
Marshmallows und die süßen Verhältnisse
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Disziplin und Selbstkontrolle galt lange als zentrales Ziel für pädagogisches Handeln. Das ist aber falsch. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Eine Süßigkeit liegt am Tisch vor Dir. Du bekommst eine zweite, wenn Du zehn Minuten wartest. Das ist die Versuchsanordnung des berühmt geworden Marshmallow Experiments mit vierjährigen Kindern. Wartet das Kind 10 Minuten bis der Forscher wieder den Raum betritt, darf es beide Süßigkeiten essen. Kann es nicht so lange warten und langt gleich zu, verliert es den Anspruch auf seine Belohnung in Form des zweiten Marshmallows. Manche Kinder aßen das Stück gleich auf, andere später, manche gar nicht. Das Ergebnis des Versuchs aus den 60er Jahren: Diejenigen, die auf das zweite Stück Süßigkeit warten konnten, sind später beruflich erfolgreicher, klüger und sozial stabiler. Daraus wurde jahrzehntelang die Theorie abgeleitet, dass Disziplin und Selbstkontrolle das zentrale Ziel für pädagogisches Handeln sei. Eine schöne Geschichte. Sie ist aber falsch.
Der Entwicklungspsychologe Tyler Watts von der New York University hat die alten Befunde jetzt mittels einer landesweiten neuen größeren Stichprobe untersucht. Die Gruppe wurde repräsentativer für die allgemeine Bevölkerung in Bezug die soziale Herkunft sowie Bildung der Eltern ausgewählt. Die Forscher kontrollierten auch das Einkommen des jeweiligen Haushalts. Das Ergebnis: Die Verbindung zwischen Willensstärke des Kindes und späterem Erfolg gibt es nicht. Es lassen sich aus dem Warten-Können höchstens 10 Prozent der Leistungsunterschiede zwischen Jugendlichen ableiten, die übrigen 90 Prozent gehen auf andere Bedingungen zurück. Wenn der familiäre Hintergrund herausrechnet wird, sagt die erreichte Wartezeit des Kindes überhaupt nichts mehr über seine Leistungen und Verhalten im späteren Alter aus.
Der Marshmallow-Test aus den 60er Jahren hatte den sozialen Status der Familie nicht ausreichend beachtet. Er hatte ausschließlich Kinder untersucht, deren Eltern an der Stanford Universität beschäftigt waren. Kinder, die aus einkommensschwächeren Familien kommen, neigen dazu, den ersten Marshmallow sofort zu essen. Kinder ärmerer Familien warteten vor allem deshalb nicht auf den zweiten, weil sie im Gegensatz zu den reicheren Kindern im alltäglichen Leben nicht wussten, ob der zweite Marshmallow überhaupt kommt. Sie mussten ihr Bedürfnis sofort befriedigen, weil sie von einem unsicheren Alltag geprägt sind. Bei Kindern wohlhabender Eltern wiederum hatte es keinen Einfluss auf den späteren Erfolg, ob sie den Marshmallow nun aßen oder nicht. Jene, die sich nicht selbst beherrschen konnten, waren nicht weniger erfolgreich als jene, die sich beherrschen konnten. Selbstkontrolle allein entscheidet also nicht, ob man später erfolgreich ist - ausschlaggebend ist der soziale Hintergrund. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse sind mächtig, wenn es um die Chancen von Kindern geht, - sie zu verändern ein Schlüssel für eine bessere Zukunft.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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