Hilfe vor Ort reicht nicht aus
Weil die Fluchtwege nach Europa dicht sind, setzen einige Staaten im Zuge der Afghanistan-Krise verstärkt auf humanitäre Aufnahmeprogramme. Österreich ist nicht dabei. Warum eigentlich nicht? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Sophia Reiterer
Seit den dramatischen Bildern der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist nun auch die Debatte über die Aufnahme von Geflüchteten in Europa wieder entbrannt. Die Außengrenzen sind dicht, es ist fast unmöglich geworden, europäischen Boden zu erreichen, um einen Antrag auf Asyl zu stellen. Und falls das doch gelingt, dann sitzen die Menschen in Lagern wie in Griechenland fest. Seit Jahren schafft es die EU nicht, eine solidarische Verteilung der Geflüchteten durchzusetzen, auch wenn man mit einem neu aufgesetzten Fonds (AMIF) bis 2027 rund neun Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe zur Verfügung stellt. Im Dezember hatte selbst Papst Franziskus im Zuge der Afghanistankrise an alle sicheren Länder appelliert, Flüchtlinge und Migrant*innen aufzunehmen. Während er die Lager in Zypern und Griechenland besuchte, rügte er einige europäische Länder, die ihrer Verantwortung nicht gerecht würden. Österreichs Neo-Kanzler Karl Nehammer fühlt sich nicht in der Pflicht und wies den Appell des Papstes, den auch die Österreichische Bischofskonferenz aufgriff, zurück. Man habe dieses Jahr bereits hunderten Familien geholfen und kümmere sich um 1.500 ins Land gekommene unbegleitete Jugendliche.
Österreich beteiligt sich seit 2018 nicht mehr an Resettlement-Programmen. Schweden hat seine humanitären Aufnahmen zusätzlich zur regulären Asylpolitik auf 5.000 Menschen pro Jahr erhöht.
Nun mehren sich aber die Forderungen, besonders schutzbedürftige Menschen gezielt über humanitäre Aufnahmeprogramme ins Land zu holen. Schweden macht das bereits und hat – zusätzlich zur regulären Asylpolitik – die Quote für humanitäre Aufnahme auf 5.000 Menschen erhöht. Der österreichische Migrationsexperte Gerald Knaus bezieht sich auf das deutsche Modell, wenn er für Österreich vorschlägt, eine Aufnahmerate von 0,05 Prozent der Bevölkerung jährlich über gezielte Resettlement-Programme aufzunehmen. Damit könne etwa Frauen in Afghanistan geholfen werden, die besonders gefährdet sind. Verschiedenste Initiativen haben in Österreich bereits ihre Unterstützung für die Ankömmlinge bekundet. Auch, wenn solche Programme zahlenmässig nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind, könne man so gezielt helfen, so Knaus. Immerhin könne damit auch die Schlepperei zurückgedrängt werden, sagt der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak (im Gespräch in dieser Ausgabe), indem man Menschen legale Fluchtwege etwa über Arbeits- und Studierenden-Visa anbietet.
Fakt ist, dass in der EU mittlerweile 15 Staaten vereinbart haben, über humanitäre Programme 40.000 Schutzbedürftigen eine reguläre Flucht zu ermöglichen. Österreich beteiligt sich nicht daran – und war auch nicht bereit, die afghanische Forscherin und Frauenrechtsaktivistin Amena Karimyan aufzunehmen, obwohl man der 25-jährigen Astronomin ein Visum für einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt zugesagt hatte. Der Fall ging durch die Medien. Karimyan war trotz des Risikos in die pakistanische Hauptstadt Islamabad gereist, um an der österreichischen Botschaft das Visum abzuholen. Auf dem Weg wurde sie von Taliban geschlagen und kurzzeitig verhaftet. Doch dann verweigerte man ihr das Visum, obwohl mehrere österreichische Einrichtungen sie eingeladen hatten. Nachdem Karimyan monatelang mittellos in Islamabad festsaß, gewährte ihr schließlich Deutschland ein Visum.
Judith Kohlenberger über das „Asyl-Paradox“: Menschen müssen für Hilfe Recht brechen.
Vorteile humanitärer Programme
Dabei hätten Resettlement-Programme durchaus Vorteile, wie die Migrationsforscherin an der WU Wien, Judith Kohlenberger, bemerkt: „Man hat eine gewisse ‚Kontrolle‘ darüber, wer aufgenommen wird und die Aufnahme verläuft in systematischen Bahnen.“ Dass Österreich sich derzeit nicht an Resettlement-Programmen beteiligt, kann einerseits durch die geografische Lage erklärt werden. Kohlenberger weist darauf hin, dass Österreich als Binnenland eine erhöhte Ankunftsrate von Menschen auf der Flucht habe. Für gewöhnlich haben solche Länder hohe Resettlement-Quoten, die auf dem Land- oder Seeweg nicht gut erreichbar sind, wie zum Beispiel Kanada. Obwohl Österreich sehr vieles im Zuge des „Sommers der Migration 2015“, wie Kohlenberger ihn nennt, richtig gemacht hat, hegt sich seitdem in der Bevölkerung eine starke Migrationsskepsis. „Diese Skepsis wird auch durch den aktuellen defizitorientierten Flucht- und Migrationsdiskurs in der ganzen EU befeuert“, ergänzt Kohlenberger. Das Motto der EU sei derzeit Kohlenberger zufolge „mehr Abschottung als Aufnahme, weniger Schutz der Schutzsuchenden als Schutz der Grenzen.“
Beachtliche Lernkurve
Nun stimmt der aktuell stark defizitorientierte Fluchtdiskurs nicht unbedingt mit der Realität überein. Eigentlich wurde schon in den Jahren 2013 bis 2018 bewiesen, dass die Bevölkerung und NGOs im Zusammenspiel mit der Regierung in der Lage ist, Geflüchtete umfassend zu betreuen. Ruth Schöffl von UNHCR Österreich hofft deshalb, dass man zeitnah wieder ein Resettlement-Programm auf die Beine stellt. „Österreich hat zwischen 2013 und 2018 eine beachtliche Lernkurve hingelegt“, sagt Schöffl, und meint damit die Resettlement-Programme für syrische Geflüchtete. Behörden und NGOs haben die Programme überarbeitet und verbessert. Am Ende haben NGOs in einigen Gemeinden Österreichs sogar ein Buddy-System installiert, bei dem Geflüchtete mit lokalen Menschen in einem engen Betreuungsverhältnis standen und eine Ansprechperson direkt vor Ort hatten. „Von NGOs und Behörden wurde ein ganzes Paket geschnürt“, ergänzt Schöffl. Gemeinsam wurde versucht, jeden Schritt zu professionalisieren, um zum Beispiel die Wohnungssuche zu erleichtern oder kulturelle Begleitung zu ermöglichen.
Beteiligt an diesen Resettlement-Programmen war die ARGE Resettlement. Sie ist ein Zusammenschluss aus Caritas, Diakonie und Rotem Kreuz. Zwischen 2013 und 2018 hat die ARGE Resettlement rund 1.300 vulnerable syrische Geflüchtete betreut, die über drei humanitäre Aufnahme-Programme nach Österreich gekommen sind. Anna Magdalena Bentajou von der Caritas Österreich beschreibt, welche Aufgaben die ARGE übernimmt: „Unsere Arbeit beginnt schon vor der Ankunft am Flughafen. Wir organisieren Wohnraum, helfen bei der psychologischen Stabilisierung und bieten individuelle Beratung an, um zu schauen, was die Menschen brauchen.“ Auch wenn es um Bildung und Arbeit geht, half man den Menschen, um in die Selbständigkeit zu finden.
Ruth Schöffl (UNHCR): Hofft, dass Österreich sein Resettlement-Programm wieder aktiviert.
„Wir haben schon so viele aufgenommen“
Die Frage, warum Österreich sich derzeit nicht an Resettlement-Programmen beteiligt, wird von der Politik oft mit einem „Wir haben schon so viele aufgenommen“ abgeschmettert. Judith Kohlenberger würde dieser Haltung argumentativ auf mehreren Ebenen begegnen. Tatsächlich haben einzelne Betroffene nichts davon, wenn vor fünf Jahren schon „so viele“ Menschen aufgenommen wurden. Humanitäre Hilfe von damals kann nicht vor aktueller Verantwortung entbinden, wenn man an die Machtübernahme der Taliban denkt. Auch die Fakten sprechen gegen so ein Argument – „so viele“ sind es in einem globalen Kontext nämlich gar nicht, die aufgenommen wurden: „2015 waren es nur sechs Prozent aller Geflüchteten weltweit, die in der EU aufgenommen wurden. Der Großteil der Geflüchteten findet im globalen Süden Zuflucht“, rückt Kohlenberger die Verhältnisse zurecht. Dazu gibt es ein eklatantes Ungleichgewicht zwischen Schutzsuchenden und tatsächlich aufgenommenen Menschen. Ruth Schöffl spricht von weltweit 39.266 Menschen, die 2021 aufgenommen wurden. Der Bedarf an Resettlement-Plätzen liegt laut UNHCR hingegen bei 1,5 Millionen Plätzen jährlich.
Ein weiteres Argument gegen die Wiederaufnahme von Resettlement-Kontingenten in das Regierungsprogramm ist: „Wir müssen vor Ort helfen, um Flucht gar nicht erst notwendig zu machen.“ Anna Magdalena Bentajou von der ARGE Resettlement hält dem entgegen, dass die alleinige Hilfe vor Ort nicht ausreicht. Das sind oft Gebiete, in denen Krisen bereits jahrelang bestehen, wie eben in den Nachbarländern Afghanistans: „Deshalb reicht Hilfe vor Ort nicht aus. Einfach deshalb, weil es Personen gibt, die gefährdet sind, und in den Erstzufluchtsländern nicht den Schutz und die Betreuung finden, die sie brauchen.“ Man denke an den Libanon, wo neun von zehn syrischen Geflüchteten in extremer Armut leben. Bentajou sagt, es geht hier um Personen, die gar nicht die Ressourcen und Möglichkeiten hätten, sich in diesem Kontext Alternativen zu erarbeiten.
Dieses Problem beschreibt Judith Kohlenberger als „Asylparadox“. Menschen müssten demnach illegal Grenzen überschreiten, um überhaupt in die Lage zu kommen, Asyl zu beantragen. Sie müssen also Recht brechen – oftmals mit der Hilfe von Schlepper-Organisationen – um zu ihrem Recht zu kommen, nämlich in einem sicheren Land Asyl zu bekommen. Dass damit Schleppern in die Karten gespielt wird, ist für Judith Kohlenberger ein zentrales Problem. „Menschen verschulden sich zum Teil enorm, um die Hilfe von Schleppern in Anspruch zu nehmen“, stellt die Kulturwissenschaftlerin fest. Zudem verschwimme hier die Grenze zwischen Menschenhandel und Schlepperei, wenn zum Beispiel Menschen in die Zwangsprostitution gezwungen würden, etwa um Schulden bei den Schleppern zu bezahlen.
Eine von zahlreichen Initiativen: „Courage - Mut zur Menschlichkeit“. Cornelius Obonya und Nicola Werdenigg übergeben Survival Kits an Doro Blancke für die griechischen Lager.
Resettlement nur Zusatzprogramme
Spricht man von humanitärer Aufnahme, dann spricht man von einem grundsätzlichen Akt der Solidarität Menschen, aber auch anderen Staaten gegenüber. Resettlement-Programme sind Ruth Schöffl zufolge für UNHCR besonders wertvoll, weil sie so gut planbar sind. Einerseits für die Geflüchteten und andererseits für die Staaten. Sie ergänzt, dass solche Programme aber nur Zusatzprogramme sein könnten: „Es ist so wichtig, dass alle Staaten immer alle Grenzen für Schutzsuchende offenhalten.“ Auch die ARGE Resettlement vertritt diesen Standpunkt: „Unser Ansatz ist, dass die verschiedenen Formen der Hilfe nebeneinander bestehen. Es muss ja nicht ein entweder oder sein.“
Bentajou betont die Dringlichkeit, Resettlement-Kontingente wieder in das österreichische Regierungsprogramm aufzunehmen. Vergangenes Jahr hat die ARGE Resettlement ein Konzept entworfen, in das auch die bisherigen Erfahrungen eingeflossen sind. Die Gespräche mit der Politik sind aber eher zäh. Bentajou dazu: „Mein Eindruck ist, dass es zurzeit nicht um die Frage des ‚wie‘, sondern vielmehr um ein klares ‚nein‘ als politische Haltung geht. Da wird derzeit einfach abgeblockt.“
Der Appell der Expert*innen ist also deutlich: Humanitäre Aufnahme, Resettlement- und Relocation-Programme sind unverzichtbar. Es gibt viele Menschen in Österreich, die bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen. Etwa die zivilgesellschaftliche Initiative „Courage Jetzt!“, die von bekannten Persönlichkeiten wie Katharina Stemberger, Cornelius Obonya, Christian Konrad, Julya Rabinovich oder Michael Ostrowski initiiert wurde. Gemeinsames Ziel ist es, Menschen aus den griechischen Lagern zu retten sowie Hilfslieferungen in die Lager zu organisieren, „wo die Kleinsten weiterhin in Dreck und Kälte ausharren müssen“, so Obonya. Auf Facebook wird aktuell über Aktivitäten berichtet, auf der Website der Initiative sieht man eine „Landkarte der sicheren Plätze in Österreich“, wo Personen versorgt und unterstützt werden können. Was bislang fehlt: das Einverständnis der Regierung.
Ganz grundsätzlich wäre es für die Flüchtlingshilfe jedenfalls gut, dauerhafte Programme aufzusetzen. Das liegt für Bentajou auf der Hand. Die Aufnahme ließe sich besser steuern, es wären Freiwillige bereit, und man könnte „einfacher planen und in die Zukunft schauen.“ Ob es nun der Papst, die christliche Menschenliebe, die Zahlen und Fakten oder humanitäre Krisen sind, die als triftigstes Argument herangezogen werden: Keine Kontingente für humanitäre Aufnahme bereitzustellen ist 2022 für einen Staat keine Option.
Jetzt unterschreiben: www.humanitaere-aufnahme.at
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo