Landgrafen von heute
Brot und Rosen – für besseren Lohn und ein gutes Leben. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kolumne: Martin Schenk
Einen Korb voller Brot brachte Elisabeth die Stiegen hinunter. Heimlich. Es war ihr von der Herrschaft verboten worden, Leuten in sozialer Not Essen zu bringen. Sie trat in den Hof, blickte vorsichtig nach allen Seiten und wollte durch das Tor rasch ins Freie entschwinden. Da sprangen zwei Wachen aus der Dunkelheit hervor und hielten sie auf. Die Soldaten zwangen Elisabeth das Tuch über dem Brot zu lüften, um zu kontrollieren, was die junge Frau da verdächtig mit sich trug. Doch der Korb war voller Rosen. Elisabeth durfte weitergehen. Das Brot kam zu denen, die es benötigten. Seit dieser Geschichte aus der mittelalterlichen Grafschaft Thüringens sind Brot und Rosen miteinander verbunden. In den USA organisierten sich vor 100 Jahren Näherinnen mit dem Ruf „Wir brauchen Brot, aber wir brauchen die Rosen dazu“. 20.000 Textilarbeiterinnen kämpften in Massachusetts für besseren Lohn und ein gutes Leben. Brot steht für die existentiellen Lebensmittel, für Materielles, für Existenzsicherung, Einkommen, leistbares Wohnen, Arbeit. Die Rosen weisen auf die Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht – wie Anerkennung, Musik, Freundschaften oder Vertrauen.
Um das geht es auch heute. Hunderttausende sorgen sich um ihre Jobs, Hunderttausende kommen mit dem schlechten Lohn nicht über die Runden. Wohnen ist unleistbar und das soziale Netz der Mindestsicherung wurde zerschnitten. Das ist wie bei Elisabeth von Thüringen, der von der Herrschaft verboten wurde, Brot zu bringen. Und die Corona Krise macht sichtbar, unter welchen Folgen Menschen am meisten leiden, wenn sie der Rosen beraubt sind: Einsamkeit, Schlafprobleme, Erschöpfung. Die Rosen machen die Welt lebendig. Sie gestalten unseren Alltag der Weltbeziehungen. Die Zeit nach Corona hat jetzt schon begonnen. Die Landgrafen von heute versuchen das Arbeitslosengeld zu kürzen, Notstandshilfe abzuschaffen, in die soziale Sicherung einzuschneiden, sozialen Fortschritt zu blockieren. Elisabeth geht mit ihrem Korb weiter. Und die Näherinnen aus Massachusetts singen ihr Lied vom Brot und von den Rosen.
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