Fünf Länder und zwei Kontinente
Über Masoumeh, eine Afghanin im Traunviertel, ihre Pflegefamilie und die Freiwillige Feuerwehr. Reportage und Fotos: Kathrin Wimmer
"Wir sind eine laute Familie. Mein Mann ist Isländer und wir reden oft isländisch miteinander. Das muss am Anfang sehr schwierig für dich gewesen sein. Zumindest wurdest du immer sehr still.“ Susanne Götzinger lacht ihre Pflegetochter Masoumeh Haidari an.
Die 17-jährige junge Frau aus Afghanistan grinst zurück, schiebt die Hände in den Kapuzenpulli und streicht sich einen Haarschopf aus dem Gesicht. Die beiden sitzen an einem Esstisch im oberösterreichischen Micheldorf, eine knapp 6.000-Seelengemeinde im Bezirk Kirchdorf im Traunviertel. Ein Haus mit Garten, ein Hund, zwei Katzen, fünf Schildkröten.
Seit zweieinhalb Jahren lebt Masoumeh bei der vierköpfigen Familie Götzinger-Steinsson. Das Ehepaar hat noch zwei jüngere Adoptivtöchter: Anna Xing, eine 14-jährige Chinesin und Eva Dora, eine 11-jährige Kambodschanerin. Je nachdem, wer gerade mit wem spricht, ergibt sich ein Mix aus Deutsch, Englisch und Isländisch.
Vom Vater als Spielpfand eingesetzt
Masoumeh Haidari macht gerade ihren Pflichtschulabschluss. Fünf Mal pro Woche fährt sie zu einem BFI-Kurs nach Linz. „Die Flüchtlingsklasse im Ort war ihr zu einfach und die normale AHS/BORG 5. Schulstufe war ihr zu schwer. Der Kurs geht von Jänner bis Dezember und danach hat sie den normalen Pflichtschulabschluss. Den braucht sie sowieso für viele Ausbildungen später“, erzählt Susanne Götzinger, die als Deutschlehrerin arbeitet. Pflegetochter Masoumeh möchte gerne Polizistin werden, sagt sie. Auf die Frage warum, erklärt ihre Pflegemutter: “Es nervt sie wahnsinnig, wenn Leute unterschiedlich behandelt werden. Es wird nicht geschwindelt und man gibt ehrliche Antworten. Auch wenn es sein kann, dass man dadurch negative Folgen erlebt. Das bist eigentlich schon du, gell?“
Masoumeh Haidari nickt.
Seit Februar hat sie subsidiären Schutz in Österreich. „Das bedeutet, dass der Staat sie zwar nicht offiziell als Flüchtling anerkennt, aber sie nicht zurückgeschickt werden kann. „In einem Jahr können wir wieder ansuchen und dann noch einmal in zwei Jahren. Aber wir haben Berufung eingelegt, weil sie eigentlich Asyl bekommen muss. Ihr Fall ist ein klassischer Asylgrund“, ist die 51-jährige Lehrerin überzeugt.
Bis 2015 lebte Masoumeh Haidari bei ihrer Familie ohne legalen Status im Iran. Ihre Eltern waren im Zuge der sowjetischen Invasion in den 1970er-Jahren aus Nordafghanistan geflohen. Die Familie gehört der schiitischen Minderheit der Hazara an und hat im Iran wenig Rechte. Masoumeh ist die älteste Tochter von fünf Kindern. Sie begann als 11-Jährige neben der Schule in einer Schneiderei zu arbeiten und erhielt dafür 10 Euro pro Monat. Später mit 15 Jahren arbeitete sie sechs Tage pro Woche mit 12-Stunden-Schichten für 120 Euro.
Ihr Vater wurde drogenabhängig und spielsüchtig. Als er seine eigene Tochter an einen 45-Jährigen Mann verspielte, half Masoumehs Mutter, einen Schlepper für sie zu finden. Sie floh gemeinsam mit ihrer Cousine und deren Mann.
Die ersten Monate verbrachte das Mädchen im Flüchtlingslager Traiskirchen. Durch einen Zufall kam sie nach Micheldorf. Ihre Freundin, Fatima war „probewohnen“ bei einer Nachbarsfamilie und Susanne Götzinger fragte, ob sie jemanden kennt, der auch in eine Pflegefamilie möchte.
„Wir haben zwei adoptierte Kinder und daher ist uns das Konzept der Familiengründung in dieser Form bekannt. Ein drittes Kind zu haben, darüber hatten wir schon länger nachgedacht, aber aufgrund unseres Alters – wir sind beide über 50 Jahre alt – war klar, dass wir kein Kleinkind oder Baby mehr adoptieren würden. Und dann kam diese Flüchtlingsbewegung und alles ging ganz schnell. Kurz vor Weihnachten kam Masoumeh zu uns.“ Susanne Götzinger rückt ihre runden Brillengläser zurecht. Der erste Familienausflug war ein Kurzbesuch bei den Nachbarn am 24. Dezember. „Wir haben Masoumeh einfach vorgestellt. Wir haben gesagt: Das ist unsere Pflegetochter und fertig. Damit gab es keine Diskussion. Es war ganz klar, sie gehört zu uns.“
Spott wegen Kopftuch
Masoumeh Haidari trägt seit einem Jahr kein Kopftuch mehr. Sie wollte auf der Straße nicht mehr als Asylwerberin erkannt werden, sagt sie. Vor allem während den Busfahrten nach Hause sei sie aufgrund ihrer Kopftuches häufig von anderen Schülern verspottet und angerempelt worden. Ihre afghanischen Freunde und Bekannten konnten ihre Entscheidung, das Kopftuch abzulegen, nicht verstehen. „Sie haben geglaubt, dass ich langsam eine Christin werde. Ich habe ihnen gesagt, dass es mir nicht wichtig ist. Nur weil ich sage, dass ich nicht mehr Muslimin sein will, heißt das nicht, dass ich sofort Christin werde. Wahrscheinlich haben sie gedacht, dass mich Susanne – also meine Mama – dazu zwingt.“
Wenn sie ihre Verwandten in Niederösterreich in einer Flüchtlingsunterkunft besucht, verhüllt sie sich immer noch. „Also in den Camps, wo immer wieder neue Männer kommen, packt sie sich aus Sicherheitsgründen ein. Auch um ihre Cousinen vor Problemen mit anderen Familie zu bewahren“, sagt Susanne Götzinger und streichelt einen weiß-schwarzen gefleckten Hund, der sich unter dem Tisch ausgestreckt hat. „Wir haben ganz oft darüber geredet. Ich habe immer gesagt, mir ist es egal, wenn du dich einpackst. Die Frage ist, bist du glücklich damit? Was bedeutet es für dich? Und natürlich ist das Leben hier leichter ohne Kopftuch.“
Freude bei der Freiwilligen Feuerwehr
Als sich Masoumeh Haidari vor einem Jahr bei der Freiwilligen Feuerwehr Micheldorf bewarb, trug sie noch ein Kopftuch. Die Feuerwehr suchte damals dringend neue Mitglieder. Nachdem Susanne Götzinger mit ihrem Hund schon bei der Österreichischen Rettungshundebrigade tätig ist, fragte sie die junge Afghanin scherzhaft, ob sie Lust hat, zur Feuerwehr zu gehen, und sie stimmte zu.
„Ich dachte mir, vielleicht sagt sie es nur, weil sie uns gefallen möchte. Aber sie meinte es ernst. Wir riefen am nächsten Tag den Feuerwehrobmann an. Es wurde ein wenig diskutiert, weil erstens Mädchen und zweitens Muslima. Ich glaube, sie waren ein wenig besorgt, dass sich Masoumeh nicht anpassen würde. Sie luden sie zu einem Gespräch ein. Am Ende hieß es, dass es ihnen egal sei, ob sie ein Kopftuch trage oder nicht; sie müsse aber auf jeden Fall bei den Übungen einen Helm aufsetzen und alles mitmachen, was zu tun ist. Mittlerweile sind alle begeistert, wie ernsthaft sie bei der Sache ist“, erzählt die stolze Pflegemutter. Neben der Feuerwehr trainiert Masoumeh auch noch in einem Fußballverein, im zwanzig Kilometer entfernten Nachbarort. Fußballspielen, sagt sie, gefalle ihr. Umständlich sei nur das Hin- und Zurückkommen mangels öffentlicher Anbindung im ländlichen Raum.
Masoumeh würde gerne selbst bald einen Führerschein machen. Dazu fehlt jedoch die Geburtsurkunde. Susanne Götzinger schüttelt den Kopf. „Wir haben leider kein Papier, wo draufsteht, dass sie existiert. Was wir brauchen, ist eine Bestätigung von der iranischen Behörde, wo steht, wo Masoumeh geboren wurde und wo ihre Eltern leben. Aber das haben wir nicht, weil ihre Eltern keine Aufenthaltsgenehmigung hatten. Wir arbeiten aber daran. Diese Wege bei Behörden brauchen einfach wahnsinnig viel Zeit und Energie.“
Ob sie eigentlich noch Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hat? Masoumeh Haidari nickt. Sie telefoniert von Zeit zu Zeit mit ihrer Familie. Nachdem sie mit ihrer Cousine in die Türkei geflohen war, trennte sich ihre Mutter von ihrem Vater. Sie sind umgezogen und es gehe ihnen ganz gut, erzählt sie. Vor kurzem habe sie ihnen ein Paket mit Pullovern zukommen lassen. Ein Bekannter flog in den Iran und überbrachte die Geschenke. Ob sie ihre Geschwister irgendwann besuchen kann? Masoumeh nickt, ja, das hoffe sie.
Als nächstes wartet jedoch eine andere Reise auf die junge Frau. Im Wohnzimmer der Familie Götzinger-Steinsson hängt eine große Island-Karte hinter dem Esstisch an der Wand. Einmal im Jahr fliegt die Familie dort hin. Vor 30 Jahren haben sich Susanne
Götzinger und Einar Steinsson in Island kennengelernt. Sie war dort als Reisebegleiterin unterwegs und er war ihr Bus-Chauffeur. Zehn Jahre lang lebte das Paar in Island, bevor die Beiden nach Österreich gezogen sind. Susanne Götzinger beugt sich zu ihrer Pflegetochter. „Heuer fahren wir das erste Mal alle gemeinsam, im August. Die Tickets sind schon gebucht. Jetzt brauchen wir nur noch deinen Pass!“ Das Mädchen lacht.
Kathrin Wimmer arbeitet als freie Journalistin für Radio und Print. Sie hat Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien studiert.
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