Warten auf ein Leben
Das berüchtigte Lager Moria auf Lesbos ist abgebrannt. Nun gibt es Kara Tepe II. Ist die Situation besser dort? Ein Bericht über ein Lager ohne Schatten, wo der Krieg durch die Köpfe der Menschen spukt. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Reportage & Fotos: Heidrun Henke
Im März 2020 brannte auf der griechischen Insel Lesbos das berüchtigte Lager Moria ab, ein besonders bedrückendes Sinnbild der Flüchtlingskrise. Heute sieht man hier nur noch die traurigen Habseligkeiten und Überreste: abgelehnte Asylanträge, verbrannte Kuscheltiere, Decken, Pfeffersprays, Schulhefte, Gebetsteppiche, Gestelle von Buggys, die einen langen Weg hinter sich haben. Die 12.000 heimatlosen Menschen, die wochenlang auf der Straße lebten, befinden sich inzwischen in einem anderen Lager: Kara Tepe II. Weder Journalist*innen noch Filmteams dürfen hinein, um die dortigen Lebensbedingungen zu dokumentieren. Wir sind dennoch hingefahren.
Das Camp ist hermetisch abgeriegelt, Polizeipatrouillen und Militärposten bewachen das Lager wie einen Hochsicherheitstrakt.
Weiße Zelte, wie auf einem Schachbrett. Kein Zug mehr möglich.
Kara Tepe 2 („schwarzer Hügel“) wurde nahe der Inselhauptstadt Mytilini errichtet, strategisch ausgewählt: am Meeresufer gelegen, ohne einen Baum auf dem Areal, wegen der Gefahr eines neuerlichen Brandes. Auf dem staubigen Militärgelände, das früher Schießübungen diente, wo statt einem Feuer die griechische Sonne gnadenlos hinunter brennt, reihen sich weiße Zelte dicht an dicht. Am Horizont sieht man das türkische Festland, von wo die meisten ihre Reise in die EU angetreten haben. Ein trauriger Blick in die Vergangenheit und permanente Erinnerung an die Überfahrt in viel zu kleinen Booten. Wo bleibt der Blick in die Zukunft?
Das mit Stacheldraht eingezäunte Kara Tepe II ist übersichtlich organisiert und leicht zu kontrollieren. Im Gegensatz zum alten Lager Moria, das im Laufe der Zeit organisch gewachsen ist. NGO-Mitarbeiter*innen erzählen: „Es war wild, chaotisch, die Leute waren mehr sich selbst überlassen, hatten dadurch aber auch relative Freiheit. Es herrschten eigene Gesetze, leider oft die des Stärkeren. Gewalt, Messerstechereien oder sexueller Missbrauch waren Teil dieser Welt. Ein dreijähriger Bub wurde dort auf einer Toilette vergewaltigt.“ Es ist also sicherer in Kara Tepe II, humaner ist es nicht. In Moria gab es Bäume und Schatten, es durfte gekocht werden, man konnte sein temporäres Zuhause selbst gestalten. Man improvisierte, zimmerte und errichtete ebenso kunstvolle wie waghalsige Konstruktionen.
Das Areal außerhalb des Camps „One Happy Family“ bietet Kindern zeitweise Normalität, wo sie wieder ganz Kind sein dürfen.
Seit dem Brand ist vieles anders. Es herrscht ein strenges Regiment in der neu errichteten Zeltstadt, überall Regeln und Verbote. Das Kochen ist aufgrund der Brandgefahr untersagt. Die Zelte dürfen nicht verändert werden, streng nach Raster. Zwei Familien teilen sich ein Zelt, getrennt durch eine Stoffwand. Drei Viertel der Geflüchteten auf der Insel sind Familien. Wer alleine kommt, oft junge Burschen, bekommt einen Schlafplatz in einem der großen Single-Men-Tents, in das 100 Mann passen. Privatsphäre gibt es hier nicht. Nachts schnarchen und husten die Nachbarn, hören Musik, gehen zur Toilette. Kinder schreien oder weinen, werden oft durch Albträume geweckt, wie NGO-Mitarbeiter*innen erzählen.
„Stay in line“
Aktuell darf das Lager nur mehr einmal pro Woche für drei Stunden verlassen werden. Durch Corona wurden die Ausgangszeiten nochmals verkürzt. Drei Stunden die Woche, um sich eine neues Leben aufzubauen und die wichtigsten Dinge zu organisieren, Dokumente, Lebensmittel, Hygieneartikel, Ärzt*innen und Therapeut*innen aufsuchen. Die Infrastruktur der Zeltstadt ist nicht vergleichbar mit der einer echten Stadt. Hier gibt es alles was man braucht, um nicht zu sterben, aber nicht genug für ein Leben. Überall muss man sich anstellen, für jeden Tropfen Wasser, für jede Mahlzeit, für jedes menschliche Grundbedürfnis bilden sich Schlangen, „stay in line“ heißt es oft. Das Anstellen wurde zum Symbol der Menschen: Warten... bis man dran ist.
Symbol für das unerträgliche Warten: eine abgebrannte Bank im alten Lager Moria, wo das Feuer alles vernichtet hat. Das Warten ist geblieben.
Gulzar, der junge Mann aus dem Meer
Einer, der lang gewartet hat, ist Gulzar. Der 20-Jährige ist vor einem Jahr und acht Monaten auf Lesbos gelandet. 70 Prozent aller Geflüchteten (im Juni umfasst das Lager 6.225 Menschen) kommen wie Gulzar aus Afghanistan, 11 Prozent aus dem Kongo und 8 Prozent sind Syrer*innen. Der junge Mann brauchte mehrere Versuche, bevor er mit seinen Freunden ans griechische Festland gespült wurde. In einem kleinen Schlauchboot, bei Dunkelheit und stürmischer See. Er kommt aus der Stadt Nikbal, wo er die Uni besuchte und einen Abschluss in Literatur machte. Nachts, wenn er wiedermal nicht schlafen kann und sich auf seinem Stockbett hin und her wälzt, flüchtet er sich gedanklich in andere Welten, in Geschichten seiner Bücher, zu Hemingway, wie er erzählt.
Das Camp ist hermetisch abgeriegelt, Polizeipatrouillen und Militärposten bewachen das Lager wie einen Hochsicherheitstrakt. Eine „Permission“ ist nötig, um das Lager zu verlassen.
Ich treffe ihn, wie kann es anders sein, beim Anstellen und Warten auf einen der blauen Hygienesäcke. Darin finden sich Zahnbürste, Deo, Taschentücher, Pflaster, Kondome, ... Per Internet kann man seine Wünsche deponieren.
Pädagogin Gabriella von Medical Volunteers International versucht durch das Rollenspiel mit der traumatisierten Roha in Kontakt zu kommen.
Ein Stück Normalität
Unter den Geflüchteten befinden sich auch Handwerker, Ärztinnen, Facharbeiter. Die Schweizer NGO „One Happy Family“ (OHF) hat auf einem brachliegenden Gelände mit alten Bauten gemeinsam mit den Camp-Bewohner*innen einen Ort erschaffen, an dem traumatisierte Kinder und Eltern einmal pro Woche ein normales Leben spüren dürfen. Therapieräume, ein kleiner Bazar, auf dem gebrauchte Kleidung getauscht wird, ein Schulungsraum mit alten Computern sowie die „School of Peace“ sind hier untergebracht. Sogar ein Gym aus Alteisen haben sie gezaubert. Geht man durch die neu angelegten Blumen- und Kräuterbeete, gelangt man durch einen gebastelten Regenbogen weiter zum Garden House, in dem die Kindergruppen stattfinden. Der Torbogen soll den Übertritt in eine andere Welt kennzeichnen: ohne Krieg, Gefahr und Gewalt. Hier arbeiten Psycholog*innen, Kunsttherapeut*innen, Pädagog*innen, Lehrer*innen, Streetworker*innen mit psychisch belasteten Kindern, Jugendlichen und auch deren Eltern.
Wir treffen Carlotta, die für die NGO Medical Volunteers International (MVI) als Psychologin arbeitet. Auf dem Gelände, das oberhalb des Lagers liegt und sich perfekt für einen Perspektivenwechsel und zum Reflektieren eignet, haben sich verschiedene NGOs eingemietet und bieten psychologische Betreuung, Entlastungsgespräche sowie praktische Hilfe für Geflüchtete an.
„Ein wiederkehrender Traum vieler Kinder ist das Feuer, das sie miterleben mussten, als das alte Moria abbrannte“, erzählt uns Carlotta, die die Kinderabteilung leitet. „Die Kinder trauen der Welt nicht mehr. Viele schlafen nur mehr auf ihrer gepackten Tasche, um fliehen zu können, falls das Feuer wiederkommt. Sie wollen die Zelte nicht mehr von innen versperren, weil sie Angst haben, nicht schnell genug zu entkommen. Die unversperrten Zelte machen es Vergewaltigern und Dieben leicht.“
Im „Makers Space“ kann man sich selbst ein altes Fahrrad reparieren. Ein wichtiges Gefühl der Selbstermächtigung für die Burschen.
Therapie für Kinder
Die Kinder sind sich selten ihrer Notsituation bewusst. Sie leiden unter ihren Traumatisierungen. „Ich blute, schau, ich bin verletzt“, ruft die fünfjährige Roha aus Afghanistan während sie mit einem Spielzeugpony hüpft, Gabriella zu. Es wirkt wie ein normales Rollenspiel, doch dahinter steckt mehr. In den Gruppen wird ein sicherer Raum eröffnet, in dem die Kinder ihre unterdrückten Gefühle zu benennen lernen. „Hier geht es darum, einfach wiedermal Kind zu sein. Wo niemand sagt, sei still, wie im Zelt. Und wo man nicht die Sorgen der Eltern teilen muss. Hier dürfen alle Emotionen raus, die negativen, aber auch die Sehnsüchte und Träume sind erwünscht. Gabriella, eine Pädagogin, die in der Schweiz als Streetworkerin arbeitet, fragt Roha, die gerade mit einer Prinzessinnen-Puppe spielt: „Wo lebt sie? Wohin will sie reiten?“ In eine Welt, in der es weder Sorgen noch Ängste gibt. Wo man genug zu Essen hat und wo wir in einem sicheren Haus leben. Das wäre wohl Rohas Antwort, könnten wir ihre Gedanken lesen. Gabriella sieht ihre Aufgabe darin, den Selbstwert und das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken und ihnen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein.
Eine Kunsttherapeutin erzählt, wie sie hier täglich mit den Traumatisierungen der Kinder konfrontiert ist. Sie zeigt uns schockierende Kinderzeichnungen, die erlebte Gewalttaten darstellen. Sie erklärt, wie die Zeichnungen zu deuten sind. Zu kurze Arme bedeuten zu wenig Verbindung zur Umgebung, nicht eingezeichnete Haare stehen für geringen Selbstwert. Natürlich können die Bilder eine Gesprächstherapie nicht ersetzen. Besonders interessant ist der Einsatz der Materialien: „Je flüssiger die Materialien, zum Beispiel Wasserfarbe, desto näher gelangt man im kreativen Prozess ins Unterbewusste. Ton hingegen macht einem bewusst, was hier und jetzt ist und erdet.“
Carlotta leitet die Kinderabteilung im „One Happy Family“ Center.
„Eltern werden von uns mitbetreut“, erzählt Carlotta. „Ihre Schuldgefühle, die Kinder einer solchen Situation auszusetzen, sind enorm. Sie erleben sich als ohnmächtig, weil sie ihren Kindern nicht helfen können. Wir geben Tipps, was zu tun ist, wenn die Kinder sich einnässen, Albträume haben, aufhören zu sprechen, aggressives Verhalten zeigen oder sich selbst verletzen, wie Ritzen oder den Kopf gegen die Wand schlagen.“
Ein Drittel der Kinder ist zwischen 7 und 12 Jahre alt. Bei der Flucht waren die meisten kleine Kinder. Die Jugendlichen, vor allem alleinreisende Single-Männer, werden gern übersehen, sagt man uns, oder durch Vorurteile stigmatisiert. Das Warten-Lassen würde hier oft zur Methode, um den Burschen den kindlichen Schutz zu verweigern. Einfach solange warten, bis sie auf dem Papier erwachsen sind, dann ginge das Abschieben leichter. Die Situation macht den Jugendlichen jedenfalls schwer zu schaffen. Die Familie ist noch zuhause, die Zukunft weit weg. Mit Schmerzmittel wie Tramadol oder dem Antipsychotikum Haldol beamen sie sich kurzfristig in eine schöne, andere Welt.
Im „One Happy Family“-Areal werden für Jugendliche Gruppentherapien angeboten. Diese haben sich besser bewährt als Einzelsettings. In vielen Herkunftsländer gilt es als Schmach, zu einem Therapeuten zu gehen. „Sie haben durch die Gruppe das Gefühl, nicht alleine zu sein. Hier sitzen wieder alle im gleichen Boot“, erzählt Carlotta.
Eine tolle Idee ist der „Makers Space“ im OHF-Camp. Besonders für diese Burschen. Hier kann man sich nützlich machen und kommt wieder in eine Selbstermächtigung. In der Werkstätte versuchen Burschen alte Fahrräder zu reparieren und gebrauchsfertig zu machen. Gerade ist in der Werkstätte eine Ladung von kaputten Drahteseln aus Graz angekommen, die nun hergerichtet werden dürfen. Wer ein Rad hat, fühlt sich selbstbestimmt, wenigstens für kurze Zeit. Die spärliche Ausgangszeit kann damit besser genutzt werden. Selbst im Camp sind die staubigen, heißen Wege anstrengend. Und die nächste Toilette ist meist weit.
Die Psychologin Mara arbeitet mit mit stark traumatisierten Erwachsenen und Kindern.
Die schweren Fälle
Ich treffe Mara, eine italienische Psychologin in der Klinik von „Ärzte ohne Grenzen“ in der Hauptstadt Mytilini. Hierher kommen die schweren Fälle. Das Gespräch mit ihr ist bedrückend, sie wirkt frustriert. „Wir können unsere Arbeit nicht machen, schlechter könnten die Bedingungen für eine Genesung kaum sein. Hier im Camp werden die Menschen ständig getriggert und re-traumatisiert. Manche Patient*innen, die zu mir kommen wurden im Gefängnis gefoltert oder sexuell missbraucht, sie halluzinieren, haben dissoziative Störungen und posttraumatische Belastungen. Sie brauchen einen sicheren Ort für die Heilung. Hier fehlt uns die Basis für eine wirksame Therapie.“ Tatsächlich: Sobald die Patient*innen Mara wieder verlassen müssen, werden sie zurückgeworfen an einen würdelosen Platz, wo sie isoliert und gestresst sind. Manchmal, erzählt die Psychologin, seien ihre Patient*innen schon froh, wenn sie wo hinkommen wo sie eine normale Toilette haben, wo ihnen jemand zuhört oder mit dem Papierkram hilft. „Aber wenn nicht einmal solche Grundbedürfnisse erfüllt sind, kann man keine Traumata behandeln.“ Besonders die Arbeit mit Kindern sei belastend.
Mara erzählt von Achtjährigen, die sterben wollen, die aufhören zu sprechen, zu essen, sich abkapseln, nicht mehr aus ihren Zelten kommen oder sich selbst verletzen. Sie erzählt von Kindern, die von den Eltern ans Bett gefesselt werden, damit sie in der Nacht nicht weglaufen und sich nichts antun. „Helfen Sie mir, mein Kind ist verrückt“, sagen die Eltern verzweifelt zur Ärztin. „Ihr Kind ist nicht verrückt“, entgegnet sie dann, „ihr Kind verhält sich vollkommen normal unter verrückten Umständen.“ Das Schlimmste aber ist das Warten, das viele als langsames Sterben empfinden. Nur manche haben Glück, so wie Gulzar. Kürzlich habe ich einen Vidoeanruf von ihm bekommen. Er und seine Freunde haben es endlich nach Deutschland geschafft, nach Berlin. Seit Juli schläft Gulzar wieder in einer Wohnung, in einem normalen Bett. Und er ist auf der Suche nach Arbeit. Ob es im Bereich Literatur sein wird, ist fraglich, aber seine wachen Augen erzählen von der Hoffnung auf eine nun bessere Zukunft.
Heidrun Henke ist Fotografin und Storytellerin.
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