In diesem Klima ist es schwierig, Reformen voranzubringen
Während die Solidarität innerhalb der Zivilgesellschaft gegenüber Geflüchteten oder Armutsbetroffenen groß ist, lässt diese auf politischer Ebene zu wünschen übrig, beobachtet Klaus Schwertner. Der Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien im Gespräch über multiple Krisen, politische Instrumentalisierungen und über den weiterhin starken sozialen Zusammenhalt in Österreich. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Valentine Auer
K. Schwertner begrüßt, dass Geflüchtete aus der Ukraine frei reisen können. Am Ende des Tages
dürfe aber keine Zweiklassengesellschaft von Geflüchteten und Schutzsuchenden entstehen.
Einmal mehr erleben wir in Österreich eine Unterbringungskrise. Seit Monaten weist die Zivilgesellschaft auf politische Versäumnisse bei der Unterbringung von Geflüchteten hin – auch die Caritas. Von welchen Versäumnissen sprechen wir?
Das System der Grundversorgung ist chronisch unterfinanziert und wäre ohne das enorme Engagement der Zivilgesellschaft schon längst zusammengebrochen. Grund dafür ist eine föderale Solidaritätskrise. Bund und Länder sind gemeinsam für die Basisversorgung von Geflüchteten verantwortlich. Wir leben in einer Zeit multipler Krisen, eine menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten wäre mit einem entsprechenden politischen Willen dennoch möglich. Um die Grundversorgung nachhaltig zu reformieren, braucht es etwa Schnellverfahren für Menschen mit hoher Anerkennungswahrscheinlichkeit, eine gesonderte Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen oder eine sinnvolle Unterstützung der Gemeinden.
Gibt es Möglichkeiten, diese föderale Krise zu durchbrechen?
Es gibt die sogenannte 15a-Vereinbarung, die die Zuständigkeit im Zusammenspiel von Bund und Ländern regelt. Der Bund hat zahlreiche Quartiere geschaffen, während die Länder ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind. Es gibt zwar Unterbringungsquoten für jedes Bundesland, aber nur Wien und das Burgenland erfüllen die Quote. Ich kenne sonst wenige Vereinbarungen, die ohne jegliche Konsequenzen einfach nicht eingehalten werden. Eine weitere historische Konstante, die wir derzeit erleben: Politiker*innen instrumentalisieren das Thema Flucht und Asyl, weil sie glauben, Wählerstimmen damit zu generieren. Das geht so weit, dass mit falschen Zahlen kommuniziert wird. In so einem Klima ist es schwierig, Reformen voranzubringen, da es keine sachlichen Lösungen gibt, sondern populistische Meinungen im Vordergrund stehen.
„Wir sollten darüber nachdenken, ob wir Menschen in Asylverfahren zwingen,
obwohl sie der Arbeit wegen nach Österreich kommen.“
Handlungsbedarf besteht auch bei der privaten Unterbringung, da vor allem Geflüchtete aus der Ukraine oft privat untergebracht werden. Gleichzeitig wird es für private Quartiergeber* innen aufgrund der Teuerungen immer schwieriger, diese Aufgabe zu übernehmen. Welche Lösungen braucht es hier?
Es gab und gibt eine unglaublich große Hilfsbereitschaft und Solidarität. Die Politik darf sich auf dieser Solidarität der Zivilgesellschaft nicht ausruhen. Viele – auch und gerade Betroffene – sind von einer temporären Situation ausgegangen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Nach wie vor flüchten Menschen aus der Ukraine, nach wie vor stellen Privatpersonen Wohnraum zur Verfügung. Nun hat die Regierung einen Initiativantrag für den dringend notwendigen Teuerungsausgleich für private Quartiergeber*innen eingebracht. Das ist ein erster erfreulicher Schritt, der aber noch beschlossen werden muss. Problematisch ist, dass der Teuerungsausgleich nur rückwirkend von März bis Oktober ausbezahlt werden soll. Für eine nachhaltige Flüchtlingsversorgung müssen weitere Schritte folgen.
Gleichzeitig haben ukrainische Geflüchtete mehr Rechte als Geflüchtete aus anderen Drittstaaten, zum Beispiel in puncto Arbeitserlaubnis oder legale Fluchtmöglichkeiten betreffend. Wie nehmen Sie diese Differenzierung wahr?
Ich begrüße es, dass der rechtliche Rahmen geschaffen wurde, damit Geflüchtete aus der Ukraine innerhalb der EU frei reisen können und nicht in die Illegalität gedrängt werden. Ebenso, dass sie rasch eine Arbeitserlaubnis erhalten. Gleichzeitig sehen wir, dass diese Besserstellung auf Unverständnis bei Betroffenen als auch bei Freiwilligen stößt. Aus meiner persönlichen Sicht zeigen diese Maßnahmen den Handlungsbedarf im Asylbereich auf. Werden diese Versäumnisse schrittweise bereinigt, ist das durchaus sinnvoll. Natürlich darf am Ende des Tages keine Zweiklassengesellschaft von Geflüchteten oder Schutzsuchenden in Österreich entstehen.
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NUR ZWEI LÄNDER ERFÜLLEN
DIE UNTERBRINGUNGS
QUOTE: WIEN UND DAS
BURGENLAND.
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Von verschiedenen Seiten wird eine Entflechtung von Asyl und Migration gefordert: Geflüchtete sollen früher Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Integrationsangeboten erhalten, ohne langwierige Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Wie stehen Sie zu so einer solchen Entflechtung?
Asyl und Migration sind strikt zu trennen, da jeweils andere Fragestellungen im Fokus stehen. Natürlich kann es zu Vermischungen kommen, dann sind pragmatische Lösungen gefragt. Klar ist, dass Integrationsmaßnahmen frühzeitig ansetzen müssen, allerdings fehlen finanzierte Angebote. Wir fordern daher, entsprechende Maßnahmen und die Arbeitserlaubnis zumindest für Personen mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit bzw. ab einer gewissen Verfahrensdauer vorzusehen. Warten Geflüchtete jahrelang auf den Ausgang des Asylverfahrens, ohne einer Beschäftigung nachzugehen, wirkt sich das de-integrativ aus. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir Menschen in Asylverfahren zwingen, obwohl sie der Arbeit wegen nach Österreich kommen. Eine Herabsetzung der Kriterien für die Zuwanderung mittels Rot-Weiß-Rot-Karte für besonders gesuchte Berufe kann hier helfen. Nicht zuletzt den Unternehmen, die händeringend nach Arbeitskräften suchen.
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WIR WÜNSCHEN UNS,
DASS DIE „SOZIALHILFE NEU“
GRUNDLEGEND
REFORMIERT WIRD.
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Die Besser- bzw. Schlechterstellung bestimmter Geflüchteter zeigt sich auch beim Thema Außengrenzschutz: Österreich blockierte den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Innenminister Karner begründete das mit der hohen Zahl an Asylanträgen. Wie sehen Sie diese Diskussion?
Das ist ein Beispiel der politischen Instrumentalisierung von Asyl und Flucht. Von dieser aufgeregten Diskussion profitieren vor allem Parteien der Extreme. Geführt wird der Diskurs aber von Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, in der Mitte zu stehen. Gleichzeitig wird ignoriert, dass an den Binnen- und Außengrenzen der EU illegale Pushbacks stattfinden, dass im Mittelmeer nach wie vor Menschen sterben. Damit darf sich Europa nicht abfinden. Wer über den Außengrenzschutz spricht, muss auch über Lösungen für diese dramatische Situation nachdenken. Und wer Schleppern das Handwerk legen will, muss legale Fluchtwege ermöglichen.
Abschließend noch ein Themenwechsel: Sie haben Anfang November den Caritas-Monitor zu Teuerung und Inflation in Österreich präsentiert und einen „armutsfesten Sozialstaat“ gefordert. Welche Maßnahmen braucht es dafür?
Wir wissen, dass der Sozialstaat wirkt. Die Maßnahmen der Politik in der Corona-Krise verhinderten einen massiven Anstieg der Armut in Österreich. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht: Die Rekordinflation belastet die Menschen sehr. Die Schere zwischen Arm und Reich darf nicht weiter wachsen. Die bereits bezahlten Einmalzahlungen sind gut, verpuffen aber schnell. Deshalb sind strukturelle und nachhaltige Lösungen notwendig. Wir wünschen uns etwa, dass die „Sozialhilfe Neu“ grundlegend reformiert wird.
Sie bezeichnen die Caritas als gesellschaftlichen Seismographen. Vor diesem Hintergrund interessiert mich, wie Sie ein weiteres Ergebnis des Monitors einordnen: Acht von zehn Menschen sorgen sich um den sozialen Zusammenhalt in Österreich. Zurecht?
Wir befinden uns in keiner Solidaritätskrise. Aber: Wir erleben, dass mehr Menschen bei uns Hilfe suchen, weil sie vor existenziellen Problemen stehen. Ihr Kühlschrank ist leer, sie können sich das Heizen und Wohnen nicht mehr leisten. Hilfe und Solidarität müssen wachsen, wenn die Not spürbar zunimmt. Das erfordert einerseits strukturelle Solidarität im Sinne politischer Maßnahmen. Andererseits müssen wir alles tun, damit der gesellschaftliche Zusammenhalt weiterhin stark bleibt. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die Not von Geflüchteten gegen die Not von Armutsbetroffenen ausgespielt wird. Wir können diese Krisen nur gemeinsam lösen, indem wir als Gesellschaft enger zusammenstehen statt uns auseinanderdividieren zu lassen.
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