Uns gibt es auch
In Österreich lebt die zweitgrößte tschetschenische Community Europas. Doch wenn hier über tschetschenische Menschen berichtet wird, überschlagen sich die negativen Schlagzeilen. Einblicke in eine Community, deren Vielfalt gerne übersehen wird.
Text: Milena Österreicher.
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
Jetzt mit einem MO-Solidaritäts-Abo unterstützen!
„Als ich die Schlagzeilen in den Zeitungen las, dachte ich mir: Wer sind all diese schlimmen Tschetschenen in Österreich?“, erinnert sich Maynat Kurbanova. Selbst Tschetschenin, kam Kurbanova 2005 mit einem Stipendium für verfolgte Journalist:innen nach Deutschland. Fünf Jahre später führte sie ihr Weg weiter nach Österreich, ohne zu wissen, dass hier eine große tschetschenische Community lebt – und ohne zu ahnen, wie negativ das Image dieser Community in Teilen der Gesellschaft und der medialen Öffentlichkeit ist.
Im Theaterstück "Geschichten, die nicht geschrieben sind" geben junge Menschen mit tschetschenischem Background Einblicke in ihre Erfahrungen.
Zwischen 30.000 und 40.000 Menschen mit tschetschenischen Wurzeln sollen heute in Österreich leben. Schätzungen zufolge ist das nach Frankreich die zweitgrößte tschetschenische Gemeinschaft in Europa. Doch genaue Zahlen fehlen, denn als Teilrepublik der Russischen Föderation werden sie offiziell als russische Staatsangehörige geführt. Sie sind mit Vorurteilen konfrontiert, etwa unnahbar oder aggressiv zu sein. Gewalttätige Auseinandersetzungen unter Jugendlichen letzten Sommer befeuerten das Bild zusätzlich.
_______
Viele Jugendliche kämpfen mit den negativen Zuschreibungen
und leiden darunter, sagt Maynat Kurbanova.
_______
Selbst in die Hand nehmen
Für Maynat Kurbanova ist das allgemein herrschende negative Bild dennoch schwer nachvollziehbar. „In Österreich kenne ich so viele engagierte Menschen und solche, die ihr Leben völlig unauffällig und normal leben“, sagt sie über die Community. „Da dachte ich mir: Dagegen muss man doch etwas tun.“ Und das tat sie. Im Jahr 2022 fing sie an, im Projekt „Stimm*Raum“ zu arbeiten, unter Trägerschaft der sozialpädagoischen Organisation „Soziale Initiative“ und gefördert durch das Sozialministerium. Es bietet jungen Tschetschen:innen in Schreibwerkstätten die Möglichkeit, ihre Geschichten und Gedanken festzuhalten. Die Resonanz ist groß, meist übersteige die Zahl der Anmeldungen die verfügbaren Plätze. „Viele Jugendliche kämpfen mit negativen Zuschreibungen und leiden darunter, wie über sie gesprochen wird“, erklärt Kurbanova, „bei uns bekommen sie die Chance, ihre Stimme zu erheben.“ Die gesammelten Texte münden in kreative Projekte: ein zweisprachiges Buch und eine Wanderausstellung im ersten Jahr, im zweiten Jahr ein Theaterstück mit dem Titel „Geschichten, die nicht geschrieben sind“. Dieser sei eine Anspielung auf die tschetschenische Geschichte, sagt Maynat Kurbanova: „Er verweist auf unsere Tradition der mündlichen Überlieferung, denn unsere Vorfahren mussten immer wieder erfahren, dass ihre schriftlichen Aufzeichnungen von der russischen Armee zerstört wurden.“
Im Theaterstück spiegeln sich die persönlichen Geschichten der Teilnehmenden wider, aber auch die Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft, der eigenen Familien, des Freundeskreises und die eigenen an sich selbst. In der Wiener Kulisse feierte das Stück im Herbst 2023 seine Premiere. Zuletzt wurde es Anfang November 2024 im Wiener Rathaus auf die Bühne gebracht. Weitere Termine stehen noch nicht fest. Über Anfragen und Einladungen freue man sich.
Journalistin Maynat Kurbanova kritisiert die tendenziöse Berichterstattung der Boulevardmedien über Tschetschen:innen
Wunsch nicht aufzufallen
Auch Kurbanovas Tochter Amina steht dabei auf der Bühne. Sie kennt die Belastung durch negative Stereotype aus eigener Erfahrung. „Vor allem in der Unterstufe habe ich oft versucht, unsichtbar zu sein, wenn Tschetschenen in den Schlagzeilen waren“, erzählt sie. Sie wusste, am nächsten Tag kamen die Fragen an sie.
Heute studiert die 23-Jährige Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst und Komparatistik an der Universität Wien. Durch das Theaterstück und die Zusammenarbeit mit Regisseurin und Sprechtrainerin habe sie viel für ihren Alltag gelernt: wie man spricht, wie man Raum einnimmt und wie man Spannung aushält. Eine der bewegendsten Szenen im Stück sei jene, die Mutter-Tochter-Beziehungen und generationenübergreifende Traumata beleuchtet. Die Szene habe auch starke Reaktionen im Publikum ausgelöst und gezeigt, dass es mehr Platz für Frauengeschichten braucht, auch in der Darstellung der tschetschenischen Community. „Es wird so oft über die Männer gesprochen, über Kriminalität und Konflikte“, sagt Amina Kurbanova. Dabei gebe es so viele Frauen, deren Erfahrungen und Erfolge kaum Beachtung finden würden.
Malika Mataeva ist die erste Frau im Team des Cyber Security Operations Center der WKO Inhouse. Sie ermutigt Frauen dazu, in der IT zu arbeiten.
Frauen in den Fokus
Eine dieser Frauen ist Malika Mataeva. Sie ist Cyber-Sicherheitsexpertin bei WKO Inhouse, das Dienstleistungsunternehmen für alle Dienststellen der Wirtschaftskammern Österreichs, und setzt sich nebenbei dafür ein, Mädchen und Frauen für die IT-Branche zu begeistern. Mataeva kam aufgrunde des Krieges vor zwanzig Jahren als 18-Jährige nach Österreich, gemeinsam mit ihrem Mann. „Wenn man als Flüchtling ankommt, ist das nichts Angenehmes“, erzählt die dreifache Mutter heute. Man fange ganz von vorne an, kenne weder die Sprache des neuen Landes noch die Menschen, die Kultur und Gepflogenheiten. „Und man merkt, dass man eigentlich gar nicht erwünscht ist, was einen zusätzlich stresst“, sagt sie.
Das Paar verbringt die ersten Jahre in Freistadt in Oberösterreich. Mataeva erinnert sich an den schwierigen Start: Sie waren schüchtern, konnten die Sprache noch kaum, niemand sprach mit ihnen. „Meine ersten Deutschkenntnisse habe ich in der türkischen Community gelernt, die sind proaktiv auf uns zugekommen, haben uns besucht und zu Festen eingeladen“, berichtet sie.
______
Es gebe so viele Frauen, deren Erfahrungen und Erfolge
kaum Beachtung finden, meint Amina Kurbanova.
_______
Nach dem Umzug nach Wien wollte die damals 25-Jährige einen Webdesign-Kurs beim AMS belegen, doch der Berater lehnte ab. „Er meinte, mein Deutsch sei zu schlecht, noch dazu habe ich drei Kinder und würde das nicht schaffen“, erzählt Mataeva. Sie ließ sich nicht entmutigen, studierte stattdessen Informatik an der Universität Wien, arbeitete nebenbei als Softwareentwicklerin bei der Firma Bosch und wurde schließlich die erste Frau im Cyber Security Operations Center der WKO Inhouse. „Es wird Mädchen und Frauen immer noch abgeraten, in den IT-Bereich zu gehen“, berichtet Mataeva. Und gleichzeitig beschwere man sich, dass es zu wenige Frauen dort gibt. Für ihr persönliches Engagement, Frauen in MINT-Fächern zu fördern, erhielt sie vergangenes Jahr den Grete-Rehor-Preis.
Auch Mataeva stößt sich am negativen Bild über Tschetschen:innen: „Ja, es gibt Probleme, aber das ist nicht die Norm.“ Mit ihrem Engagement in Projekten wie „buntaž“, einem Netzwerk für Chancengleichheit an Schulen, will sie unter anderem auch jungen Tschetschen:innen Mut machen. Es brauche Community-, aber auch Antidiskriminierungsarbeit. „Ich kann jungen Menschen meine Geschichte erzählen, aber wenn ihnen dann in der Gesellschaft suggeriert wird, dass sie es sowieso nicht schaffen, hilft das wenig“, sagt sie. Es ärgert sie, wenn Jugendlichen von vornherein gesagt werde, sie sollen gar nicht erst von einem Medizinstudium träumen, man brauche eh dringend Lehrlinge.
Aslanbek Mayrabekow möchte ein Vorbild für Männer mit tschetschenischen Wurzeln sein. Sein Weg war nicht einfach, doch er ist beharrlich geblieben.
Männerarbeit
Die Informatikerin möchte sich nun auch verstärkt in der Männerarbeit engagieren. Dazu hat sie ein Team zusammengestellt, das demnächst Workshops für männliche Jugendliche anbieten wird. „Sie sind alle auf ihre Art erfolgreich, und können gute Vorbilder sein“, erklärt sie. Dazu zählt etwa Aslanbek Mayrabekow. 2005 floh er als 14-Jähriger mit seiner Familie aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny nach Österreich, in die oberösterreichische Gemeinde Wolfsegg. Heute ist der Vater von vier Kindern Digital-Projektmanager bei der UNIQA-Versicherung und hat FH-Abschlüsse in Elektronik und Wirtschaft sowie erneuerbare Energien. Der Weg war nicht immer einfach, doch Mayrabekow berichtet von viel Unterstützung: von Frau Neudorfer und Frau Berger aus dem Ort, die ihm samstags immer Deutschnachhilfe gaben, vom Leiter der Asylunterkunft, Johannes Lintner, der sich einsetzte, damit er in die Hauptschule gehen konnte, von seiner Klassenvorständin und dem Direktor. „Am ersten Schultag machten wir eine Mathe-Schularbeit, und meine Schwester und ich hatten als Einzige die volle Punktzahl“, erinnert er sich. In Tschetschenien waren sie zunächst in die Schule gegangen, doch dann kam der Krieg, der einen regulären Schulbesuch verunmöglichte. Ihre Mutter, eine Volksschulpädagogin, übte mit ihnen im Bunker lesen, schreiben und rechnen. „Damit wir nicht ganz deppert werden“, sagt Mayrabekow heute und lacht. Immer wieder sei er später der „erste Tschetschene“ für sein Umfeld gewesen: der erste, der „normal“ sei, der ein Gymnasium besuchte und maturierte oder nicht aggressiv wirke. „Ehrlich gesagt habe ich so viel in meinem Leben erlebt – ich habe meine Oma, meinen Opa und meine kleine Schwester verloren – Zuschreibungen von anderen können mir nicht mehr viel anhaben“, sagt er. Dennoch wolle er sich dafür einsetzen, dass sich das Bild ändere. Auch für seine Kinder.
_______
Es brauche sowohl Communityarbeit als auch
Antidiskriminierungsarbeit, sagt Malika Mataeva.
_______
So arbeiten Aslanbek Mayrabekow, Malika Mataeva und Maynat Kurbanowa sowohl in der Community als auch in der Mehrheitsgesellschaft daran, mehr Facetten des tschetschenischen Lebens zu zeigen und zu fördern. Kurbanova sieht dabei auch die Medien in einer besonderen Verantwortung. Für sie sei es unverständlich, dass (Gratis-)Boulevardblätter, die oft zweifelhafte Berichterstattung betreiben, so leicht zugänglich seien und noch dazu großzügig Förderungen erhalten. „Diese Medien prägen die Köpfe der Menschen“, sagt sie. Sie wünscht sich eine differenzierte Berichterstattung. Auch über das vielfältige Leben von Tschetschen:innen in Österreich.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo