Khorchide zu SOS Mitmensch-Bericht: „Menschenfeindliche Ideologien können Zusammenhalt bedrohen“
Der Leiter des wissenschaftlichen Beirats der „Dokumentationsstelle politischer Islam“, Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, hat SOS Mitmensch eine Stellungnahme zum aktuellen Bericht über antimuslimischen Rassismus in der österreichischen Politik geschickt. Diese Stellungnahme wollen wir hier veröffentlichen:
„Pluralität stellt für unsere heutige Gesellschaft einen grundsätzlichen und nicht verhandelbaren Wert dar. Pluralität als Wert zu leben, bedeutet ein Bewusstsein für die Anerkennung und Würdigung von Vielfalt. Jede Form der Benachteiligung bzw. Diskriminierung von Minderheiten oder Andersdenkenden ist daher ein Angriff auf diesen Grundwert und somit auf unsere Gesellschaft. Die in unserer pluralen Gesellschaft zu schützende Formel der Einheit in der Vielfalt setzt eine Sprache voraus, die die Etablierung eines großen „Wir“ anstrebt. Der von SOS Mitmensch herausgegebene Bericht „Antimuslimischer Rassismus in der österreichischen Politik. Antimuslimische Abwertungs-, Ausgrenzungs-, Feindbild-, Generalisierungs- und Hetzkampagnen im Jahr 2020“ dokumentiert, wo die Formel der Einheit in der Vielfalt und somit die Anerkennung von Pluralität in unserer Gesellschaft bedroht wird. Konkret geht es hier um Fälle, in denen Mitbürger*innen muslimischen Glaubens in der österreichischen Politik benachteiligt bzw. diskriminiert werden. Und somit soll der Bericht einen Beitrag zu mehr Empathie für das „Anderssein“, aber auch für die Sensibilisierung für eine Sprache sowie, im Sinne des Schutzes und der Förderung von Pluralität, für verantwortungsvolle Politik leisten.
Dass so gut wie alle im Bericht deklarierten Fälle der FPÖ zuzuschreiben sind, verwundert nicht und zeigt einmal mehr, wie menschenfeindliche Ideologien unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen können.
Ich will in dieser kurzen Stellungnahme nicht das wiederholen, was ohnehin im Bericht nachzulesen ist, sondern darüber hinaus ein paar kritische Anmerkungen machen, und zwar im Sinne des Schutzes dieses großen „Wir“ als Ausdruck von Einheit in der Vielfalt.
Rassismus ist eine menschenfeindliche Haltung, von der wir alle, Muslime wie Nichtmuslime, betroffen sein können. Daher darf die Rede vom antimuslimischen Rassismus nicht dazu beitragen, unsere Gesellschaft in Opfer und Täter entlang solcher Kategorien wie Ethnie, Rasse, Religion usw. zu spalten, im Sinne: Muslime sind Opfer und die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft ist der Täter. Rassismus kennt keine Identität, er ist nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt. Das ist keineswegs als Kritik an dem Bericht zu verstehen, sondern vielmehr eine Warnung vor dem Missbrauch der Rede vom antimuslimischen Rassismus durch Islamisten, die solche Begriffe instrumentalisieren, um Muslime pauschal als Opfer des „Westens“ darzustellen. Dadurch wollen Islamisten sich als die moralisch Überlegenen darstellen, um die „Mehrheitsgesellschaften Europas“ zu kriminalisieren und sich zugleich vor jeglicher Kritik zu immunisieren.
SOS Mitmensch als eine Organisation, die für Menschenrechte und Gleichberechtigung steht, darf sich nicht mittel- oder unmittelbar von Islamisten instrumentalisieren lassen. Das ist nur dann zu vermeiden, wenn die Kritik nicht einseitig ist. Ich will hier zwei Beispiele anführen:
Beispiel I. „Kinderkopftuch“
Auf Seite 3 wird im Bericht in der Fußnote als Beispiel für eine umstrittene und verfassungsrechtlich bedenkliche Maßnahme, die Muslime in Österreich trifft, das Verbot des sogenannten Kinderkopftuchs kurz angesprochen. Mir geht es hier nicht um die rechtliche Frage. Als Religionspädagoge denke ich an erster Stelle an die betroffenen jungen Mädchen und versuche, die Dinge aus ihrer Sicht zu betrachten. Es ist daher die Frage, wer ihnen Rückendeckung geben wird, wenn die Eltern ihnen ein Kopftuch aufzwingen. Kein kleines Mädchen kommt von sich aus auf die Idee, in der Schule ein Kopftuch zu tragen und schon gar nicht mit dem Argument, seine sexuellen Reize bedecken zu wollen. Damit soll aber auch nicht das Kinderkopftuchverbot verteidigt werden, das ist nicht das Anliegen dieser Stellungnahme. Worum es hier geht, ist der Appell, die Dinge nicht ausschließlich durch die Brille einer antimuslimischen Diskriminierung zu lesen und dabei die betroffenen Mädchen bzw. das Thema Kinderkopftuch und die dahinter stehende menschenfeindliche Ideologie aus den Augen zu verlieren. Die Rede vom antimuslimischen Rassismus darf nicht zur Zensur werden, die jegliche kritische Auseinandersetzung mit problematischen Entwicklungen innerhalb des Islams tabuisiert. Die Entwicklungen der letzten Jahre gehen jedoch in die falsche Richtung und sindalarmierend.
Beispiel II. Innermuslimische Diskriminierung.
Wenn von antimuslimischem Rassismus die Rede ist, dann muss dringend zugleich der innermuslimische Rassismus thematisiert werden. Zum Beispiel werden sogenannte „liberale“ Muslime, die sich für innermuslimische Reformen einsetzen und daher Selbstkritik an bestimmten Positionen innerhalb des Islams äußern, von anderen Muslimen in unserer Gesellschaft diskriminiert und benachteiligt. Und so verwundert es auch nicht, dass ausgerechnet selbstkritische und reformorientierte Muslime im Islamophobie-Report 2018, der unter der Schirmherrschaft der regierungsnahen türkischen SETA-Stiftung herausgegeben und von Farid Hafez verantwortet wird, als islamophob denunziert werden. Viele dieser Muslime müssen deshalb unter Polizeischutz leben. Sie bekommen Morddrohungen, und zwar von anderen Muslimen. Die Stigmatisierung von Muslimen als Opfer einer Mehrheitsgesellschaft läuft Gefahr, diese Form der Diskriminierung, die für die Betroffenen eine existentielle Bedrohung darstellt, zu ignorieren.
Das Argument, wonach Kritik den Rechten und den Islamhassern helfen würde, wird oft als eine Art moralische Erpressung eingesetzt. Nur reaktionäre Kräfte und die Rechten sowie Islamhasser profitieren von dieser Form der Selbstzensur. Dadurch haben die menschenfeindlichen Ideologien das letzte Wort. Wer aber Muslimen helfen will, Missstände zu beseitigen, indem er Probleme benennt, der nimmt den Rechten und den Islamhassern den Wind aus den Segeln und bezeugt, dass Muslime als anerkannte Bürger*innen ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft sind.“
--> SOS Mitmensch-Bericht über antimuslimischen Rassismus zum Herunterladen
Hintergrundinfos zum Bericht:
Beispiele für antimuslimisch-rassistische Kampagnen in der österreichischen Spitzenpolitik aus dem aktuellen Bericht von SOS Mitmensch:
FPÖ-Kampagne wertet neugeborene Kinder und andere Menschen, die den Namen "Muhammed" tragen, kollektiv ab und markiert sie als Bedrohung
Spitzenpolitiker*innen verbreiten in mehreren Wellen antimuslimische Verschwörungsgeschichten rund um die Corona-Pandemie
Frauen, die Kopftuch tragen, werden durch Bildauswahl und Fotomontagen systematisch mit Defiziten und Problemthemen in Verbindung gebracht
FPÖ-Politiker skandalisieren Feiertagsgrüße an Muslim*innen. Repräsentant*innen der Republik Österreich geben diesen rassistischen Kampagnen teilweise nach
Landesschulvertreterin wird nach öffentlichem Auftritt von einem FPÖ-Landtagsabgeordneten angegriffen und als mögliche Bedrohung markiert, alleine weil sie Kopftuch trägt
Betroffenem, der Anzeige wegen des Verdachts der Verhetzung erstattet, wird ein Religionsstempel aufgedrückt und er wird in rassistischer Manier als "Partei-Moslem" abgestempelt
Nur die Spitze eines Eisbergs
Der von SOS Mitmensch präsentierte Bericht dokumentiert für das Jahr 2020 mehr als 90 antimuslimisch-rassistische Äußerungen in der Sphäre der österreichischen Spitzenpolitik, darunter etliche Großkampagnen, die sich über mehrere Wochen hinweg erstreckten. Gegenüber dem Jahr 2019 bedeutet das eine Verdoppelung der registrierten Vorfälle. Die Coronavirus-Pandemie ist zum Aufhänger für gleich mehrere Wellen antimuslimisch-rassistischer Agitation geworden. Alle im Bericht dokumentierten Fälle betreffen die FPÖ, doch das ist nur die Spitze eines wesentlich größeren Eisbergs. So haben Mitglieder der Bundesregierung, darunter auch Bundeskanzler Sebastian Kurz, dem Druck antimuslimisch-rassistischer Kampagnen teilweise nachgegeben und richten auf Facebook keine Feiertagsgrüße mehr an Musliminnen und Muslimen.
Vorbild Deutschland und Norwegen
SOS Mitmensch fordert von der Bundesregierung, sich an Ländern wie Deutschland und Norwegen ein Beispiel zu nehmen, wo die Regierungen inzwischen Gremien ins Leben gerufen haben, die sich mit Muslimenfeindlichkeit befassen. Es ist ein schwerwiegendes Versäumnis, dass die österreichische Bundesregierung bislang keine Handlungen gegen antimuslimischen Rassismus gesetzt hat. Bei kollektiver Abwertungs- und Hassrhetorik darf es kein Schweigen und kein Wegschauen mehr geben.
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