im Mittelmeer präsent. Die staatlichen Seenotrettungsprogramme wurden alle abgeschafft.
Also gibt es von der EU keine Versuche mehr, Menschen in Seenot zu retten?
Es gibt keine von der EU mandatierten Schiffe im Einsatzgebiet, lediglich Aufklärungsflugzeuge von Frontex, die Positionen von Seenotfällen registrieren und weitergeben und damit Pushbacks oder Verschleppungen der Menschen, zum Beispiel durch die sogenannte libysche Küstenwache, ermöglichen. Es gibt also einerseits einen sukzessiven Rückzug der europäischen Seenotrettung und gleichzeitig eine Externalisierung der europäischen Außengrenzen, indem man Länder wie Libyen „einspannt”. Außerdem ist die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung zu nennen. Das betrifft administrative Schikanen, wo unsere Schiffe und Flugzeuge festgesetzt werden, oder strafrechtliche Ermittlungen gegen einzelne Crewmitglieder.
Es werde versucht, unter dem Vorwand der Sicherheit Rettungsschiffe aus dem Verkehr zu ziehen, berichtet Jakob Frühmann.
Deutschland plant eine Verschärfung der Schiffssicherheitsverordnung, die einen großen Teil der zivilen Rettungsschiffe betreffen würde. Die geplanten Änderungen umfassen zum Beispiel Vorschriften zu Fenstern und Türen, die denen von Frachtschiffen angeglichen werden sollen. Plexiglasfenster sollen zum Beispiel mit Stahldeckeln versehen werden. Sea-Watch hat die Pläne stark kritisiert. Was wären Ihrer Meinung nach die Folgen?
Unterm Strich wird versucht, unter dem Vorwand der Sicherheit Schiffe aus dem Verkehr zu ziehen. Es soll die Sportschifffahrt an die Berufsschifffahrt angeglichen werden. Für kleine NGOs und Schiffe bedeutet das Umbauten, dadurch entstünden Kosten, die für viele nicht tragbar sind. Das ist an sich auch widersprüchlich zum deutschen Koalitionsvertrag, in dem ein Bekenntnis zur Seenotrettung festgehalten wurde.
Italien arbeitet unter Giorgia Meloni mit Dekreten, die Rettungsschiffe zum Ansteuern von sehr weit entfernten Häfen zwingen. Wie wirkt sich das in der Praxis aus?
Laut der „International Convention for the Safety of Life at Sea“ müssen Schiffbrüchige nach einer Rettung ehestmöglich an einen sicheren Ort gebracht werden. Da das unserer Ansicht nach weder Libyen noch Tunesien sein können, sind es entweder Malta oder Italien. Malta antwortet nicht und hat sich zu einem „failed state“ für Menschenrechte entwickelt. Uns wird letzten Endes immer Italien zugewiesen, allerdings haben wir vor der Regierung Melonis oft wochenlang auf die Zuweisung gewartet. Unter der neuen faschistischen Regierung wird der Hafen sofort zugewiesen, allerdings möglichst weit weg vom Einsatzgebiet. Die Präsenz von zivilen Seenotrettungsschiffen wird dadurch ausgedünnt. Es gehört mittlerweile zum Alltag, dass NGO-Schiffe in den Nordosten Italiens geschickt werden. Man fährt da fünf Tage hoch und verbrennt irre viel Sprit, was wiederum zigtausende Euro für die NGO bedeutet. Andererseits ist der sichere Hafen direkt anzulaufen. Das heißt, selbst wenn am Weg ein weiterer Seenotrettungsfall bekannt würde, wäre es laut diesem Gesetz, das wir auch anfechten, widerrechtlich, einzugreifen. Das haben einige Schiffe ignoriert, sie sahen sich dann mit Geldstrafen und Blockaden konfrontiert.
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„Was für mich noch herausfordernder ist,
sind die politischen Verhältnisse in Österreich“
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SOS Mediterannée hat im Frühjahr einen Fall öffentlich gemacht, bei dem die libysche Küstenwache in einen Rettungseinsatz eingegriffen und auch Schüsse abgefeuert hat. Welche Erfahrungen haben Sie mit ihr gemacht?
Ich habe den Fall aus einem unserer Flugzeuge beobachtet. Wir haben versucht, über Funk mit der sogenannten Küstenwache in Kontakt zu treten, da kam keine Antwort. Abgesehen von den Schüssen konnten wir auch mehrere gefährdende Manöver des Patrouillenboots beobachten und die Menschen in dem Schlauchboot, bei dem ein Schlauch bereits Luft verloren hatte, wurden bedroht. Solche Ereignisse beobachten wir leider immer wieder. Wir sollten es hier mit einer professionellen, humanitär ausgerichteten Küstenwache zu tun haben, aber das ist überhaupt nicht der Fall.
Sie kommen zwischen Ihren Einsätzen an den unterschiedlichsten Orten immer wieder nach Österreich. Wie nehmen Sie hier den Diskurs über Geflüchtete wahr?
Das ist für mich einer der schwierigsten Aspekte der Arbeit. Oft werde ich gefragt: „Ist das schlimm vor Ort?“ Viele wollen diese negativen Storys hören und – ohne das zu romantisieren – es ist natürlich herausfordernd, aber was für mich noch herausfordernder ist, ist dann in Österreich mit den politischen Verhältnissen konfrontiert zu sein. Man kommt nach Hause und dann gibt es auf einmal in Niederösterreich einen schwarz-blauen Koalitionsvertrag. Auch in puncto Grüne: Die sitzen mit einer Partei im selben Boot, die migrationspolitisch ins gleiche Horn bläst wie Giorgia Melonis Fratelli d’Italia. Das gibt mir natürlich zu denken. Insgesamt ist eine beängstigende Verrohung des Diskurses zu bemerken und das betrifft ganz Europa. Diskussionen um Personenfreizügigkeit, Bewegungsfreiheit, offene Grenzen werden überhaupt nicht mehr geführt. Das sind inzwischen Tabuthemen, die traut man sich gar nicht mehr anzusprechen.
Sarah Kleiner arbeitet als Journalistin in Wien. Sie leitet die Produktion des ORIGINAL Magazins, das sich dem konstruktiven Journalismus verschrieben hat, und ist als freie Autorin im Bereich Wissenschaft unter anderem für die Tageszeitung Der Standard tätig.
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