Kritik reißt nicht ab
Spricht man „MA 35“ aus, braucht man fast nichts mehr zu sagen. Die Behörde ist seit Jahren wegen beispielloser Missstände im Gespräch. SOS Mitmensch hat geprüft, ob es bereits Verbesserungen gibt. Das Fazit: Ungenügend. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte.
Verschleppte Verfahren, keine Akteneinsicht, keine Rückmeldungen: Das hatte zur Folge, dass
Menschen bereits resigniert haben und etwa keinen Antrag mehr auf Staatsbürgerschaft stellen.
Beginnen wir mit dem positiven Punkt: Der Stadtrechnungshof stellt in seinem jüngsten Bericht fest, dass es durch die bisher erfolgten Maßnahmen zu einer Verbesserung der Gesamtsituation gekommen sei. Vor allem, was die Erreichbarkeit der Behörde betrifft. Die Erreichbarkeit der Behörde? Wer denkt, dass das die Voraussetzung für das Service für Bürgerinnen und Bürger ist, muss sich im Fall der MA 35 geistig kurz neu aufstellen.
Die endlose Geschichte von Missständen dieser Magistratsabteilung, die für ebenso endlose Verfahren bei Einwanderung und Staatsbürgerschaft bekannt ist, grenzt stellenweise an Satire. Es wäre zum Lachen, hätte es für die betroffenen Menschen nicht teils dramatische Auswirkungen.
Im August 2021 berichtete im Ö1-Morgenjournal ein Mitarbeiter anonym aus dem Alltag der Behörde: Dass ab 13 Uhr telefonische Auskünfte möglich wären. Eigentlich. Tatsächlich würden die Telefone die ganze Zeit läuten – abheben würde aber praktisch niemand. Denn es gehe die Angst um in der MA 35: Eine hilfreiche Auskunft durch die Behörde könnte einen „Dominoeffekt“ in Gang setzen. Es würde sich rasch herumsprechen, dass man bei einem Anruf Auskunft erhalten würde. Die Schilderungen des Mitarbeiters waren grotesk ehrlich, sie gingen durch alle Medien.
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DER MA-35-DOMINOEFFEKT: ES
KÖNNTE SICH HERUMSPRECHEN,
DASS MAN HIER BEI EINEM ANRUF
WIRKLICH AUSKUNFT ERHÄLT.
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Und wie rechtfertigte sich die Behörde? Eher mau. Man habe es mit komplexen bundesrechtlichen Gesetzen zu tun, zudem sei die Arbeitsbelastung hoch, weil es an Personal fehlt. Auch Covid mache die Arbeit mühsam. Aber könnten das nicht auch andere Behörden ins Treffen führen? Die Rechtsanwältin Julia Ecker, die an der Erstellung des Berichts von SOS Mitmensch beteiligt war, bringt es auf den Punkt: „Meine Erfahrungen sind kurz gesagt durchwachsen. Vor einiger Zeit habe ich im Scherz einmal gesagt: Bei der MA 35 kann wirklich alles passieren, aber ganz oft passiert auch einfach nichts. Tatsächlich kann man diese Einschätzung leider auch weiterhin aufrechterhalten.“ Der Verdacht, dass eine Behörde gegen ihr eigenes Klientel agiert, steht im Raum. Die Folge ist ein allgemeines Unbehagen, das jemand, der um die Staatsbürgerschaft angesucht hat, so formuliert: „Von der MA 35 wünsche ich mir, nie wieder etwas mit ihr zu tun zu haben. Das ist ein zusätzlicher Grund, warum ich die Staatsbürgerschaft beantrage, weil ich dann als Staatsbürger*in keinen Schritt mehr in diese Behörde setzen muss.“
Auf dem Weg. Wirklich?
Die Liste der Kritikpunkte ist lang und wird von mehreren Seiten bestätigt: von Betroffenen, von Rechtsanwält*innen, von der Volksanwaltschaft und auch vom Rechnungshof. So würden Verfahren verschleppt werden; eingereichte Dokumente wären am Amt nicht mehr auffindbar; die Auskunft würde verweigert bzw. wäre niemand erreichbar; Antragsteller*innen würden herabwürdigend behandelt.
Kritik gibt es auch daran, dass Gesetze oftmals so restriktiv wie möglich auslegt werden, was immer wieder zu unnötigen Härtefällen und Problemen führt. Eine Beratungsstelle spricht etwa von Fällen, bei denen es „in Richtung humanitärer Aufenthalt geht und wo man aus dem Asylrecht ins Fremdenrecht geraten kann. Die MA 35 verzögert das dann noch weiter. Dabei hätte sie die Spielräume, um gnädig zu sein, ist es aber nicht, sondern legt ihre Beurteilung immer in Richtung ‚Nein‘ aus.“ So bestünde zum Beispiel die Möglichkeit, im Bereich des Familienlebens Gesetze so zu interpretieren, dass dem Familienleben ein stärkeres Gewicht zukommt. Doch die MA 35 berücksichtigt das Familienleben kaum. Sie argumentiert bei Erstanträgen sogar, dass es gar kein Privat oder Familienleben gäbe, da die Person bisher noch nicht in Österreich gelebt habe und deshalb keine Zeit mit ihrer Familie verbringen konnte. Eine andere Beratungsstelle weist auf die besonders prekären befristeten Aufenthaltstitel hin. Diese müssen regelmäßig innerhalb einer gesetzlichen Frist verlängert werden. „Verpasst man diese Frist, und sei es nur um einen Tag, fällt die Person in die aufenthaltsrechtliche Illegalität.“ Eine Nachfrist werde nicht gewährt. So ein Neuantrag ist in der Regel mit großen Hürden, etwa einem Antrag aus dem Ausland, verbunden.
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KRITIK GIBT ES DARAN, DASS DAS
FAMILIENLEBEN BEI DER
BEURTEILUNG DER FÄLLE ZU WENIG
BERÜCKSICHTIGT WIRD.
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Erst kürzlich habe eine Person, die gesundheitlich stark beeinträchtigt ist, so eine Härte erlebt. Weil sie es nicht geschafft hat, rechtzeitig den neuen Antrag auf Verlängerung einzureichen, verlor sie mit einem Schlag ihre Ansprüche auf Sozialleistungen sowie ihre Aufenthaltsgenehmigung. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als um ein humanitäres Bleiberecht anzusuchen – Ausgang ungewiss.
Eine andere Beratungsperson berichtet von Frauen, denen jahrelang von ihren Männern erzählt wurde, dass ihr Aufenthaltstitel allein von ihnen (den Männern) abhängig sei. Diese Frauen wissen nicht, welche Auflagen sie erfüllen müssen, und dass sie eigenständig Anträge auf Staatsbürgerschaft oder Daueraufenthalt stellen können. Auch das wäre Aufgabe eines Amtes, diese Informationen so transparent wie möglich bereitzustellen.
C. Wiederkehr hat einen Reformprozess in Gang gesetzt. Doch einiges ist Kosmetik, tiefgreifende
Schritte fehlen. Immerhin positiv anzumerken: dem Stadtrat wird ein Problembewusstsein attestiert.
Fünf Punkte geprüft
Christoph Wiederkehr hat als Stadtrat, der auch für Integration zuständig ist, also ein schweres Erbe angetreten. Er selbst hatte zuvor die Zustände der Magistratsabteilung kritisiert, frisch im Amt wollte er diese rasch verbessern. Das bestätigte er auch in einem Gespräch, das SOS Mitmensch Mitte 2021 mit ihm geführt hat. Ab Herbst 2021 sollte es schrittweise zu Reformen kommen. In Kooperation mit der in Wien ansässigen externen Unternehmensberatung „Pure Management Group“ plante man einen Organisationsentwicklungsprozess, der Ende 2024 abgeschlossen sein soll.
Seither ist ein Jahr vergangen. Wie hat sich die Situation verändert? SOS Mitmensch hat fünf Punkte geprüft: die Verfahrensdauer, die Kommunikation und Serviceorientierung, die Digitalisierung der Behörde, das Auftreten der Mitarbeiter*innen und die Praxis der Auslegung der Gesetze.
Zur Verfahrensdauer: Die Volksanwaltschaft hat mehrfach eine unangemessen lange Dauer der Verfahren kritisiert. Ein Großteil der Beschwerden, die bei ihr eingehen, betrifft dieses Problem und die damit verbundenen organisatorischen Mängel. In den meisten Fällen musste die Volksanwaltschaft sogar feststellen, dass die MA 35 über längere Zeiträume gar keine Verfahrensschritte gesetzt hatte. Gründe konnte sie dafür nicht nennen. Zum Teil wurden einfach keine Entscheidungen getroffen, obwohl alle Unterlagen vorhanden waren. Nach Wahrnehmung der Volksanwaltschaft hat sich seit dem Jahr 2010 nichts an dieser Situation geändert, der Bericht ging 2021 an den Wiener Landtag. Im Jahr 2021 wurde das Magistrat um 50 Dienstposten aufgestockt. Laut MA 35-Abteilungsleiter Georg Hufgard-Leitner solle das die Belastung der Mitarbeiter*innen reduzieren. Durch den Ukrainekrieg käme es aber erneut zu einer erhöhten Anzahl an Anträgen und Verzögerungen. Zusätzliche Aufstockungen würden vorbereitet. Wann, wie viel bleibt unklar.
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ES SOLLTE EINEN ELEKTRONISCHEN AKT
GEBEN, DER JEDERZEIT IM INTERNET
EINSEHBAR IST UND AUSKUNFT ÜBER
DEN VERFAHRENSSTAND ERMÖGLICHT.
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Um sich ein Bild zu machen, hat SOS Mitmensch selbst das Onlinebuchungssystem getestet und mehrmals um einen Ersttermin für die Staatsbürgerschaft angesucht. Mehrere Versuche im Zeitraum von einigen Wochen ergaben Wartezeiten von sieben bis elf Monaten. Das bedeutet, das Verfahren verlängert sich schon, obwohl vor dem Ersttermin noch gar keine Dokumente eingereicht werden können. Gründe kann die MA 35 nicht nennen. Sie erklärt dazu, dass sich die Verfahrensdauer zur Erlangung der Staatsbürgerschaft – inklusive Zurückweisungen, Abweisungen Zusicherung und Verleihung – aus EDV-technischen Gründen nicht auswerten lässt. Dass die Verfahren kompliziert sind, wie Abteilungsleiter Hufgard-Leitner argumentiert, ist glaubhaft. Doch das gilt wohl auch für viele andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung. Die Gefahr, dass Menschen ihren Job verlieren, weil sie die gültige Aufenthaltskarte nicht fristgerecht nachweisen können, ist evident. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dementsprechend kritisch beurteilen das die Rechtsvertretungen. „Ich habe keine andere Behörde österreichweit erlebt, die vergleichbar rechtsverweigernd tätig ist und Verfahrensgrundsätze missachtet bzw. um das Vielfache überschreitet“, lautet eine Stellungnahme zu den Säumnissen. Das legt nahe, dass es nicht um die Fehlleistung Einzelner geht, sondern um das strukturelle Versagen der Behörde.
Beim Selbsttest bestätigt: horrend lange
Wartezeiten allein für den Ersttermin.
Forderungen
Die Kommunikation wurde digitalisiert, läuft aber nicht optimal. Die neu eingerichtete Service-Hotline ist zwar erreichbar. Allerdings kann der telefonische First-Level-Support nur niederschwellige Auskünfte erteilen. Zugriff auf Unterlagen hat er nicht. Die vorgeschaltete Stelle wirkt deshalb wie Kosmetik. Das gilt für alle Problemfelder. Deshalb die Forderung von SOS Mitmensch: Erstens braucht es eine relevante personelle Aufstockung, um die überlangen Verfahrensdauern zu reduzieren und die Kommunikation zu gewährleisten. Zweitens muss die Erreichbarkeit als zentrale Funktion der Behörde weiter verbessert werden. Drittens: Die Website muss klar gestaltet sein. Der Ersttermin sollte nicht verpflichtend sein, sondern zur Auskunft für alle dienen, die das wollen. Über mögliche Fallstricke wie etwa Einkommensnachweise muss aktiv informiert werden. Viertens: Es sollte einen gläsernen Akt geben, der im Internet jederzeit einsehbar ist. Fünftens: Die Mitarbeiter*innen müssen besser geschult werden, auch um Schikane zu verhindern. Sechstens: Die Auslegung der Gesetze sollte zugunsten der Antragsteller*innen ausgelegt werden – und nicht gegen sie. Die MA 17 oder das „International Welcome Center“ in Heidelberg können als Vorbild dienen. (red)
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