
Kulturelle Aneignung in all ihren unschönen Fassetten
Spätestens nach den Black Lives Matter-Protesten 2020 hat die Debatte rund um Cultural Appropriation auch den deutschsprachigen Mainstream erreicht. Während manche dahinter einen Auswuchs falsch verstandener Political Correctness orten, nimmt die Problematik mit der kulturellen Aneignung in Zeiten von QAnon und Querdenkern längst neue, immer bizarrere Formen an. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Tori Reichel
Bei aller Liebe zum Anti-Rassismus: Spätestens beim Thema Cultural Appropriation scheint der Bogen einiger vermeintlich geduldiger weißer Menschen dann doch überspannt, und die Grenze zum Lächerlichen in ihren Augen endgültig erreicht. Einigermaßen lächerlich sind die Beispiele, anhand derer die mediale Debatte rund um kulturelle Aneignung hierzulande geführt wird, dabei tatsächlich oft. Wenn österreichische und deutsche Medien – auch jene, die man allgemein als Qualitätsmedien bezeichnet – zum Thema Cultural Appropriation berichten, dann wird die Thematik meist schon in der Aufmachung mit einer subtilen Note Belanglosigkeit versehen.
Aktuelles Schlagzeilen-Beispiel vom April 2021: Justin Bieber trägt seine Haare (mal wieder) als Dreadlocks auf Instagram zur Schau – und Leute mit viel Freizeit regen sich im Internet darüber auf, dass er sich damit ein Symbol Schwarzer Kultur angeeignet hat. Man weiß dann eigentlich schon im Vorhinein, was einen in den dazugehörigen Kommentarspalten erwartet: Nämlich teils verständnislose, teils überheblich-hämischen Ergüsse vorwiegend weißer Mitbürger*innen. Grundtenor: „Dann sollen sich die Schwarzen aber bitte auch nicht mehr die Haare glätten.“
Gerade auch Leute aus einer liberaleren Schicht zeigen sich oft entgeistert von der Kritik an der weißen Aneignung fremder kultureller Symbole. Kulturen würden sich doch von jeher gegenseitig beeinflussen, heißt es dann. Wo solle das alles am Ende des Tages hinführen, wenn nicht zur homogenen Reinkultur? Das sei doch letztlich genau das, was auch die extremen Rechten wollen!
Man tut sich augenscheinlich schwer, die eigene Machtposition in dieser Debatte überhaupt wahrzunehmen. Jedenfalls funktioniert die romantische Vorstellung von einer Welt, in der Kulturen harmonisch ineinander verschwimmen, aus privilegierter, weißer Perspektive offensichtlich wesentlich reibungsloser und schneller, als aus dem Blickwinkel jener marginalisierten Gruppen, die in der Realität in dieser Welt bis heute nicht auf Augenhöhe mitgestalten können.
Justin Bieber mit Dreadlocks. Was steht dahinter?
Neue Generation, neues Bewußtsein
Spätestens mit den Black Lives Matter-Protesten im Jahr 2020 und der davon losgetretenen, breiteren Debatte rund um mehr Repräsentation hat das Thema der Kulturellen Aneignung hierzulande den Mainstream erreicht.
In den vorangegangenen Jahren war das Bewusstsein dafür von einer Generation vorangetrieben worden, die sich via Social Media immer stärker auf das koloniale Erbe sensibilisiert, das sie tagtäglich umgibt, und die sich den Symptomen dieses Erbes am liebsten sofort komplett entledigen würde – manchmal sicher auch mit einem gewissen Übereifer, in dem diese Symptome mehr Aufmerksamkeit bekommen, als die tieferliegenden Probleme dahinter.
Tatsächlich machen Menschen aus unterschiedlichsten kulturellen Backgrounds aber schon seit Jahrzehnten darauf aufmerksam, wie Symbole ihrer Kultur und Spiritualität von einem alles kommerzialisierenden westlichen Mainstream vereinnahmt und verfremdet werden, ohne den Urheber*innen auch nur annähernd angebrachte Anerkennung entgegenzubringen, geschweige denn ihnen einen fairen Teil der daraus entstandenen Profite zuzusprechen.
Westlicher Mainstream und Profite
Gerade wenn es um Popkultur geht, sprechen wir in der Debatte fast immer explizit über das Aneignen Schwarzer Kultur – sei es Sprache, Frisuren, Dance Moves oder die Musik selbst. Was von jeher als primitiv abgewertet wurde, wird immer wieder just zu dem Zeitpunkt akzeptabel, an dem weiße Künstler*innen und die Geschäftsmenschen im Hintergrund damit Geld verdienen können.
Das kommerziell genießbare Endergebnis ist im Normalfall nicht nur seiner Ecken, Kanten und künstlerisch verarbeiteten Diskriminierungserfahrungen beraubt, sondern auch seiner kulturellen Subtexte – teilweise weil die Nachahmer*innen sie als störend empfinden, teilweise weil sie die Wichtigkeit dieser Subtexte gar nicht erst verstehen oder ihnen die Erfahrungen fehlen, um diese überhaupt zu entziffern. Das wiederum liegt sicher mit daran, dass ihre Anknüpfungspunkte zu authentischer Schwarzer Kultur selbst bei sehr viel Wohlwollen in der Realität oft überschaubar sind. Der Soziologe Akwugo Emejulu drückte es im „Guardian“ 2019 so aus: „Für weiße Hipster ist Schwarze Kultur etwas, das man konsumieren will ohne direkt damit in Kontakt kommen zu müssen.“
Die „Reinkultur“ der Rechten
Die vorhin erwähnte extreme Rechte, die einst so auf ihre Reinkultur bedacht schien, ist im Übrigen mittlerweile ganz vorne dabei, wenn es darum geht, die kulturellen Ideen von Minderheiten zum eigenen Vorteil zweckzuentfremden. Sneaker-tragende Identitäre und Wahlkampf-Raps von Heinz-Christian Strache sollten dabei nur Vorboten für das darstellen, was sich in Tagen der Pandemie abspielt: Um sich selbst als Opfer der Obrigkeiten zu inszenieren, bedienen sich White Supremacist-Gruppen heute in vielfältiger Weise der Widerstandsrhetorik, die marginalisierte Communities aus gutem Grund und aus echter Unterdrückung seitens staatlichen Institutionen heraus entwickelt haben, und verwandeln diese Rhetorik in weiterer Folge in eine wahre Shitshow.
Der vielleicht bizarrste, mindestens aber berühmteste Auswuchs dieser Entwicklung ist wohl Jacob Chansley – jener als „Schamane“ verkleidete Trump-Unterstützer, der nach dem Sturm auf das US-Kapitol im Januar 2021 in gefühlt jeder Social Media-Timeline der Welt war. Chansley, der sich selbst Jake Angeli nennt, hatte es bereits lange vor dem 6. Januar in nationale und internationale Medien geschafft und dabei „Make America Great Again“-Rhetorik mit einer hochgradig wirren Eigeninterpretation peruanisch-indigener Schamanenkultur vermischt. Die Authentizität seiner spirituellen Praktiken tendiert laut peruanischen Communities zwar gegen Null, dennoch ist der Kapitol-Schamane ein lebendes Mahnmal dafür, welche Dreistigkeit kulturelle Aneignung in den seltsamen, verschrobenen Zeiten von QAnon und Querdenker*innen erreicht hat.
Ausdruck der Entkolonialisierung
Was all das veranschaulichen soll: Cultural Appropriation nimmt die unterschiedlichsten Facetten an, und das einzige, das all diese Facetten gemeinsam haben, ist, dass sie den betroffenen Communities auf diversesten Ebenen mehr Schaden zufügen, als den Nutznießer*innen überhaupt bewusst zu sein scheint.
Auf diese Tatsache hinzuweisen, hat nicht das Geringste mit einer Forderung nach Reinkulturen zu tun. Dass gerade auch Subkulturen wie Reggae oder Hip-Hop als Werkzeuge der Entkolonialisierung wirkten und wirken, Schwarze Kultur für ganze Generationen junger weißer Menschen greifbarer gemacht und dabei vieles an rassistischer Entmenschlichung dekonstruiert haben, ist im Übrigen wohl niemandem besser bewusst, als den Schöpfer*innen dieser Subkulturen selbst. All das kann aber nur funktionieren, solange marginalisierte Gruppen zumindest die Deutungshoheit über ihre kulturellen Kreationen haben und diese nicht zu seelenlosen, gut verkaufbaren Hüllen verkommen lassen müssen.
In der Realität sind jedoch heute noch selbst die diskursweisenden Stimmen, die im Internet die Hoheit darüber beanspruchen, was kulturelle Aneignung ist und was nicht, und wie mit jenen verfahren werden soll, die diese Grenzen überschritten haben, sehr oft weiße Stimmen. Und verkürzt geführte Debatten darüber, wer mit welcher Frisur was falsch gemacht hat, werden am Ende des Tages sehr viel weniger helfen, als über die strukturellen Missstände zu sprechen, die dem Phänomen der kulturellen Aneignung eigentlich zugrunde liegen.
Cultural Appropriation bleibt bis dahin der tagtägliche Ausdruck systemischer ökonomischer Ausbeutung nicht-weißer Menschen. Die Dynamiken dahinter werden wohl noch weiterbestehen, nachdem Justin Bieber seine Dreadlocks ausgekämmt und der Kapitol-Schamane seine Haftstrafe abgesessen hat. Einfache Lösungen für tiefgreifende strukturelle Probleme gibt es nicht, und hunderte Jahre an systemischem Schaden aufzuarbeiten, dauert.
Aber diejenigen, deren kulturelles Eigentum da die ganze Zeit schamlos verwendet wird, müssen dieses ungleiche Machtverhältnis in der Zwischenzeit nicht wortlos hinnehmen. Und das wiederum bedeutet, dass eine weiße Mehrheitsgesellschaft wohl so lange mit der Kritik an diesen Ungleichheiten leben muss, bis sie wirklich gewillt ist, sich schonungslos mit ihrem eigenen Erbe zu konfrontieren.
Tori Reichel ist freier Journalist und Moderator. Seine Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Gesellschaftspolitik und Pop- bzw. Subkultur. Er war Redakteur für Vice Austria und schrieb u.a. für Die Zeit. Er ist Host von AUX, einem wöchentlichen Musik- und Popkultur-Magazin auf A1Now.
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