
Dr. Kohlenberger: „Wahlrecht und Einbürgerung können Katalysator für Integration sein"
Die Migrationsforscherin und Kulturwissenschaftlerin Dr. Judith Kohlenberger sieht in der Wahlausschluss-Politik eine demokratiepolitisch problematische Entwicklung mit negativen Auswirkungen auf Integrations-Perspektiven. Im Folgenden ihr Statement zur Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch:
Österreich ist klassisches Einwanderungsland
„Schon aufgrund der geographischen Lage, lange am Eisernen Vorhang und generell in der Mitte Europas, ist Österreich von jeher ein klassisches Einwanderungsland. Das ist aber nie wirklich Teil des nationalen Selbstverständnisses geworden. Bis vor kurzem hatten wir nicht einmal ein Integrationsgesetz, das ich zwar auch nicht unkritisch sehe, aber noch problematischer finde ich die Tatsache, dass es lange gar keinen strukturellen Rahmen gab, der festhält, wie man sich Integration vorstellt, welche Rechte und Pflichten Ankommende haben. Damit in Zusammenhang stehend sind Zugehörigkeitsdebatten. Was ist überhaupt dieses „Österreichisch-Sein“? Wer ist Österreicher*in? Was ist die österreichische Identität? Wie leicht wird man in diese Gesellschaft reingelassen, oder wird man aus wesentlichen Bereichen für immer ausgeschlossen? Hinzu kommen politstrategische Motive gewisser Parteien, die meinen, es würde sie Stimmanteile kosten, wenn mehr Menschen in diesem Land wählen dürfen.
Wahlausschluss führt zu Verzerrung
Die fehlende demokratiepolitische Inklusion berührt nicht nur Legitimitäts-Aspekte unserer Demokratie. Sie hat auch direkte und indirekte Auswirkungen auf die Inhalte, die in der österreichischen Politik gespielt werden. Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft und ohne Wahlrecht sind keine relevante Zielgruppe für Parteien, egal wo im politischen Spektrum sie sich bewegen. Damit meine ich nicht die fälschlicherweise oft v.a. von rechten Parteien getroffene Annahme, dass Migrant*innen eher links wählen würden. Das ist eine nicht zulässige Ableitung, zu der es keine empirischen Evidenzen gibt. Wozu eine Minderung des Wahlausschlusses aber führen würde, ist, dass sich dann alle Parteien, egal wo im politischen Spektrum, mit Menschen befassen müssten, die ihre Wurzeln nicht in Österreich haben. Zumindest müsste sich jede Partei grundsätzlich einmal die Frage stellen, ob sie auch für diese wachsende Gruppe von Menschen Themen anbieten und eine politische Heimat sein will oder nicht. Menschen mit Migrationsbiographie ließen sich einfach nicht mehr so leicht ignorieren, wenn sie wahlberechtigt wären. Außerdem führt der Wahlausschluss aus demokratiepolitischer Hinsicht nicht nur dazu, dass die „heimische“ Bevölkerung, sondern auch ältere Menschen überrepräsentiert sind, was z.B. mit Blick auf die Klimakrise nicht ideal ist. Und die ländliche Bevölkerung ist teilweise sogar massiv überrepräsentiert. Das ist eine klare Verzerrung.
Fehlendes Wahlrecht hat emotionale Folgen
Für Personen, die vom Wahlausschluss betroffen sind, ergeben sich ganz konkrete Folgen: Ohne Wahlrecht ist man vielleicht Mitglied einer wirtschaftlichen oder sozialen Gemeinschaft, aber kein vollwertiges Mitglied einer politischen Gemeinschaft, das fehlt den Menschen. Keine Stimme zu haben ist auch auf der emotionalen Ebene nicht trivial. Es kann das Gefühl verstärken, auch im Alltag nichts zu sagen zu haben und sich z.B. bei Ablehnungs- und Marginalisierungserfahrungen zur Wehr setzen zu können. Es gibt mittlerweile unzählige Integrationsmodelle, die politische Partizipation ist aber in fast allen Modellen eine zentrale Säule. Die politische Integration ist also wesentlich, aber diesen Pfad lässt man Neuankommende nicht zu Ende gehen, wenn die Einbürgerung schwierig gestaltet oder teilweise gänzlich verunmöglicht wird, etwa durch finanzielle Hürden, weil damit das aktive und passive Wahlrecht einhergeht. Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren, aber diese unterschiedlichen Möglichkeiten stehen in Korrelation. Das Wahlrecht geht oft Hand in Hand mit anderen Formen der politischen Partizipation – bin ich nicht wahlberechtigt, engagiere ich mich auch weniger in anderen Formaten.
Rechtzeitige Einbürgerung als Katalysator für Integration
Es wird häufig so getan, als ob die Einbürgerung am Ende eines Integrationsprozesses kommen müsste, als „Krone der Integration“. Dabei zeigen großangelegte Makrodaten-Studien, dass die Einbürgerung die Integration, gemessen anhand wirtschaftlicher Integration, also Erwerbsquote oder Einkommen von Migrant*innen, als auch betreffend sozialer Inklusion, beschleunigen kann. Die Einbürgerung kann also ein Katalysator für Integration sein, aber nicht, wenn sie erst nach 10 Jahren oder später erfolgt, weil dann verpufft dieser Effekt, sondern etwa 5 Jahre nach dem Ankommen. Das scheint mir ein guter Zeithorizont zu sein und mehrheitsfähig in Österreich. Die Einbürgerung und vor allem das Wahlrecht zu haben macht es eben spürbarer, dass einen dieses Land jetzt etwas angeht, es stärkt das Commitment, sich hier einzubringen. Sinnvoller als Neuankommenden die Einbürgerung wie eine Karotte vor die Nase zu halten und als Belohnung einzusetzen, wäre es also, sie als Beschleuniger für Integrationsprozesse, die ja im allgemeinen Interesse sind, zu nutzen.
Ökonomische Selektion unterbinden
Einbürgerung muss leichter gestaltet werden. Doppelstaatsbürgerschaften sollte man wieder zulassen, das ist ganz zentral. Außerdem muss die ökonomische Selektion unterbunden werden, die derzeit bei Einbürgerungen stattfindet, da finanzielle Barrieren bestehen.“
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