„Identität nicht absolut sehen“
Ein Streitgespräch zwischen der Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger und dem Soziologen Kenan Güngör über das Kopftuchverbot für Mädchen bis 14 Jahre und die Frage, was hinter dieser Diskussion steht. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell, Alexander Pollak, Fotos: Karin Wasner
Die Regierung hat das Kopftuchverbot in der Schule für muslimische Mädchen bis 14 Jahre auf den Weg gebracht. Die Debatte wird seit Jahren sehr emotional geführt. Gibt es da überhaupt noch Platz für eine differenzierte Sicht?
Güngör: Ich beschäftige mich schon viele Jahre mit diesem Thema und kann es keinesfalls ambiguitätsfrei sehen. Es geht ja nicht nur um das Kopftuch, sondern darum, wie wir überhaupt mit Muslimen und dem Islam umgehen. Da gibt es viele Facetten und eigentlich bin ich nur über jene Leute überrascht, die dazu allzu einfache Positionen haben. Die machen mir Sorgen.
Kohlenberger: Ich gebe dir durchaus Recht, gerade absolute Standpunkte in die eine oder andere Richtung sind schwierig. Ich würde darüber gerne auf der Ebene der Evidenz diskutieren, muss aber dazu sagen, dass unsere Studien an der WU sich vor allem auf Geflüchtete beziehen, also neu angekommene Menschen. Was ich aber immer wieder erlebe, ist, dass eine binäre Haltung zum Kopftuch zunehmend aufgebrochen wird. Es gibt junge Frauen, die das Kopftuch im öffentlichen Raum auf dem Weg zur Arbeit bewusst tragen, aber freiwillig an ihrer Arbeitsstelle ablegen. Weil das ein geschützter Raum ist und sie ihre professionelle Identität vor der religiösen Identität betonen wollen. Auch das gibt es. Wir würden also in dieser ganzen Identitätsdebatte davon profitieren, Identität nicht als absolut zu sehen, sondern immer auch im Kontext des Gegenübers und der eigenen Rolle.
Güngör: Das stimmt, es gibt teilweise diese Flexibilität, das ist aber ein Minderheitenprogramm. Wir sollten damit nicht das gesamte Bild verklären. Ein ziemlich großer Teil der stark Religiösen möchte das Kopftuch als absolute Norm sehen und als Zeichen der religiösen Standhaftigkeit idealisieren. Die meisten Akteure der konservativen Muslime geben sich ja als sehr angenehm und eloquent. Sie haben zwar Missstände, wie zum Beispiel die Diskriminierung in der Mehrheitsgesellschaft, richtigerweise angeprangert, aber eine kritische Auseinandersetzung mit den Missständen in der eigenen Community haben sie vermieden und sogar massiv kalmiert.
Kohlenberger: Haben wir überhaupt das gesamte Bild? In der Debatte über die 10-14-jährigen Mädchen wissen wir eigentlich sehr wenig, was dahintersteht. Etwa, wen das Verbot trifft.
Güngör: Wir wissen zumindest, dass die Narrative, warum das Kopftuch aufgesetzt wird, pluraler geworden sind. Wenn man sich die Legitimierung des Kopftuchs in der neueren Geschichte ansieht, dann waren das in erster Linie islamistische Bewegungen, die dafür eintraten, weltweit von Saudi Arabien bis zu den Muslimbrüdern. Auf die Frage, was ihre wichtigste Agenda ist, kam als erstes: Wir wollen die Verschleierung der Frauen. Und danach kommt die Separierung und Unsichtbarmachung der Frauen im öffentlichen Raum. Diese Bewegungen können mit den progressiven Lebensformen, über die wir sprechen, überhaupt nichts anfangen. Ich habe ein Problem damit, dass progressive Menschen, die Minderheiten schützen wollen, reaktionäre Bewegungen, Geisteshaltungen und Symbole innerhalb der Minderheiten unkritisch affirmieren.
Im Regierungsprogramm wird das Kopftuchverbot damit begründet, dass Mädchen in Österreich ohne Zwang aufwachsen und gestärkt werden sollen. Trägt ein Verbot wirklich dazu bei?
Kohlenberger: Historisch stimme ich überein, da wird Weiblichkeit als problematisch markiert, das ist kritisch zu hinterfragen. Empirisch ist die Evidenz, was ein Kopftuchverbot bringt, aber tatsächlich spärlich gesät. Ich glaube, man muss differenzieren. Man kann das Kopftuch als Verhüllungsgebot kritisch sehen, man kann aber das Verbot einer Verhüllung genauso kritisch sehen. Wir müssen uns schon fragen, ob das wirklich ein probates Mittel ist, um einen Zwang, sollte er bestehen, abzuschaffen. Das sehe ich, auch in Bezug auf die verfügbaren Studien, kritisch, weil es Evidenz dafür gibt, dass gerade in patriarchaler geprägten Gesellschaften, wo ein Zwangselement dabei ist, das Kopftuch für die Frau eine Möglichkeit ist, das Einhalten der religiösen Werte zu signalisieren. Sie zeigt dadurch, dass sie sich zum Islam und zu seinen Werten, die ihre Weiblichkeit betreffen, bekennt, und das erlaubt ihr in weiterer Folge, relativ frei an Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Bildungssystem teilzunehmen. Das Kopftuch ist somit also nur das äußere Symbol für einen Zwang, der vielleicht besteht. Ist das Kopftuch aber nicht mehr erlaubt, müssen muslimische Mädchen vielleicht auf andere Weise ihre Zugehörigkeit zum Islam und die Einhaltung der Werte „beweisen.“ Die Forschung zeigt hier Substitutionseffekte, nämlich dass dann die „Überwachung“ durch die Familie tatsächlich stärker werden kann, weil das Kopftuch als sichtbares Bekenntnis wegfällt. Oder auch, dass Mädchen sich vermehrt in eine religiöse Community zurückziehen, weil sie das Bildungssystem als feindlich ihnen gegenüber wahrnehmen und ihre religiöse Identität dort nicht ausleben können. Das Verbot würde damit paradoxerweise nicht zu mehr Integration, sondern zu mehr Segregation führen.
Güngör: Es gibt aber auch den anderen Effekt. Die soziale Kontrolle über Mädchen war immer schon anders als die von Jungs, bei denen es eine Art Richtlinienkontrolle gibt. Da schauen
Eltern nicht wirklich hin. Bei Mädchen gibt es aber eine durchdringende Alltagskontrolle: Wann kommst du von der Schule nach Hause? Mit wem triffst du dich? Wie bist du heute angezogen? Diese Rollendifferenz haben wir generell, bei muslimischen, patriarchalen Gesellschaften sind sie aber viel stärker.
Es stimmt, das Kopftuch ermöglicht Mädchen kleine Freiräume, auf einer Vertrauensebene, weil man ihnen durch das Kopftuch eine höhere Sittsamkeit zuspricht. Die negative Seite ist aber, dass man diesen Mädchen alle möglichen Vorgaben macht, was sie nicht tun dürfen. Ein Mädchen mit Kopftuch, das mit einem Jungen Hand in Hand auf der Straße geht, hört schnell, dass es Schande über die Muslime bringt. Das darf man nicht ausblenden.
Besteht nicht dennoch die Gefahr, dass das Verbot kontraproduktiv ist?
Güngör: Ich finde es so zynisch, dass es die reaktionären Rechten sind, die sich jetzt als die „Emanzen“ darstellen, und behaupten, für die Freiheit der Frauen zu kämpfen, wenn es um Muslime geht. Mir geht es aber um die Ungleichheit bei Genderfragen und ich sehe das Kopftuch als eine der stärksten religiösen Markierungen, die man mit sich tragen kann. Wir sprechen ja von Mädchen im Schulalter, und aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass das eine der prägendsten Phasen für Kinder ist.
Mit dem Kopftuch signalisiert man erstens jedem: ‚Ich bin sehr religiös’ und zweitens geht das Kopftuch ganz stark mit einschränkenden religiösen und kulturellen Sittsamkeitsvorstellungen einher, vom Sportunterricht bis zum Privatleben.
Das ist wie eine Tätowierung, die man Kindern macht. Das finde ich einfach unfair. Junge Frauen können sich später selbst entscheiden, aber Kinder werden da hineingedrängt. Dabei spreche ich nicht von Zwang, sondern von Mädchen, die sagen: Ich tue das, was meine Mutter macht. Das sind die Grauzonen, von denen wir sprechen. Kinder, die ihre Eltern lieben und ihnen deshalb gefallen
möchten.
Gibt es Evidenz, dass Mädchen, die in der Schule Kopftuch tragen, tatsächlich weniger Sozialkontakte haben? Es gibt viele Mythen, aber bislang keine Studie, für die mit den Mädchen selbst gesprochen wurde.
Güngör: Ich halte es für eine politische Unkultur in Österreich, zuerst Entscheidungen zu treffen und dann die Fakten empirisch zu erheben. Das ist ein Problem, weil wir nicht redlich über Themen sprechen können.
Kohlenberger: Ich finde es schade, dass im Regierungsprogramm bereits fix ist, dass das Kopftuchverbot kommt, ohne empirische Evidenz dazu. Das ist sehr problematisch. Denn die Frage ist ja, ob in dem Moment, wo ich das Kopftuch verbiete, die dahinterstehenden Moralnormen und in manchen Fälle Zwänge tatsächlich verschwinden. Da bin ich sehr skeptisch. Vergleichbare Studien aus anderen Ländern zeigen, dass das nicht unbedingt der Fall ist. Außerdem geht es uns nicht um das Kopftuch als ein Stück Stoff, sondern wofür es steht. Um Gebote und Verbote und im Grunde ist es immer der weibliche Körper, der normiert und reglementiert wird. Das halte ich für sehr problematisch, wenn der weibliche Körper immer wieder zur Projektionsfläche wird, wenn auf dem weiblichen Körper symbolische Kämpfe um gesellschaftliche Hierarchien ausgetragen werden. Das haben wir auch bei der immer wieder aufkeimenden Abtreibungsdebatte, wo man genauso sagen könnte, der Staat soll sich generell von der Bestimmung über den weiblichen Körper heraushalten. Das Argument wäre auch hier anzubringen, sowohl in Richtung Islamische Glaubensgemeinschaft, wie auch in Richtung Staat. Zudem haben wir in Österreich ganz konkret die Situation, dass das Kopftuchverbot sehr eng gefasst ist und sich nicht auf die Verfassung und ein darin enthaltendes Gebot der Säkularität beziehen kann wie in Frankreich. Dort ist auch die Kippa in Schulen verboten. In Österreich geht es ganz spezifisch um Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren, denen das Verhüllen der Haare nicht erlaubt werden soll. Das ist eine ohnehin schon von vielen Diskriminierungslinien betroffene Gruppe, die jetzt noch einmal negativ markiert wird. Damit signalisiert man den Jugendlichen, dass sie von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Die Gefahr besteht, dass sie sich extremistischen Strömungen zuwenden, deren Rhetorik damit bestätigt scheint.
Güngör: Es stimmt, dass das Gesetz etwas mit den Jugendlichen macht, aber viel entscheidender ist, mit welcher Geisteshaltung wir das Thema angehen. Muslime spüren schon, ob sie aus einer gehässigen Position angegriffen werden, das so zu sehen, dafür gibt es gute Gründe in Österreich. Ich habe mit vielen Muslimen gesprochen, die ein Kopftuch für Mädchen ablehnen, die aber zugleich der Regierung misstrauen und in der Maßnahme nur die Ablehnung der Muslime bestätigt sehen. Das heißt, es kommt zu einem Re-Solidarisierungseffekt. Die politische Forderung ist von den Falschen gekommen, aber die Richtigen haben das Problem leider nie angegangen. Darin liegt eine Verlogenheit, dass die Linken und Liberalen oft die rechtskonservativsten, islamistischen Bewegungen protegiert haben. Während die Rechten in unserer Gesellschaft sich als die Emanzipiertesten gerieren, wenn es um Muslime geht. Mir kommt das so vor, als wären die Muslime für die Liberalen so etwas wie ein ethnologischer Zoo, wo man sagt, das muss man denen doch lassen. Das ist eine oberflächliche Herangehensweise. Maßstäbe dürfen nicht beliebig sein, wenn es um Grundwerte geht.
Kohlenberger: Durch die Debatte wird das Thema von beiden Seiten immer stärker politisch aufgeladen. Wir tragen auch dazu bei, dass es als mehr wahrgenommen wird als nur ein Tuch. Das Problem dabei ist, dass eine vulnerable Gruppe dadurch ganz stark in den Fokus gerät. Man kann das Problem nicht lösen, indem man einen Zwang gegen einen anderen austauscht. Ich sehe beim geplanten Verbot keinerlei begleitende Maßnahmen im Regierungsprogramm, die aber notwendig wären. Jedes pubertierende Mädchen muss viele Identitäts- und Rollenkonzepte mit sich und anderen ausverhandeln. Egal, ob muslimisch oder nicht. Bei der jetzigen Debatte kann es schon vorkommen, dass sich Mädchen zunehmend von dieser Gesellschaft abgestoßen fühle. Das kann mitunter gefährlichere Folgen haben, als das Kopftuch zuzulassen.
Interessant ist, dass ein Verbot dem nächsten folgt. Als das Kopftuchverbot für den Kindergarten beschlossen wurde, sprach man schon über die Ausweitung bis 14 Jahre. Jetzt wird diese Regelung beschlossen und schon redet man über die Lehrerinnen. Wird das Thema bewusst vorangetrieben?
Kohlenberger: Für mich wirkt das schon so. Bei den Lehrerinnen sprechen wir ja nicht mehr von Kindern, sondern erwachsenen Frauen. Da gibt es Stimmen, die sagen, das käme einem Berufsverbot gleich. Erneut steht eine ganz bestimmte Gruppe im Vordergrund, wir diskutieren ja nicht wirklich darüber, ob die Schule ein säkularer Raum sein soll, sondern wir reden immer von einer ganz bestimmten
Religionsgemeinschaft, und nur von dieser. Aus juristischer Sicht wird es sicherlich interessant sein, ob so ein Verbot für Lehrerinnen umsetzbar ist. Gymnasiallehrerinnen sind ja nicht unterdrückt, sie haben studiert und somit schon rein ökonomisch eine gewisse Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erlangt. Das kann man ihnen ja nicht einfach absprechen. So eine Regelung würde heißen, dass sich Frauen zwischen ihrer religiösen und beruflichen Identität entscheiden müssen. Das ist mit dem Grundsatz der Religionsfreiheit nicht vereinbar.
Güngör: Naja, wir sprechen ja nicht zufällig über Muslime, da gibt es teilweise wirklich eine Fülle von Problemen. Man verbindet mit dem Islam keine progressive Community, da gibt es viele reaktionäre Gesellschaftsbilder. Vielleicht ist das eine Kränkung der Verfechter von Diversität, die darin eine andauernde Weiterentwicklung von Freiheitsräumen und Prosperität sehen. Die werden jetzt von der reaktionären Diversität schmerzhaft wachgeküsst: Wenn jemand einen autoritären Erziehungsstil vertritt, oder wenn es starke anti-westliche Ressentiments gibt, muss man das ansprechen. Diese Auseinandersetzung müssen wir ernsthaft und fair führen. Insofern ist die Debatte über das Kopftuch auch zu kurz gegriffen. Man muss schauen, was dahintersteht.
ZUR PERSON I Kenan Güngör ist Soziologe und Politikberater, u.a. mit Schwerpunkt auf Integrations-, Diversitäts- und Identitätsfragen. Er ist Leiter des sozialwissenschaftlichen Beratungs- und Forschungsbüros „think.difference“ in Wien.
ZUR PERSON I Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf Identitäts-und Repräsentationspolitik. Sie arbeitet zu Fluchtmigration und Integration. Am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien leitet sie das Forschungsprojekt “Women’s Integration Survey: Inclusion, Participation and Enablement of Refugee Women in Austria”, das sich den Integrationswegen geflüchteter Frauen widmet.
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