
Neuanfang auf der „Festung"?
Ende September trafen sich die Innenminister Maltas, Italiens,
Deutschlands und Frankreichs, um einen Schritt zu einer etwas humaneren Flüchtlingspolitik zu tun. Wohin die EU in dieser Frage insgesamt steuert, ist offen. Pläne gibt es einige. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte.Text: Philipp Saure
Das Fort St. Angelo auf Malta ist eine wuchtige Burg mit hohen Mauern. Sie liegt in Vittoriosa gegenüber der Hauptstadt Valletta und schaut aufs Mittelmeer: Dorthin, von wo immer wieder Schiffe mit Menschen eintreffen, die in Nordafrika ihre gefährliche Reise in die EU angetreten haben. St. Angelo könnte ein Sinnbild sein für die oft beschworene „Festung Europa“. Tatsächlich wurde genau hier Ende September, bei einem Treffen der Innenminister Maltas, Italiens, Deutschlands und Frankreichs, ein Schritt hin zu einer Flüchtlingspolitik getan, die etwas humaner sein sollte. Wohin die EU in dieser Frage insgesamt steuert, ist zum Jahresende zwar offen – es gibt aber Ideen und Ansätze.
Wie wenig menschlich die EU-Asylpolitik im Sommer 2019 konkret aussehen kann, hat Muheddine Adam Hosine Marmar, der als Kurznamen „May“ angibt, am eigenen Leib erfahren. May floh aus dem Sudan über den Tschad nach Libyen, gibt ein Übersetzer Mays Worte Anfang September in Valletta wieder. Dort sei er in einem der berüchtigten Gefangenenlager gelandet, wo man ihn gequält habe, damit seine Familie Lösegeld zahle. „Er hatte überhaupt nicht erwartet, in seinem Leben so etwas Schlimmes zu erfahren“, sagt der Übersetzer. Als May später in einem Schlauchboot mit rund 60 Gefährten von Libyen aus Richtung Europa habe fliehen können, habe der Grenzschutz sie mit Schüssen versucht zu stoppen. Doch sie hätten eher sterben wollen.
Im Mittelmeer wurden sie gerettet, berichtet der schmächtige 28-Jährige. Doch auf Malta und damit in der EU angelangt, sei er erneut für 47 Tage eingesperrt worden. Das Essen im Lager Safi habe gerade zum Überleben gereicht, Wasser hätten sie aus dem Kran im Bad getrunken. In Notfällen hätten sie Bewusstlose selbst zum Raum der Wärter tragen müssen. Nun lebe er im Lager Hal Far, erzählt May via Übersetzer. Es liegt unweit des Flughafens zwischen Brachen hinter einer Mauer. “Kein anständiger Ort”, fasst er zusammen.
Einen Tag nach dem Interview mit dem jungen Afrikaner haben die Innenminister vierer Länder auf St. Angelo einen Mechanismus vereinbart, um auf dem Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge zügig anzulanden und zu verteilen, damit sie nicht wochenlang auf See warten müssen (dieses Schicksal war May erspart geblieben). Für den deutschen Ressortchef Horst Seehofer war es ein Auftakt und Signal. “Man darf bei wichtigen Fragen wie der Migration nicht warten, bis alle 27 einer Meinung sind.“ Aus der Koalition der Willigen sollte eine Dynamik erwachsen, um in der Flüchtlingspolitik zu umfassenden Lösungen zu kommen. Auch Rettungsorganisationen und Politiker aus dem linken Spektrum priesen den Mechanismus als Schritt in die richtige Richtung.
Verhärtete Positionen
Aber an ihm offenbart sich, wie hart die Positionen weiter aufeinanderprallen. Nicht nur, dass sich beim regulären EU-Innenministerrat Anfang Oktober in Luxemburg kein einziger weiterer EU-Staat zur Teilnahme verpflichten wollte. Vielmehr ist für andere Akteure der Malta-Mechanismus sogar ein Schritt in die falsche Richtung. Denn der Mechanismus sehe die Umverteilung aller Asylsuchenden vor und könnte daher zu einem „Pull-Faktor“ und einem Missbrauch des Asylsystems führen, erklärt Petr Janousek, Sprecher der Ständigen Vertretung Tschechiens bei der EU in Brüssel. Das würde den wirklich Schutzbedürftigen schaden. Der Mechanismus sende ein „falsches Signal“ eines für alle Afrikaner offenen Europas, glaubt auch der Europaabgeordnete Balázs Hidvéghi von Fidesz, der Partei des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán. Davon verführt, könnten weitere Tausende Menschen ihr Leben auf dem Weg nach Europa riskieren, warnt Hidvéghi.
Was für den zahlenmäßig eher kleinen Fall der Bootsflüchtlinge im zentralen Mittelmeer gilt, gilt erst recht bei der Großbaustelle der EU-Flüchtlingspolitik: Dem Streit um Aufnahmequoten, die für alle Asylsuchenden, für alle Mitgliedstaaten und verbindlich gelten würden. Das Europaparlament hat solche Quoten auf Basis eines Vorschlags der scheidenden EU-Kommission bereits 2017 angenommen. Auch die im Mai neu gewählte SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath steht zu verbindlichen Quoten, wenn Freiwilligkeit nicht reiche, und zieht einen Vergleich zur Frauenpolitik: „Es klappt, wo es Quoten gibt.“ Im Ministerrat, der die EU-Regierungen vertritt, hat man sich aber nie einigen können. Als Hauptgegner gelten die Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei. Petr Janousek von Tschechiens EU-Botschaft erklärt, Umverteilung solle immer nur als „komplementäre und freiwillige Form der Solidarität mit Mitgliedstaaten unter heftigem Migrationsdruck“ angesehen werden. „Wir lehnen Quoten ab“, sagt der ungarische Fidesz-Abgeordnete Hidvéghi.
Neuer Schwung
Schwung bringen will in die verfahrene Situation Ursula von der Leyen. Die designierte EU-Kommissionschefin hat einen Neuanfang für die Migrationspolitik versprochen. Ein Ansatz könnte dabei sein – in dieser Richtung äußerte sich die kommende Innenkommissarin Ylva Johansson Anfang Oktober – möglichst viele Themen auf einmal zu diskutieren, um die Verhandlungsmasse zu vergrößern. Tatsächlich sind neben der Dublin-Verordnung eine ganze Reihe weiterer Gesetzespläne auf dem Weg, darunter zu Unterbringungsbedingungen für Flüchtlinge, zur Europäischen Asylagentur und zu Neuansiedlungen. Man werde „mehr Dinge zu gleicher Zeit auf dem Tisch haben“, sagte Johansson.
Nicht nur andere Asylgesetze taugen zur Verhandlungsmasse, auch Geld kann eine Rolle spielen. Derzeit wird der EU-Haushaltsrahmen für 2021 bis 2027 verhandelt. Die Politikprofessorin Petra Bendel erklärt, eine obligatorische Verteilungsquote sei unrealistisch. Der Weg könne „derzeit nur über Freiwilligkeit und über finanzielle Anreize führen“, so die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Dafür seien die Haushaltsverhandlungen „ein Gelegenheitsfenster, um diejenigen Mitgliedstaaten zu belohnen, die mehr Geflüchtete aufnehmen. Diese Gelder könnten die Staaten dann in den Ausbau ihrer Aufnahmesysteme reinvestieren.“
Für Torsten Moritz ist die Einbindung lokaler Akteure wichtig. Selbst in osteuropäischen Ländern, wo sich Regierungen generell gegen die Aufnahme stellten, gebe es erfolgreiche Beispiele, sagt der Generalsekretär der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME): „Wenn man vor Ort dann Flüchtlinge unterbringt und vorher richtig mit den Leuten vor Ort redet und den Bürgermeister und den Pfarrer am Start hat, dann kann das zum Teil erstaunlich gut funktionieren.“ Auch die Abgeordnete Vollath will das Potential der Kommunen heben. „In der EU wollen viele Gemeinden Flüchtlinge aufnehmen, aber es klappt nicht. Es wäre ein erster Schritt, diese Bereitschaft sichtbarer zu machen und die Gemeinden zu unterstützen.“
Win-win mit Afrika?
Während solche Überlegungen auf die Lage innerhalb der EU zielen, richtet sich der Blick zugleich auf die Beziehungen zu Drittländern. Der designierte Vizekommissionschef Margaritis Schinas verwies Anfang Oktober auf geplante neue Vereinbarungen mit Herkunfts- und Transitländern, damit sie abgelehnte Asylbewerber leichter zurücknehmen. Sie müssten aber begleitet sein von Regelungen etwa für Stipendien oder im Handelsbereich, die diesen Ländern zugutekämen – um „win-win“-Beziehungen zu schaffen.
In diese Richtung argumentiert auch Gerald Knaus von der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) in seinem „Gambia Plan – win-win mit Afrika – das elfte Gebot“ für die Zusammenarbeit zwischen Baden-Württemberg und Gambia. In dem deutschen Bundesland lebt eine große Gruppe Gambier, von denen viele von Abschiebung bedroht seien, obwohl nur wenige tatsächlich abgeschoben würden. Nach Knaus‘ Strategie würden die meisten Gambier zumindest für die drei Jahre bleiben dürfen. Im Gegenzug würde sich die Regierung in Banjul verpflichten, generell jeden Staatsangehörigen zurückzunehmen, der nach einem Stichtag irregulär nach Deutschland kommt. Flankiert würde das durch Programme für legale Migration und Entwicklungshilfe. So könnte sich die Diaspora ohne Angst integrieren und die junge gambische Demokratie geriete nicht, wie in der Vergangenheit, durch Abschiebungen und die damit verbundenen Demütigungen und Enttäuschungen unter innenpolitischen Druck. Und die Leiden und die Toten auf dem Weg durch Libyen und das Mittelmeer nach Europa würden weniger, prognostiziert Knaus.
Die Verstärkung der Kooperation mit Drittländern gilt in Brüssel als ein Punkt, auf den sich von links bis rechts so ziemlich alle einigen können – die Frage ist aber, wie beziehungsweise mit wem. So betont Knaus in seinem Plan, dass Gambia eine Demokratie ist. Bei zahlreichen Herkunfts- und Transitländern ist aber die Demokratie- und Menschenrechtssituation zumindest zwiespältig, Abschiebungen damit heikler. Das gilt auch für die Türkei, mit der die EU 2016 eine Vereinbarung geschlossen hat (für die Knaus als Architekt gilt). Ihr zufolge nimmt die Türkei abgelehnte Asylbewerber von den griechischen Inseln zurück. Im Gegenzug stellt die EU unter anderem Milliardensummen für Flüchtlinge in der Türkei bereit. Seit Jahren herrschen jedoch in den griechischen Lagern, in denen die Flüchtlinge auf ihre Asylentscheidung warten, katastrophale Zustände. Und Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte wiederholt, Flüchtlinge in Massen nach Europa zu schicken.
Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält es vor diesem Hintergrund einerseits für richtig, dass Griechenland die Verfahren für Asylsuchende straffe, wonach sie entweder menschenwürdig untergebracht oder rückgeführt würden. „Hier braucht es mehr Verwaltungskapazitäten und Zusammenarbeit mit europäischen Partnern.“ Zugleich solle die EU ihr Abkommen mit der Türkei auf eine neue Basis stellen, urteilt der EU-Experte. Obsolet gewordene Elemente wie die Visafreiheit müssten rausgenommen und dafür zum Beispiel wirtschaftliche Kooperation und Finanzhilfen für die Regierung eingefügt werden. Mit diesem breiteren Rahmen der Zusammenarbeit, argumentiert Bossong, gewönne die EU einen stärkeren Hebel. So hätte sie eher eine Chance, auf die Türkei einzuwirken und die Lage für Geflüchtete dort zu stabilisieren.
Ob innerhalb der EU oder in der Beziehung mit Drittländern: Für CCME-Generalsekretär Moritz beginnt eine neue Flüchtlingspolitik im Kopf. Man müsse das „Panikgefühl“ aus der Debatte nehmen. Denn in Europa habe es, anders als in anderen Erdteilen, allenfalls eine politische Krise, aber keine wirkliche Flüchtlingskrise gegeben, meint Moritz. Nötig sei eine „nüchterne aber gleichzeitig auch von den europäischen Werten getriebene Debatte“. Europa als eine der reichsten Regionen der Welt, die teilweise an den Konflikten an seinen Rändern nicht ganz unschuldig sei, solle sagen: „Wir übernehmen unsere Verantwortung.“
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