![Foto: Oskar Burger](/img/2b/3b/532e515b5682fb316345/-1.jpg)
„Kindeswohl spielt keine Rolle“
Ende August 2021 war die Abschiebung einer Familie aus Nigeria, die seit acht Jahren in Vorarlberg lebt, bereits eingeleitet. Der Rechtsanwalt Gregor Klammer konnte die Abschiebung in letzter Minute stoppen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell
Wie geht es der Familie heute?
Die Familie befindet sich weiterhin in Österreich, kürzlich hatte mein Kollege die Einvernahme beim BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl). Da wird geklärt, wie es weitergeht, ob ein Gutachter bestellt wird, der die Diagnose Autismus überprüft.
Warum wurde die Abschiebung trotz dieser Diagnose eingeleitet?
Die Diagnose wurde den Behörden erst bekannt, als man die Familie ins Abschiebezentrum gebracht hat. Da bin ich von der Schuldirektorin des betroffenen Kindes kontaktiert worden. Ich habe dann die Behörden informiert und einen Folgeasylantrag gestellt. Das ist so üblich, wenn sich die Situation verändert hat.
Die Familie gilt als sehr gut integriert, spielt das bei Abschiebungen eine Rolle?
Die Integration ist nicht ausschlaggebend. Im konkreten Fall war es so, dass es durch die Geburt der vier Kinder mehrere Aslyfolgeanträge gegeben hat, dann muss jedesmal geklärt werden, ob dieses Kind im Herkunftsland ungefährdet aufwachsen kann. Dadurch geht das Verfahren über mehrere Jahre. Wenn jemand hier jahrelang auf einen Entscheid wartet und es in dem Fall keinerlei Schwierigkeiten gibt, dann liegen die Sympathien sozusagen beim Asylwerber.
Im vergangenen Jahr hat die Kindeswohl-Kommission, geleitet von Irmgard Griss, ihren Abschlussbericht veröffentlicht. Wird das Kindeswohl, obwohl in Verfassungsrang, tatsächlich zu wenig berücksichtigt?
Kindeswohl-Fälle habe ich immer wieder. Das könnte man in der Praxis salopp als „Micky-Mouse-Thema“ bezeichnen. Das interessiert niemanden: nicht die Richter, nicht den Verwaltungsgerichtshof, nicht den Verfassungsgerichtshof. Das ist, als würde man mit der Wand sprechen.
Das klingt dramatisch. Sehen Sie seit der Veröffentlichung des Berichts eine Veränderung?
Schwer zu sagen, ich selbst habe keine Veränderung in der Praxis wahrgenommen. Ich habe gerade einen ähnlichen Fall, eine Mutter aus Georgien mit einem siebenjährigen Kind, das auch eine Entwicklungsstörung hat. Die Mutter lebt seit 11 Jahren in Österreich, ist als Studentin gekommen. Sie hat einen Asylantrag gestellt, ein Aufenthaltstitel wurde ihr aber verweigert.
Wie ist die Situation hier?
Sie spricht fließend Deutsch, hätte ein Angebot für einen Arbeitsvertrag, hat ihr ganzes Erwachsenenleben hier verbracht. Der Fall ihres Sohnes ist nun separat beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Selbstverständlich muß in einem solchen Fall das Kindeswohl eine zentrale Rolle spielen. In der Vergangenheit habe ich das bei nicht-österreichischen Kindern aber nicht erlebt. Positiv ist anzumerken, dass in diesem Fall der Richter zumindest nun bereit war, ein Gutachten zum Gesundheitszustand des Kindes einzuholen – allerdings nur, weil hier eine nicht zu leugnende Entwicklungsstörung vorliegt. Obwohl wir von einem Gesetz in Verfassungsrang sprechen, nach dem bei allen Kindern das Kindeswohl vorrangige Überlegungen genießen muss, gab es bisher in der Praxis bei ausländischen Kindern keine Überlegungen dazu. Wenn man das beim Verfassungsgerichtshof anspricht, wird das, ohne darauf einzugehen, wegen geringer Aussichten auf Erfolg zurückgewiesen. So erlebe ich das in der Praxis.
Gregor Klammer hat in Wien und England Jus studiert. Nach seinem Studium war er in mehreren Wiener Kanzleien tätig und vertrat internationale Mandanten in Großverfahren.
UPDATE: Nach Einholung fachlicher Stellungnahmen hat das BVwG am 23.02.2022 in hauptsächlicher Berufung auf das Kindeswohl - noch nicht rechtskräftig - entschieden, dass dem Kind ein humanitäres Bleiberecht zukommt.
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