
Wahnsinn Krieg
Jetzt kommt alles mit dem Krieg in der Ukraine wieder. Das größte Verbrechen des Krieges an denen, die ihn überleben, ist, dass er ihnen das Vertrauen ins Leben nimmt. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk
Das Kopftuch einer bosnischen Frau, Kappen von Militärs, zerfetztes Zeitungspapier, ein blutroter Würfel – all das liegt zu Boden geworfen auf den Pflastersteinen. Eine Aktion am Wiener Stephansplatz. Wir schreiben das Jahr 1992. Der Krieg tobt in Jugoslawien. Kinder brachten ihre Zeichnungen mit vom roten Fluss Drina, voll von Leichen und vom „allerliebsten Hund Medi“, den der sechsjährige Vedan in Bosnien zurücklassen musste. Eine Mutter hat ihren einzigen Sohn verloren. Sie will selbst nicht mehr leben. „Die Trauer zerstört mich.“ Sie sitzt jede Nacht im Bett und schaukelt mit dem Oberkörper, „um nicht schreien zu müssen“. Ich hab’ damals bei Hemayat gearbeitet, wo Kriegsüberlebende therapeutisch und medizinisch behandelt wurden. Jetzt kommt alles mit dem Krieg in der Ukraine wieder. Das größte Verbrechen des Krieges an denen, die ihn überleben, besteht darin, dass er ihnen das Vertrauen ins Leben nimmt. Die Überzeugung zerbricht, man könne sich in der Welt sicher fühlen. Es ist ein zur Wirklichkeit gewordener Albtraum. Unser Vertrauen hat sich mit dem Glauben entwickelt, dass bestimmte monströse Figuren nur in bösen Träumen vorkommen, aber niemals in unserer Alltagswelt. „Wer vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr da“, formulierte es der Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma. Wie aus der Welt gefallen zu sein, wie die Welt verloren zu haben.
Man könne sich an alles gewöhnen, heißt es. Gewöhnen gibt es hier nicht. Gewöhnen bedeutet in diesem Fall nämlich, dass sich das Unglück nach innen ausdehnt, Teil von einem wird, dass die Chance geringer wird, aus dem Schrecken aufzutauchen wie aus einem Albtraum, den man unter der morgendlichen Dusche einfach abwaschen kann. Die Seele verlagert den Schrecken aus der Aktualität ins Chronische, aus dem Film da draußen in den Körper da drinnen.
Die Verwirrung, die einen außer Tritt bringt, ist eine normale Reaktion auf eine abnormale Situation. Traumatisierte tragen eine unmögliche Geschichte in sich, mit sich. Eine wahnsinnige Realität manifestiert sich als Symptom in einem Menschen. Abnormal ist das, was passiert ist, krank das, was geschehen ist. Krieg ist ein monströses Verbrechen. Helden sind die, die ihn beenden.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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