
„Ich mache das für Österreich“
Melisa Erkurts Buch über Chancenungleichheit an österreichischen Schulen machte Schlagzeilen. Konnte das Buch die Politik zum Umdenken bewegen? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Milena Österreicher, Fotos: Karin Wasner
Im Sommer 2020 erschien Melisa Erkurts Buch „Generation haram – warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben“. Die Journalistin erzählt darin von ihren eigenen Erlebnissen als bosnisches Flüchtlingskind im österreichischen Schulsystem und von ihren Erfahrungen als Lehrerin. Erkurt kritisiert das aktuelle System, in dem Bildungschancen vererbt werden, die Unterstützung der Eltern vorausgesetzt wird, Deutschkenntnisse der SchülerInnen mangelhaft sind und der Rassismus hinter verschlossenen Klassen- und Lehrerzimmertüren ignoriert wird.
Seit dem Erscheinen des Buches gab es viel Medienecho. Hat es auch Konkretes bewirkt?
Ja, Unis passen ihre Lehrveranstaltungsangebote und Inhalte zum Beispiel in der LehrerInnenausbildung auf mein Buch an. Ich höre mittlerweile von vielen Studierenden, dass mein Buch in ihren Vorlesungen besprochen wird. Auch viele LehrerInnen lesen es mit ihren SchülerInnen. MigrantInnen schreiben mir, dass das Buch sie motiviert hätte, ihre eigenen Erfahrungen zu erzählen, einen Blog zu beginnen oder Initiativen zu starten.
Es ist toll, was einzelne Menschen hier machen. Es ist aber genau das, was ich auch kritisiere. Warum verlässt sich die Bildungspolitik auf diese einzelnen tollen Menschen? Warum gibt es keinen breiten Schulterschluss aller BildungspolitikerInnen, die etwas gegen diese Chancenkrise unternehmen?
Hat die Politik bei Ihnen angefragt?
Ein paar PolitikerInnen haben mich um ein Treffen gebeten. Ich versuche das aber zu vermeiden. Ich bin Journalistin, keine Aktivistin, und möchte nicht vereinnahmt werden. Außerdem habe ich alles auf 200 Seiten niedergeschrieben, schreibe jede Woche eine Kolumne im Falter und mache auch andere journalistische Arbeit zum Thema Bildung. Und die PolitikerInnen kennen ja die Probleme. ExpertInnen fordern seit Jahren dasselbe, was ich fordere, das ist kein neuer großer Wurf.
Jede/r zweite Wiener/in hat Migrationshintergrund. Wo sind dann die ganzen MigrantInnen in leitenden Positionen?
Vorschläge sind u.a. Ganztagsschulen und die Aufstockung von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen an Schulen. Warum wurde das nicht umgesetzt?
Es scheitert wohl an den politischen Mehrheiten. Egal, ob mit einem roten oder schwarzen Bildungsminister. Da gibt’s die Schlagwörter Gesamtschule bei den einen und Gymnasium bei den anderen, da will sich keiner etwas schenken. Am Ende sind aber seit Jahrzehnten die gleichen Kinder aus den gleichen sozialen Milieus die VerliererInnen.
Nach den vielen Jahren frage ich mich auch: Will die Gesellschaft überhaupt, dass gewisse Menschen den Aufstieg schaffen? Ist es nicht vielleicht eh so gewollt? Wir brauchen ja Leute, die für uns putzen oder am Bau arbeiten.
Die Mehrheitsgesellschaft hätte also kein Interesse daran, dass diese Kinder es schaffen?
Zumindest nehmen viele es einfach so hin. Es tut ihnen ja auch leid, sie spenden für Flüchtlinge und wollen, dass es denen auch gut geht. Aber was ist, wenn die Migrantin jetzt nicht mehr für mich putzt, sondern eventuell sogar meine Vorgesetzte wird. Es denkt fast niemand daran, dass jemand mit Migrationshintergrund einmal Bundeskanzlerin oder Chefredakteurin wird oder ein wichtiges Unternehmen leitet. Ich frage mich: Wie kann das sein? Jede/r zweite Wiener/in hat Migrationshintergrund. Wo sind dann die ganzen MigrantInnen in diesen Positionen? „Privilegienblind“ ist ein schönes Wort dafür: Man meint es eh nicht böse, aber man sieht die Probleme nicht. Auch wenn man eigene Kinder hat, legt man ganz viele Anschauungen wieder zur Seite, weil man nur das Beste für das eigene Kind will. Und das Beste gibt es nicht an den Schulen, wo Alis und Hülyas hingehen. Die Durchmischung in Wien ist schlecht. Die Menschen erfahren nichts voneinander, weil die meisten für sich leben in ihren Bezirken. Da ist auch Wohnpolitik gefragt, nicht nur Bildungspolitik.
Sie fordern eine MigrantInnenquote in öffentlichen Betrieben. Wie soll das gelingen?
Ich vergleiche das immer mit Frauenpolitik. Frauen sind die größte Minderheit, die wir haben. Danach kommen MigrantInnen, zumindest in Österreich. Ohne Quote und Forderungen geht nichts weiter. Es waren nicht Männer, die gesagt haben, wir machen das jetzt für euch. So wird auch die Mehrheitsgesellschaft das nicht für MigrantInnen machen. Eine Quotenregelung ist keine Bevorzugung, sondern versucht die unterschiedlichen Startbedingungen durch mehr Chancengerechtigkeit anzugleichen.
Stichwort Vorbilder: Menschen mit Migrationsbiografie scheinen sichtbarer zu werden.
Ich denke, da tut sich etwas, aber es sind immer noch Einzelne. Wenn zum Beispiel eine Journalistin mit muslimischen Background die ZIB2 moderieren würde, könnte sie das wohl nicht zusammen mit Stefan Lenglinger machen. Eine muslimische Frau und ein Schwarzer Mann, dafür ist Österreich noch nicht bereit.
Melisa Erkurt, geboren 1991 in Sarajevo, war Redakteurin beim Magazin biber und zwei Jahre mit dem biber Schulprojekt „Newcomer“ an Wiener Brennpunktschulen unterwegs.
In den Medien hat das Thema Bildung und Rassismus zumindest vorübergehend Anklang gefunden. Wie beurteilen Sie das?
Wir müssen noch mehr darüber reden. Ich wünsche mir, dass JournalistInnen über Bildung genauso berichten wie jetzt über die Klimakrise, denn die Lage ist ernst. Wir sprechen langsam über Rassismus bei der Polizei, das ist wichtig. Aber auch die Lehrerschaft muss sensibilisiert werden, eben in der Ausbildung. Nur ist es schwierig das anzusprechen, denn dann heißt es sofort: Nicht schon wieder Lehrerbashing. Es passiert aber häufig in der Schule, dass eine Fatima Tina genannt wird, weil es einfacher erscheint, migrantische SchülerInnen als Kollektiv wahrgenommen werden und mit ihren Eltern anders umgegangen wird.
Und bei Bildungsthemen kommen immer LehrerInnen oder DirektorInnen zu Wort. Es sind ganz selten SchülerInnen oder LehrerInnen mit Migrationshintergrund. Das zeigt auch, warum es meist nur um die Deutschkenntnisse geht und die Frage: Ja, was machen wir denn jetzt mit diesen Migrantenkindern?
Über diese Migrantenkinder hat die Lehrerin Susanne Wiesinger vor zwei Jahren das Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ geschrieben. Danach wurde sie Obfrau einer neu geschaffenen Ombudsstelle für Wertefragen und Kulturkonflikte. War Ähnliches bei Ihnen im Gespräch?
Nein, aber ich hätte es super gefunden, wenn eine Ombudsstelle für Rassismusfragen im Bildungsbereich errichtet worden wäre. Oder auch ein Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft, so wie ihn Aladin El-Mafaalani in Deutschland innehat. Stattdessen beschrieb der Bildungsminister mein Buch als polemisch, der Wiener Bürgermeister meinte, mein Buch wäre eine pointierte Bemerkung. Ein Jobangebot in der Politik würde ich jedenfalls nicht annehmen.
Warum heißt das Buch „Generation Haram“, wenn es um die allgemeine Bildungsmisere geht?
Bei „Generation Haram“ wirkt es zunächst so als wären muslimische Jugendliche das Problem. Aber auf den zweiten Blick sieht man, dass sie es sind, die das Problem haben, denn sie sind die VerliererInnen. Für eine Anna oder einen Paul sind Deutschkenntnisse weniger relevant, sie schaffen den Aufstieg. Einige meiner SchülerInnen fragten mich auch: Warum soll ich Deutsch lernen? Ich bleibe trotzdem für alle der ‚Ausländer’. Ich habe ihnen gesagt: Macht euch die Sprache zu eurem eigenen Werkzeug. Damit könnt ihr auf Dinge hinweisen, die falsch laufen in Österreich, so wie ich jetzt mit meinem Buch in deutscher Sprache.
Für dieses Aufzeigen gibt es Kritik.
Ja, viele sagen, das steht mir nicht zu und fragen: Wer bist du, dass du das kritisierst? Geh doch zurück nach Bosnien und kritisier das Schulsystem dort. Aber ich sehe mich als Österreicherin und mache das für Österreich.
Melisa Erkurt
„Generation haram – warum
Schule lernen muss, allen
eine Stimme zu geben“
(Zsolnay Verlag).
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