Wettlauf mit der Zeit
Christoph Riedl ist Grundlagenreferat für Asyl, Integration und Menschenrechte bei der Diakonie Österreich. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Eva Maria Bachinger, Fotos: Karin Wasner
Seit einem Jahr regieren ÖVP und FPÖ. Was hat sich aus Ihrer Sicht seitdem verändert?
Es hat sich verändert, dass man nun auf Teufel komm raus versucht, Leute abzuschieben. Mit der Lehrlingsdebatte erleben wir einen traurigen Höhepunkt. Es werden keinerlei humanitäre Erwägungen mehr einbezogen, was vorher schon öfters der Fall war. Gerade jene, die sich besonders gut integriert haben, sind die Ersten, die abgeschoben werden. Das hat sich wirklich umgedreht. Es gab im Innenministerium früher einen eigenen Beirat für Altfälle, dem ich als Vertreter der Diakonie auch angehört habe. Da galt noch die Einschätzung, dass jemand, der gut integriert ist, gut Deutsch spricht, eine Ausbildung absolviert oder einen Job in Aussicht hat, ein klassischer Bleiberechtsfall ist. Ich laste es dieser Regierung an, aber auch den vorhergehenden Regierungen, dass es bis heute keine vernünftige Regelung für die Gewährung von Bleiberecht oder humanitärem Aufenthaltsrecht gibt. Nun haben wir Fälle, wo es zu einem Wettlauf mit der Zeit kommt, ob nämlich ein Antrag auf Bleiberecht vorher überhaupt noch geprüft werden kann, bevor abgeschoben wird.
Argumentiert wird, dass Recht Recht bleiben muss, wenn ein negativer Asylbescheid vorliegt.
Da sage ich, das stimmt so nicht. In der Grundrechtcharta und in der Menschenrechtskonvention ist das Recht auf ein faires Asylverfahren verankert, aber auch das Recht auf Privat- und Familienleben. Man kann nicht einfach sagen, dass das eine Recht mehr wiegt als das andere. Wir haben das Problem, dass beim Antrag auf ein humanitäres Aufenthaltsrecht, der unabhängig vom Asylverfahren gestellt werden kann, keine aufschiebende Wirkung eingebaut ist. Das heißt: Man kann zwar bei negativem Verlauf des Asylverfahrens einen Antrag auf humanitären Aufenthalt stellen, aber die Behörde muss nicht abwarten, wie das Verfahren in der zweiten Instanz ausgeht. Was dazu führt, dass man in der ersten Instanz weitreichende Integrationsleistungen einfach negiert, auch bei Menschen, die auf Maturaniveau Deutsch sprechen, die sich in Vereinen engagieren, die viele Fortschritte gemacht haben und bereits tief verwurzelt sind.
Bundeskanzler Sebastian Kurz meint, dass es zum Beispiel besser wäre, einem anerkannten Flüchtling eine Lehrstelle zu vermitteln, als Asylwerbern, die noch keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben.
Die Aufnahmerichtlinie der EU besagt, dass jemand, der länger als neun Monate in der ersten Instanz im Asylverfahren ist, Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen muss. Dass man Jugendlichen eine Ausbildung vorenthält, ist noch einmal ein anderes Kapitel. Es ist absurd, dass man jungen Menschen eine Ausbildung verweigert und ihnen zuschaut, wie sie auf der Bettkante sitzen, bis sie erwachsen werden. Da macht man sich an diesen Jugendlichen schuldig, aber auch an Österreich, da wir diese Leute, wenn sie ausgebildet sind, dringend brauchen würden. Asylwerber sollten nach einer kurzen Eingangsphase Zugang zum Arbeitsmarkt haben, um für sich selbst und ihre Familie sorgen zu dürfen, das ist eine langjährige Forderung sämtlicher NGOs. Ein Asylverfahren sollte in jeder Instanz sechs Monate dauern, also innerhalb eines Jahres abgeschlossen sein, alles andere ist ohnehin außer der Norm. Wenn die Verfahren aber Jahre dauern, dann müssen die Integrationsleistungen letztlich mehr wiegen. Sie dann noch abzuschieben ist oft ein Verstoß gegen das Menschenrecht auf Privat- und Familienleben.
Es kommen aber auch viele, die um Asyl ansuchen, auch mangels Alternativen, aber nicht wirklich politisch Verfolgte oder Kriegsflüchtlinge sind. Wie soll man damit umgehen?
Ich bin sehr dafür, Migration und Asyl konsequent und streng zu trennen. Wenn man ein Asylverfahren ernst nimmt, dann gibt es naturgemäß negative Bescheide, die sollten auch durchgesetzt werden. Wenn es ein rechtsstaatlich faires Verfahren war, mit entsprechender Rechtsberatung und am Ende kein Asylgrund vorliegt, dann sollte die Person auch abgeschoben werden. Wenn man ohnehin am Ende alle hierlässt, dann könnte man sich das Asylverfahren sparen. Internationalen Schutz zu bekommen, das muss auch gerechtfertigt sein. Das ist richtig so. Aber: Wenn ein Asylverfahren viel zu lange dauert – an dieser Stelle möchte ich betonen, dass es in den seltensten Fällen die Asylwerber und die NGOS sind, die Verfahren verzögern, sondern es sind meistens die Behörden, die so lange brauchen – und wenn jemand hier gut integriert ist, dann kann man sich nicht auf das Asylverfahren berufen. Dann greift eben das Recht auf Privat- und Familienleben und man muss einen Aufenthaltstitel aufgrund humanitärer Gründe gewähren. Das verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Derzeit haben wir aber Fälle wie jenen eines mehrfachen Taekwondo-Staatsmeisters aus Bad Gastein, der ehrenamtlich gearbeitet hat, Deutsch auf hohem Niveau spricht, hier verheiratet ist, und den man trotzdem zwei Tage vor seiner Verhandlung in der Bleiberechtssache ohne seine Papiere nach Russland abgeschoben hat. Eine besondere, neue Brutalität ist übrigens auch, dass man Familien nun getrennt abschiebt.
Die Forderung nach beschleunigten Verfahren gibt es ebenfalls schon lange. Warum passiert das nicht? Die Regierung könnte sich damit Fälle, die für einen medialen Aufschrei sorgen, sparen.
Wir fordern seit vielen Jahren schnellere Verfahren, aber sie sollen auch qualitativ hochwertig sein. Die Qualifikation der MitarbeiterInnen in der Asylbehörde muss besser werden, damit wir nicht so viele Aufhebungen in der zweiten Instanz haben. Da muss man ansetzen. Denn eine Beschleunigung um der Beschleunigung willen, die dazu führt, dass noch mehr Bescheide in der zweiten Instanz aufgehoben werden, ist nicht sinnvoll und auch teuer. Letztes Jahr lag die Fehlerquote bei über 42 Prozent. Das ist unglaublich hoch. Leider will man derzeit aber die Beschleunigung der Verfahren über eine Beschneidung des Rechtschutzes erreichen. Die unabhängige Rechtsberatung soll aufgekündigt werden und die Betroffenen sollen eine Rechtsberatung durch das Innenministerium bekommen. Das ist eine Absurdität sondergleichen. Das wäre so wie wenn die Vereinigung der Hausvermieter ihre Mieter dazu zwingen würden sich bei Mietrechtsstreitigkeiten an einen ihrer Anwälte zu wenden. Es kann ja nicht eine ausgelagerte Stelle des Innenministeriums die eigenen Bescheide überprüfen, ob sie gut waren oder nicht. Die Rechtsvertretung im Asylverfahren müssen natürlich nicht unbedingt NGOs machen, man könnte auch andere Modelle finden, die eine unabhängige Beratung und Vertretung garantieren. In anderen Ländern ist das meist auch anders organisiert. Aber wenn man den Zugang zur Rechtsberatung auf aussichtsreiche Fälle beschränken will, dann durch eine Vorprüfung durch ein unabhängiges Gericht und nicht eine ausgelagerte Stelle des Ministeriums. Das wäre ein schwerwiegender Angriff auf den Rechtsstaat und ist abzulehnen. Das wurde auch in einem offenen Brief von führenden Verfassungsexperten, vielen Kulturschaffenden, Politikern und Kirchenvertretern unterstützt. Jede Beschleunigung im Asylverfahren muss zu mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Verfahrensgarantien führen, sonst kommen die Grundrechte unter die Räder.
Können Sie noch weitere Punkte nennen, die sich in diesem Jahr verändert haben?
Die große Frage der Unterbringung von Asylsuchenden. Wir haben den niederösterreichischen Landesrat Gottfried Waldhäusl. Ich habe das Gefühl, dass der hier offenbar für die Bundesregierung einiges ausprobiert. Der Umgang mit besonders schutzbedürftigen Personen macht uns große Sorge. Die Schließung der seit Jahrzehnten bestehenden, spezialisierten Flüchtlingseinrichtung St. Gabriel der Caritas hatte zur Folge, dass nun Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen keine adäquate Versorgung mehr bekommen. Das ist eine dramatische Entwicklung, die rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigen und auch nicht EU-rechtskonform ist. Der Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen ist ebenfalls absolut nicht so wie er sein soll. Es kann keine Unterscheidung geben zwischen Jugendlichen, die von der Kinder- und Jugendhilfe betreut werden und Jugendlichen, die einen Asylantrag gestellt haben und, während sie noch minderjährig sind, in Erwachsenenquartiere in entlegenen Gebieten untergebracht werden. Noch immer werden österreichweit in der Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen Tagsätze bezahlt, die nicht einmal die Hälfte ausmachen, die man einem österreichischen Jugendlichen zugestehen würde. Das ist alles nicht neu, aber es hat sich die Lage noch einmal verschärft.
Wie sehen Sie die Ankündigung die Mindestsicherung für Flüchtlinge zu kürzen?
Das kann rechtlich auch nicht gehen. Der erste Versuch, in Niederösterreich anerkannten Flüchtlingen nur noch die Hälfte der Mindestsicherung auszubezahlen, wurde vom Verfassungsgerichtshof aufgrund von Diskriminierung gestoppt. Kurze Zeit später versucht man mit dieser Ankündigung genau dasselbe wieder. In der Genfer Flüchtlingskonvention ist klar festgehalten, dass anerkannten Flüchtlingen dieselben Leistungen zustehen wie Staatsbürgern. Das ist auch geltendes europäisches Recht. Es wird versucht, sich einfach darüber hinwegzusetzen. Es besteht nun die Gefahr, dass die Mindestsicherung auch für Österreicher gekürzt wird, und darunter sind auch viele Kinder.
Glauben Sie wirklich, dass die Regierung bewusst und wissentlich Politik gegen Kinder macht?
Es macht den Eindruck, dass man Politik gegen Armutsbetroffene macht. Es taucht überall dieser Leistungsbegriff auf. Nur wer leistet und ins System einzahlt, soll bekommen. Alleinerziehende Mütter sind zum Beispiel besonders betroffen. Sie leisten zwar sehr viel für die Gesellschaft, aber ich glaube nicht, dass die Regierung diese Gruppe vor Augen hat, wenn sie von Leistungsträgern spricht. Die Mindestsicherung ist keine Versicherungsleistung und ist nur das unterste Netz der sozialen Absicherung, das allen zur Verfügung stehen muss. Denn was ist mit kranken oder behinderten Menschen? Sollen sie auch weniger bekommen, wenn sie nichts ins Sozialsystem einzahlen können?
Es gibt auch in Europa und in Österreich eine wachsende Ungleichheit zwischen Vermögenden und Armen. Viele fühlen sich abgehängt und sind möglicherweise wirklich abgehängt und wählen dann Parteien, die ihnen eine Lösung versprechen. Hat hier nicht auch linke Politik versagt?
Das große Problem ist der Neidkomplex, mit dem hier gearbeitet wird. Diese Politik braucht die Flüchtlinge als Sündenböcke. Das funktioniert nicht nur bei rechten Wählern, sondern auch bei jenen, die früher SPÖ gewählt haben. Es wäre wünschenswert, wenn die Parteien im linken Spektrum hier geschlossener auftreten würden. Andererseits glaube ich, dass es durchaus christlich-soziale Wähler gibt, die so eine Politik auch nicht wollen. Selbst in der FPÖ gibt es Wähler, die die ersten Opfer dieser Maßnahmen sein werden. Aufwachen werden die Menschen wohl erst, wenn es sie selbst betrifft und das kann noch dauern. Ich hoffe, dass dann alle Parteien wieder beginnen Sozialpolitik für alle Menschen zu machen.
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