
Gelebte Solidarität
Das Integrationshaus Wien feiert heuer 25-jähriges Jubiläum. Nächstes Jahr verabschiedet sich die Geschäftsführerin Andrea Eraslan-Weninger in den Ruhestand. Gründe genug, um mit ihr auf Entwicklungen in der Integrations- und Asylpolitik zurückzublicken. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Valentine Auer, Fotos: Karin Wasner
Sie waren bei der Gründung des Integrationshauses dabei. Aus welcher Notwendigkeit wurde das Integrationshaus damals gegründet?
Anfang der 1990er Jahre herrschte im ehemaligen Jugoslawien Krieg. Es kamen 90.000 Flüchtlinge, hauptsächlich Menschen aus Bosnien, nach Österreich. Die Aufnahme erfolgte in großen Lagern. Dort lebten die Menschen ohne Privatsphäre. Oft trennten nur Leintücher die einzelnen Räume. Die Bundesbetreuung war schlecht, es gab zahlreiche obdachlose Geflüchtete. Gleichzeitig waren viele Menschen traumatisiert, psychosoziale Angebote gab es kaum. Das war die Ausgangslage. Rund um das „Lichtermeer“ 1993, bei dem circa 300.000 Menschen gegen Rassismus auf die Straße gingen, hatten Willi Resitarits, Sepp Stranig und andere Menschenrechts-AktivistInnen die Idee, das Integrationshaus als Alternative zu gründen – ein Haus mit kleinen Wohneinheiten, der Möglichkeit die Tür zuzusperren und mit psychosozialer Betreuung. Darauf folgte die Zusage der Gemeinde Wien, dass sie uns ein Haus zur Verfügung stellen. Ich kam 1994 dazu, um die Idee in die Praxis umzusetzen. 1995 zogen die ersten BewohnerInnen ein.
Sie haben bereits von verschiedenen Problemen gesprochen. Sind es 25 Jahre später die gleichen Missstände, die das Angebot des Integrationshauses aufzufangen versucht?
Die Anforderungen an das Integrationshaus erweiterten sich aufgrund der Bedürfnisse der Menschen. Waren es am Anfang der Wohnheimbetrieb, psychologische Betreuung, ein Kindergarten und erste Sprachkurse, bemerkten wir bald, dass wir den Bildungsbereich aufstocken müssen. Wir entwickelten weitere Angebote und Kurse in den Bereichen Spracherwerb, Basisbildung und Arbeitsmarktintegration. Der nächste Schritt war die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Zunehmend wichtiger wurde auch eine unabhängige Rechtsberatung, die wir 2006 an unsere Beratungsstelle für Asylsuchende in der Grundversorgung angliedern konnten.
Andrea Eraslan-Weninger zitiert Peter Turrini: „Wenn wir jetzt nicht in den Humanismus investieren, barbarisiert sich alles“
Inwieweit reagierten Sie mit diesen Angeboten auf eine sich ständig ändernde Integrations- und Asylpolitik?
Das Asyl- und Fremdenrecht wurde in den vergangenen 25 Jahren komplexer und restriktiver. Dadurch wurde die unabhängige Rechtsberatung notwendig. Mittlerweile ist Flüchtlingsarbeit ohne ausgebildete JuristInnen kaum denkbar. Auch auf das Jahr 2015 haben wir reagiert. Damals hat Österreich im Gegensatz zu heute das Richtige getan und Geflüchtete in größerem Maße aufgenommen. Als Reaktion darauf bauten wir unsere Unterkünfte und Angebote in allen Fachbereichen aus. Heute geht es darum, eine andere Politik zu fordern und Alternativen zu schaffen. Denn die derzeitigen Entwicklungen sind bedenklich. Das ehemalige Flüchtlingslager Moria macht das systemische Versagen, nicht nur Österreichs, sondern der gesamten Europäischen Flüchtlingspolitik sichtbar. Dieses Versagen bedroht unsere Werte, bedroht den Flüchtlingsschutz, das Asylrecht, bedroht die Menschenwürde und die Menschrechte, bedroht die Freiheit und die Demokratie. Mir fällt ein Satz von Peter Turrini ein, den er bei der Eröffnung des Integrationshauses sagte: „Wenn wir jetzt nicht in den Humanismus investieren, barbarisiert sich alles“. Jetzt sind wir wieder in so einer Situation. In Österreich spitzt es sich seit der türkisblauen Regierung zu. Eine Regierung, die Flüchtlings- und Menschenrechte mit Füßen trat. Trotz grüner Regierungsbeteiligung bleibt die ÖVP bei den Themen Integration, Migration und Asyl bestimmend. Die Politik zielt auf Ausgrenzung und Desintegration ab. Daher ist es wichtig, dass wir als Zivilgesellschaft tätig werden, unsere Stimme erheben und uns wehren.
Sie kritisieren, dass die Flüchtlings- und Integrationspolitik der türkis-blauen Regierung einen „Scherbenhaufen“ hinterlassen hat. Können Sie das konkretisieren?
Neben Restriktionen im Asyl- und Fremdenrecht, zählt die Sozialhilfe Neu dazu. Der Verfassungsgerichtshof hob zwar Teile davon auf, subsidiär Schutzberechtigte werden aber weiterhin benachteiligt. Diese große Gruppe erhält statt monatlich 860 Euro Sozialhilfe, nur mehr 365 Euro Grundversorgung. Das ist nicht existenzsichernd. Der nächste Punkt ist die Rechtsberatung, die verstaatlich wird. Es werden zwar MitarbeiterInnen aus der privaten Rechtsberatung übernommen, dennoch kann die Unabhängigkeit so nicht garantiert werden. Ein anderes Beispiel ist die Verknüpfung von Sozialleistungen mit Deutschkenntnissen und anderen Integrationsvereinbarungen. Das ist eine Politik des Sanktionierens. Statt Sanktionen bräuchte es die richtigen Angebote für Betroffene, die stehen aber nicht zur Verfügung. Fehlende Angebote und Maßnahmen sind Probleme, die wir seit Beginn unserer Arbeit kennen. Es gibt dabei große Unterschiede nach Bundesland. Auch wenn es positiv ist, dass zum Beispiel Wien mehr Angebote zur Verfügung stellt, sollten Geflüchtete überall die gleichen Möglichkeiten haben. Es benötigt bundesweit Zugang zu Bildung, zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, zur sozialen Grundsicherung und zum Wahlrecht. Es benötigt die Anerkennung von Mehrsprachigkeit und Vielfalt.
Andrea Eraslan-Weninger: Die Idee des Integrationshauses war die eines Hauses mit kleinen Wohneinheiten und psychosozialer Betreuung.
Wie schätzen Sie den Spielraum der Grünen in der aktuellen Regierung ein, wenn es darum geht diesen Zugang zu schaffen?
Die Grünen können sich mit ihrer Politik auf vielen Ebenen nicht durchsetzen. Damit sich das ändert, muss die Gegenstimme innerhalb der Grünen lauter werden. Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Unter der türkisblauen Regierung fehlten uns AnsprechpartnerInnen. Jetzt haben wir wieder PartnerInnen, mit denen wir unsere Anliegen besprechen können.
Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Sie haben in den vergangenen 25 Jahren im Integrationshaus viel erlebt. Können Sie von einem für Sie besonders berührenden Erlebnis erzählen?
Es gibt im Integrationshaus viele schöne Momente. Oft sind das die kleinen Geschichten, die nach außen nicht weltbewegend, aber für die Betroffenen ein riesiger Schritt sind. Wenn eine Familie Asyl bekommt, wenn jemand einen Arbeitsplatz findet oder einen Pflichtschulabschluss schafft. Dieses Weiterkommen der Menschen zu sehen, motiviert mich, dafür zu sorgen, dass wir mit unseren Ressourcen konkret weiterhelfen können. So werden wir zum Praxisbeispiel für gelebte Solidarität.
Das klingt als ob es für Sie gar nicht so einfach sein wird, in Pension zu gehen. Freuen Sie sich trotzdem schon darauf mehr Zeit für sich zu haben?
Ich freue mich schon sehr mehr Zeit für mich zu haben. Das Asyl- und Flüchtlingsthema ist für mich aber ein Lebensthema mit dem ich mich seit mehr als 40 Jahren intensiv beschäftige. Auch wenn ich nicht mehr Geschäftsführerin bin, ziehe ich mich nicht aus der Zivilgesellschaft zurück. Ich werde mich in dieser Frage weiterhin engagieren. Es wäre der falsche Zeitpunkt, um sich zurückzuziehen. Es braucht gerade jetzt Widerstand, um den Flüchtlingsschutz und das Asylrecht zu verteidigen.
Andrea Eraslan-Weninger hat im Integrationshaus wichtige Impulse gesetzt. Das Haus ist ein anerkanntes Kompetenzzentrum, das sich besonders um Traumatisierte, AlleinerzieherInnen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kümmert.
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