
Wenn die Sprache trennen soll
Seit zwei Jahren werden Kinder mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen in getrennten Klassen unterrichtet. Betroffene berichten über Ausgrenzung, Lehrkräfte zeigen sich unzufrieden. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher
Frau B. ist überrascht. Zwei Wochen nach Schulstart im Herbst 2018 erfährt sie, dass ihr Sohn in eine Deutschförderklasse geht. Nachdem er im Frühjahr einen Test absolvierte, erhielt die Familie keine weiteren Informationen.
In jenem Schuljahr führte die damals türkis-blaue Bundesregierung Deutschförderklassen und -förderkurse ein. Sie lösten vorherige Sprachstartgruppen und Sprachförderkurse ab. Das Ziel: Kinder und Jugendliche, deren Deutschkenntnisse als nicht ausreichend betrachtet werden, in getrennten Klassen zu fördern.
Seitdem verbringen Kinder, deren Deutschkenntnisse beim sogenannten MIKA-D-Test (Messinstrument zur Kompetenzanalyse Deutsch) als nicht ausreichend beurteilt werden, um dem Regelunterricht zu folgen, je nach Schulstufe 15 bis 20 Stunden in einer Deutschförderklasse. In Fächern wie Musik, Turnen und Zeichnen sind sie in ihrer altersentsprechenden Regelklasse. Nach spätestens vier Semestern müssen die Schüler*innen in eine reguläre Klasse wechseln, auch ohne den Test bestanden zu haben.
Warum dürfen so junge Kinder sich nicht im Umfeld von deutschsprachigen Kindern nach und nach entwickeln?, fragt eine Mutter.
Viel Kritik
Von Beginn an waren die separaten Förderklassen umstritten. Expert*innen kritisierten den isolationistischen Ansatz, das Fehlen gleichaltriger Sprachvorbilder und die Vernachlässigung anderer Fächer wie Mathematik oder Englisch. Auch der MIKA-D-Test wird von Sprachexpert*innen kritisch betrachtet, viele Kinder mit Deutsch als Erstsprache würden ihn nicht bestehen.
„Warum dürfen so junge Kinder sich nicht im Umfeld von deutschsprachigen Kindern nach und nach entwickeln?“, fragt Frau B. Seit bald drei Jahren lebt die Familie in Österreich. Frau B. kennt Wien gut, ihre Studienzeit verbrachte sie hier, sie spricht fließend Deutsch. Nachdem sich die politische Lage in der Türkei in den vergangenen Jahren mehr und mehr anspannte, und Frau B.s Mann einen Job in Österreich fand, zog die Familie mit ihren drei Kindern nach Wien.
Der Sohn besuchte ein Jahr den Kindergarten in der Bundeshauptstadt. Nächste Station: Deutschförderklasse in der Volksschule. Mit 19 weiteren Kindern verbrachte er hier den Großteil der Zeit. In der Stammklasse mit anderen deutschsprachigen Kindern fühlte er sich fremd.
Soziale Folgen
Es brauche mehr Forschung, vor allem zur Perspektive der Kinder, meint Hannes Schweiger, Assistenzprofessor für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Wien. Er sieht Sprachförderung in der Schule grundsätzlich positiv. „Wir dürfen aber nicht nur das sprachliche Lernen messen, wichtig sind auch das fachliche Lernen und vor allem die sozialen Auswirkungen“, erklärt Schweiger.
Die sozialen und psychischen Auswirkungen kritisiert auch Ali Dönmez, Logopäde und Lehrer für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Durch die getrennten Klassen würden Kinder zu „den Anderen“ gemacht. Dönmez berichtet von Fällen, wo ein Kind an einer Deutschklasse vorbeigeht und hineinspuckt. Oder einer Eltern-Whatsappgruppe, in der die Lehrerin schreibt, die Kindern sollen Prospekte zum Thema Obst mitbringen. Dies gelte für alle, außer den Kinder der Deutschförderklasse, deren Namen sie danach in Klammer auflistet.
Hannes Schweiger, Lehrer: plädiert für integrativen Unterricht (links).
Ali Dönmez, Logopäde: initiierte Petition für integrative und additive Sprachförderung (rechts).
Dönmez startete Mitte September 2020 die Online-Petition „Lasst Kinder gemeinsam lernen!“ Mehr als 11.000 Menschen haben mittlerweile unterschrieben. Davon stammen allein 2.300 Unterschriften von Lehrer*innen und Schulleiter*innen. „Es hat sich somit auch als gutes Mittel erwiesen, um kritische Stimmen im Bildungssystem zu bündeln, ohne dass jemand Angst vor Konsequenzen haben muss“, sagt der Initiator.
Das Ziel der Petition sei nicht, durch die Abschaffung der Deutschförderklassen zum vorigen Status Quo zurückzukehren. Der Logopäde fordert stattdessen: „Es braucht eine mehrjährige Verknüpfung von integrativer und additiver Sprachförderung, so dass Schüler*innen gemeinsam und voneinander lernen können und jene, die zusätzlich Sprachförderung brauchen, diese auch bekommen. Außerdem benötigen wir kleinere Gruppen, qualifizierte Sprachförderlehrkräfte und ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr“.
Die Petition habe sich auch als gute Informationsquelle erwiesen. „Ich war in Gesprächen überrascht, dass selbst Lehrpersonen oft nicht wussten, was Deutschförderklassen sind“, sagt Dönmez, „Am Anfang wurde mir vorgeworfen, ich verbreite Lügen, da Lehrkräfte meinten, bei ihnen würden keine Kinder aus der Klasse genommen werden.“ Dabei braucht es acht Kinder für die Eröffnung einer separaten Deutschförderklasse. Bei weniger als acht Kindern findet die Deutschförderung in der Regelklasse im Ausmaß von sechs Stunden statt. Den sechsstündigen Förderunterricht erhalten auch Schüler*innen, die den MIKA-D-Test mit „mangelhaften“ statt „ungenügenden“ Sprachkenntnissen abschließen.
Unzufrieden
In einer aktuellen Studie des Zentrums für Lehrer*innenbildung der Universität Wien spiegelt sich die Unzufriedenheit vieler Lehrkräfte. In einer Umfrage von 1.267 Lehrer*innen, die an Schulen mit Deutschförderklassen bzw. -förderung unterrichten, beurteilten mehr als die Hälfte das aktuelle Modell negativ oder eher negativ. Über 80 Prozent befürworten hingegen eine integrative Sprachförderung. Um diese in der Regelklasse umsetzen zu können, müssten allerdings laut Einschätzung der Befragten mindestens zwei Lehrpersonen eine Klasse mit höchstens 16 Schüler*innen unterrichten, von denen mehr als 60 Prozent Deutsch als Erstsprache sprechen.
Organisatorisch und pädagogisch stoßen Lehrer*innen immer wieder an ihre Grenzen bzw. die dieses Modells. In der Studie der Universität Wien wird eine Lehrkraft anonym zitiert, die kritisiert: „Es entsteht wenig Gemeinschaftsgefühl für die Kinder. Jene, die zuerst durch halb Europa flüchten mussten, werden dann ständig im Schulhaus herumgeschickt und haben mehr Stress als die anderen Kinder. Sie sollen Deutsch lernen, auf den MIKA-D-Test vorbereitet sein. Möglicherweise wechseln sie mit dem Semester in die Regelklasse, daher sollen sie auch den Stoff der Klasse (Schreiben, Lesen, Rechnen ...) lernen. Die Klasse ist nicht homogen, vom Vorschulkind bis zum Drittklässler sind alle Schulstufen in meiner Klasse vertreten, ich kann unmöglich auf alle eingehen mit diesem starren System.“
Laut Hannes Schweiger zeigt die internationale Forschung, dass integrative Maßnahmen, also das gemeinsame Lernen aller Schüler*innen, mit zusätzlichem Förderangebot besser funktionieren würde. Wichtig sei grundsätzlich eine kleine Gruppengröße und eine entsprechende Qualifizierung der Lehrkräfte. Schweiger, der ebenfalls die Petition unterstützt, befürwortet außerdem mehr schulautonomen Spielraum: „Viele Schulen haben sich über Jahre Expertise erarbeitet und Strukturen aufgebaut. Das geht nun verloren, wenn ein Modell über alle darübergestülpt wird.“
Enttäuschung und Erfolge
Der Sohn von Frau B. verbrachte sein erstes Volksschuljahr in der Förderklasse. Er lernte darin bereits mit den Büchern der zweiten Klasse. Im Mai absolvierte seine Klasse den MIKA-D-Test. Im Juni, zwei Tage vor Schulende, erhielt er die Nachricht, dass seine Deutschkenntnisse immer noch ungenügend seien. Von 20 Kindern wurden nur zwei Kindern ausreichende Kenntnisse bescheinigt. Für die anderen gilt: zurück in die erste Klasse.
„Er hatte sich schon so auf die zweite Klasse gefreut, die Enttäuschung war riesig“, erzählt Frau B. Sie wurde aktiv, schrieb diverse Stellen an, ihr Sohn besuchte die Sommerschule. Mit Erfolg: Im darauffolgenden September durfte er den Test wiederholen und bestand. So erging es jedoch nicht allen. Der Statistik Austria zufolge konnte im Schuljahr 2018/2019 ein Drittel der Kinder nach einem Jahr Deutschförderklasse als ordentliche Schüler*innen in die Regelklasse gehen.
Ein Erfolg? Für Ali Dönmez nicht, denn im Umkehrschluss heißt das, dass zwei Drittel es nicht geschafft haben. Dönmez möchte die bisher gesammelten Unterschriften Bildungsminister Heinz Faßmann so bald als möglich symbolisch überreichen, ein Termin ist angefragt. Die Petition kann jedoch weiterhin unterschrieben werden und soll die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. In der Zwischenzeit ist Frau B.’s Sohn aufgrund der Corona-Maßnahmen noch im Distance learning und freut sich auf den Moment, wenn er endlich in seine Klasse gehen darf.
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