„Noch ist kein Meter betoniert“
Seit zwei Monaten besetzen Aktivist*innen zwei Baustellen der umstrittenen „Stadtstrasse“, die mit dem ebenso umstrittenen „Lobautunnel“ zusammenhängt. Die Unterstützung durch die Bevölkerung sei toll, doch nun kommen die Wintertage. Ein Lokalaugenschein. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text und Fotos: Gunnar Landsgesell
Jetzt kommen die härteren Tage. Wer schon eine Winterwanderung gemacht hat, weiß, wie sehr man sich danach auf die warme Stube freut. An einem Donnerstag im November hat es sechs Grad, der zu dieser Jahreszeit typische Nebel hat Wien wieder eingehüllt. Hinter dem alten Schlosspark in Hirschstetten im 22. Wiener Gemeindebezirk hat sich eine bunte Zeltstadt ausgebreitet. Zu sehen sind dreißig bis vierzig Zelte, kleine zum Übernachten und große, um das Leben hier zu organisieren. Es ist das Basiscamp, von dem aus die Proteste gegen die höchst umstrittenen Mammutprojekte „Lobautunnel“ und „Stadtstraße“ organisiert werden. Seit zwei Monaten halten die Aktivist*innen die Stellung. Das Camp ist legal angemeldet, zwei Baustellen in nächster Nähe sind seit zwei Monaten besetzt. Dort hatte man mit schwerem Gerät bereits mit dem Bau einer Trassenführung begonnen.
Besetzte Baustelle: Über Wochen hausen Klima-Aktivist*innen in Zelten und Bretterbuden. Die Krone berichtete „Lobau-Besetzer feiern Party für Luxushütte.“
Im Camp mit einem schönen, alten Baumbestand, sitzt ein mittelalter Mann dick in eine olivgrüne Jacke eingehüllt, auf einem Klappstuhl. Es ist Nachmittag und wenig los hier, die Leute sind unterwegs. Obelix, das ist sein Aktionsname, kommt aus Solidarität hierher. Er ist Anrainer im Einzugsbereich der „Stadtstrasse“. Er ist einer, der wie so viele hier, keine neue Autobahn vor der Haustür haben will. Nun hilft er mit, wenn es etwas zu tun gibt. Ein besonderes ökologisches Interesse hatte er bisher nicht. Er hatte Elektrotechnik studiert, aber nach einem Schlaganfall wurde er gekündigt. Mittlerweile sieht Obelix einige Dinge, etwa Verkehrspolitik und Klima betreffend, etwas anders. „Gleich in meiner Nähe, wo ich wohne, ist die Gärtnerei Ganger, die sind sogar Bio-zertifiziert“, erzählt er. „Die haben einige Flächen gepachtet, die sie für ihren Betrieb brauchen. Diese Flächen sollen jetzt aber verbaut werden.“ Die Gärtnerei Ganger ist, so wie einige andere ökologische Landwirtschaften hier, fast schon eine Grünoase zwischen den wuchernden Siedlungen. Allein die Petition, die Ganger in seinem Ab-Hof-Laden aufgelegt hat, wurde von knapp 6.000 Menschen unterzeichnet. Obelix glaubt, dass viele Anrainer*innen von den Verkehrskonzepten der Stadt Wien nicht unbedingt überzeugt sind. Die Kontakte zwischen den Leuten aus dem Camp und der lokalen Bevölkerung verliefen bisher durchaus freundlich. Jeden Sonntag findet ein Anrainerbrunch statt, wo Kuchen vorbeigebracht wird und man sich austauscht. Das ist nur eine der Aktivitäten im Camp, neben Vorträgen, Workshops oder einer Fahrradwerkstatt. Jüngst, erzählt Obelix, habe man auch eine Jurte angemietet. Ein traditionelles Zelt, das die Nomaden in Zentralasien benutzen. Es ist beheizbar und steht bei der Lagerfeuerstelle, wo man sich abends auch etwas aufwärmen kann.
Das Camp als Basislager hinter dem alten Schlossgarten in Hirschstetten. Hier finden die Plena statt, hier wird für jene gekocht, die auf den besetzten Baustellen die Stellung halten. Die Besetzung findet breite Unterstützung.
Milliarden für neue Autobahn?
In der Jurte hatte gerade ein anderer Aktivist ein Interview gegeben, der sich den Aktionsnamen Meister Eckart ausgesucht hat. Er ist seit drei Wochen hier. Auch er ist kein Öko-Fundi, sondern hat bisher sein Geld als Informatiker verdient. Er führt hinüber zu einer der beiden besetzten Baustellen und erzählt, wie man sich im Lager so organisiert. Ein Plenum in der Früh, eher für emotionale, persönliche Dinge gedacht. Und eines am Abend für Organisationsfragen. Meister Eckart begeistert die Idee der „Heart Sharing Circles“, die bei Rainbow Gatherings vertreten wird. Menschen treffen sich für einige Zeit in der Natur, um dort gemeinsam und friedlich zu leben.
Drüben, auf der besetzten Baustelle, bietet sich ein anderes Bild. Die Erde für die Trassenführung durch schweres Gerät aufgerissen, haben nun junge Leute das Terrain besetzt. Es wird gehämmert, ein aus Holzbrettern notdürftiger Unterstand soll als eine Art Kochstelle dienen. Auf einem kleinen Ofen köchelt Wasser. Im Erdwall, der von den Bauarbeiten stammt, ist ein Loch gegraben, von einer Klappe abgeschlossen, durch die man kriechen kann; das ist die so genannte „Sauna“. Heiß ist es da drinnen sicher nicht. Der Wille der Leute, etwas zu bewegen und unter diesen Bedingungen in der Kälte auszuharren, ist jedenfalls beeindruckend.
Die Baustelle, die von Bauzäunen umgeben ist, liegt direkt an der vielbefahrenen Süßenbrunner Straße. Und gleich daneben ist die Trasse der A2, die als Verlängerung der Südost-Tangente den Verkehr Richtung Norden führt. Kaum zu glauben, dass hier eine weitere mehrspurige Straße mit weit auslaufenden Zubringern entstehen soll. Auf der anderen Seite grenzt die Baustelle an ein Feld, das der Bauer gerade mit seinem Traktor bearbeitet. Symbolträchtig treffen hier Verkehrswüsten und letzte agrarische Flächen aufeinander. Das ganze hat eine gewisse Ironie. Die Konzeption erfolgte noch unter der Ägide der Grünen Wien. Nun hat die SPÖ das Verkehrsressort über, das Ulli Sima als zuständige Stadträtin führt. Sie kam ausgerechnet von der Umweltorganisation Global 2000 in die Politik. Noch beharrt man darauf, dass es besser ist, Milliarden in den Individualverkehr zu pumpen, statt in den Ausbau öffentlicher Infrastruktur. Wer nur ein paar Stunden zwischen den jetzt schon schwer befahrenen Straßen bleibt, für den werden die Zweifel der Anwohner*innen real.
Die Stimmung auf der Baustelle selbst ist geschäftig aber entspannt. Es gibt einiges zu tun, die Infrastruktur hier soll ausgebaut werden. Jemand bringt Lebensmittel vom Sozialmarkt und Spenden. Wie sehr die Leute sie unterstützen, sei eine positive Überraschung. Meister Eckart sagt: „Es ist eine wirklich schöne Erfahrung, weil es so viele Anrainer gibt, die uns etwas zu Essen bringen. Anders als etwa bei einer Hausbesetzung hat man hier das Gefühl, dass es nicht um eine isolierte Sache geht, sondern dass man von der Bevölkerung ermuntert und bestärkt wird. Das ist überhaupt kein Wir-gegen-Die-Gefühl. Wenn wir uns bedanken, wenn Leute uns etwas bringen, sagen einige: Nein, wir bedanken uns bei euch, für das, was ihr macht. Für Anrainer, die eine Autobahn vor der Haustüre hätten, geht es um alles.“
Müssten Österreich vielmehr ent-betonieren
Linda (Aktionsname, Anm.), eine Schülerin aus dem Süden Wiens, ist vom ersten Tag an dabei. Das war der Tag, an dem Bauarbeiter auf Aktivist*innen getroffen sind. „Das war aber nicht schlimm“, sagt Linda, „eigentlich ganz friedlich. Auch nachher kamen immer wieder Bauarbeiter, um Schaufeln oder Geräte zu holen.“ Sie war damals drüben im Basiscamp. „Da bin ich schon am Freitag hingefahren und habe dort geschlafen. Am Montag hat um 4 Uhr Früh der Wecker geläutet, um 5 Uhr sind wir hierhergegangen, zur Baustelle.“ Sie selbst ist über den Jugendrat dazu gestoßen. Das ist eine unabhängige Jugendorganisation, die sich vor allem für Klimagerechtigkeit und soziale Themen einsetzt. „Aber es gibt auch noch viele andere Organisationen, über die man hierher zur Besetzung kommt“, erzählt Linda. Über FFF (Fridays for Future), System Change oder XR (Extinction Rebellion). Auch die lokale Initiative „Hirschstetten retten“ oder Greenpeace beteiligten sich. Mittlerweile hängt es nicht mehr so von Organisationen ab, viele Menschen sind ganz autonom hier. Seit dem Schulbetrieb kommt Linda, sooft es geht. Hin und wieder übernachtet sie am Wochenende hier.
Und ihre Eltern? „Die sind entspannt. Am Anfang waren meine Eltern noch für die Lobau-Autobahn, mittlerweile habe ich ein bisschen ihre Meinung geändert, ob das wirklich so klug ist.“ Hier findet man die klassische Grenzziehung zwischen den Generationen. Wie konnte Linda ihre Eltern überzeugen? „Die Stadt Wien sagt ja, dass das ganze Projekt eine Entlastung bringt. Dann komme ich mit Studien, dass erwiesen ist, dass in den meisten Fällen mehr Straßen auch mehr Verkehr nach sich zieht. Und außerdem, dass das Gebiet hier eine sinnvolle Anbindung braucht, aber nicht, indem man es weiter zubetoniert. Eigentlich müsste man ent-betonieren in Österreich.“ Dass neu gebaute Straßen in vielen Fällen nicht entlasten, darauf verweist auch Hermann Knoflacher. Der Verkehrsplaner sieht Stadtstrasse und Lobautunnel als Teil einer europäischen Verkehrsspange, die die Nordsee bis zum Mittelmeer verbindet und massiv weiteren Individual- und Schwerverkehr anziehen würde.
Für Linda passt das Projekt eigentlich nicht zur Stadt Wien, die ja auch viele gute Dinge mache. „Über das Klima zu reden und stolz zu sein auf Wien als tolle, grüne Stadt und zugleich solche neuen Autobahnen zu planen, da fehlt mir das Verständnis.“
Umdenken findet statt
Was muss man eigentlich mitnehmen, wenn man hier übernachtet? Es ist jetzt schon tagsüber verdammt kalt. „Die ersten Wochen war es ja noch warm, da hat ein Schlafsack und eine Isomatte gereicht. Mittlerweile haben wir den Turm, der ist isoliert, da ist es wirklich warm. Da kriegt es in der Nacht nicht unter 8 oder 10 Grad. Wir haben mittlerweile auch Matratzen drinnen. Und wir haben auch haufenweise Winterschlafsäcke, die gespendet wurden. Also für alle, die kommen wollen: man braucht nicht wirklich etwas mitnehmen. Wir sind ausgerüstet.“ Für die Schülerin steht fest, dass wir ein Umdenken live erleben: „Eine jüngste Umfrage zeigte, dass ein Großteil der Österreicher gar keine neuen Autobahnen mehr will. Ich sehe die Lobau-Autobahn als Wendepunkt, ob wir das Ziel der 1,5 Grad Klimaerwärmung noch einhalten können oder nicht. Was macht man mit der Autobahn, wenn man wirklich die 1,5 Grad einhalten will?“
Info-Stand gegen Milliarden-Projekt. „Was macht man mit der Autobahn, wenn man wirklich die 1,5 Grad einhalten will?“, fragt die Aktivistin Linda.
Wir leben hier eine Utopie
Ein Beispiel für dieses Umdenken ist Malve (Aktionsname, Anm.). Sie ist über die großen Demos am 15. März 2019 für Klimafragen sensibilisiert worden, als in Österreich 20.000 Schüler*innen auf die Straße gingen. Damals kam sie aus Neugierde mit einer Schulfreundin mit. Erst danach hatte sie sich eingehender über die Sache informiert. „Klassisch“, wie Malve lächelnd meint. „Dann war ich jeden Freitag bei den Demos dabei.“ Malve hatte ein Jahr Chemie studiert, dann aber abgebrochen. In diesem Betrieb ist man nur eine Nummer, sagt sie. Nun also Besetzung. „Wir leben hier eine Utopie, wir leben frei, wir bilden uns gegenseitig weiter. Das ist viel mehr Wert.“ Was macht diese Utopie hier auf der Baustelle aus? „Das Gemeinsame, alles gemeinsam zu machen. Hier wird niemand allein gelassen, auch wenn es jemand einmal schlecht geht. Das hat man in der Welt nicht.“ An ihren Erfolg glaubt Malve. „Noch ist kein Meter betoniert“, sagt sie. Sie werden weiter mobilisieren, dass es so bleibt.
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