
„Zu sagen, ich bin Österreicherin, hat sich immer illegal angefühlt.“
Trinh Nguyen wurde in Österreich geboren und lebt seither hier. Weil ihre Eltern „staatenlos“ sind, wurde sie ihr Leben lang als „Ausländerin“ behandelt – ohne Pass, ohne damit verbundene Rechte. Zur Lage staatenloser Menschen in Österreich. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Sophia Reiterer
Zweiter Schultag in der Klasse 6C. Die Lehrperson verkündet: „Dieses Jahr planen wir eine Klassenfahrt nach Barcelona!“ Leuchtende Augen, erste Pläne werden geschmiedet. Trinh Nguyen freut sich auch. Aber sie weiß, dass es für sie einen Mehraufwand bedeuten wird, mit ihren Klassenkolleg*innen mit nach Barcelona zu fliegen. Sie kennt das Procedere bereits: Bei der Spanischen Botschaft anrufen, abklären, ob sie ein Visum braucht; Zeit aufwenden, um dann bei der Einreise zu zittern, ob sie herausgefischt wird, ob ihr grauer Pass in Ordnung ist oder ob sie mal wieder gesondert behandelt wird. Trinh Nguyen ist in Österreich geboren. Trotzdem hatte sie bis vor kurzem keine österreichische Staatsbürgerschaft. Den grauen Konventionspass musste sie alle zwei Jahre verlängern lassen, immer im Bewusstsein darüber, dass Österreich sie jederzeit ausweisen kann. Trinh könnte nicht von sich behaupten, Vietnamesin zu sein. Aber als Österreicherin galt sie auch nicht. Absurd? Ja, weil sie als staatenloses Kind in Salzburg geboren wurde.
Für staatenlose Menschen kann schon eine Reise zum Problem werden.
Was ist Staatenlosigkeit?
In Österreich leben laut Statistik Austria derzeit in etwa 18.900 Menschen, die keine Staatsbürgerschaft besitzen. Diese Schätzung kann aber deutlich von der tatsächlichen Zahl abweichen, weil es kein einheitliches Feststellungsverfahren für staatenlose Personen in Österreich gibt. Welche Herausforderungen bringt Staatenlosigkeit mit sich? Was bedeutet „staatenlos“ überhaupt?
Der hauptsächliche Grund für Staatenlosigkeit ist, dass Eltern ohne Staatsangehörigkeit den Status an ihre Kinder vererben, etwa staatenlose Palästinenser* innen, Kurd*innen oder Angehörige der Bidoon in Saudi-Arabien oder der Rohingya in Myanmar. Dass jemand die Staatsangehörigkeit verliert, kann unterschiedliche Ursachen haben. Leonhard Call vom European Network on Statelessness kennt verschiedene Gründe für einen Verlust der Staatsangehörigkeit: „Das Zerfallen eines Staates, geziel- te Ausbürgerung von Personengruppen oder auch bewusst frauendiskriminierende Gesetze können dazu führen, dass Menschen in die Lage geraten, staatenlos zu sein.“ Doch was bedeutet „staatenlos“ überhaupt? Bereits bei der Definition zeigt sich, wie schwierig es ist, Staatenlosigkeit zu (er)klären. „Staatenlos zu sein, heißt, etwas beweisen zu müssen, das es nicht gibt“, fasst der Kultur- und Sozialanthropologe und Jurist Leonhard Call das grundlegende Problem zusammen. Betroffene müssen beweisen, dass kein Staat der Welt sie als Staatsangehörige ansieht. Weil es unmöglich ist, einen Nachweis über die nicht-existente Staatsbürgerschaft von allen Staaten der Welt zu erbringen, wird diese Bestätigung nur von Ländern verlangt, zu denen eine Beziehung besteht. Erst dann kann im Aufenthaltsland eine Staatsbürgerschaft beantragt werden. Eine Beziehung zu einem Land besteht zum Beispiel dann, wenn die Eltern der Betroffenen in dem Land geboren wurden. Im Fall von Trinh Nguyen ist das Vietnam. Beide Eltern sind in Vietnam geboren, unabhängig voneinander nach Österreich geflohen und haben sich hier kennengelernt. „Ich habe bis heute nicht ganz verstanden, wie meinen Eltern die Staatsbürgerschaft abhandengekommen ist“, meint Nguyen. Nguyens Eltern haben aufgrund mangelnder Aufklärung nicht gleich einen österreichischen Pass beantragt. Sobald die Kinder dann auf die Welt kamen, hat sich das als Problem herausgestellt. In unterschiedlichen Ämtern waren unterschiedliche Informationen eingetragen. So war Trinh Nguyen auf dem Papier schon vietnamesische Staatsbürgerin, dann war sie staatenlos oder ihre Staatsangehörigkeit war unbekannt. Mittlerweile ist sie österreichische Staatsbürgerin. Aber der Weg dahin war nicht nur steinig, sondern führte mehrere Male im Kreis.
Trinh Nguyen: in Österreich geboren und aufgewachsen. Trotzdem lange „staatenlos“.
Jeder Mensch hat das Recht auf eine Staatsbürgerschaft
„Jeder Mensch hat das Recht auf eine Staatsbürgerschaft“, stellt Leonhard Call klar. Als zentrale Referenzperson für diese Aussage nennt er Hannah Arendt. Sie hat sich dafür stark gemacht, dass ein Recht auf eine Staatsangehörigkeit in die allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit aufgenommen wird. Menschenrechte sind ohne eine politische Gemeinschaft nämlich weniger wert. Die Staatsbürgerschaft ist Call zufolge „das Zutrittsticket zu politischer Mitbestimmung und der beste Zugang zu Leistungen des alltäglichen Lebens.“ Für Trinh Nguyen ist die österreichische Staatsbürgerschaft die Garantie, in diesem Land bleiben zu können. Zudem erlaubt ihr die Staatsbürgerschaft, wieder dahin zu reisen, wohin sie möchte. Auf ihrem grauen Konventionspass war vermerkt, dass dieser in Vietnam nicht gültig sei. Eine Einreise nach Vietnam war daher für Nguyen ausgeschlossen. Die Frage „Warst du schon einmal in Vietnam, da wo deine Eltern herkommen?“ musste sie bisher immer mit „Nein, ich darf nicht.“ beantworten. Auch kann sie jetzt legal behaupten, Österreicherin zu sein. „Das hat sich sonst immer irgendwie illegal angefühlt“, meint sie dazu. Dass ihre Eltern und einige ihrer Brüder immer noch staatenlos sind, hinterlässt ein mulmiges Gefühl. An Staatenlosigkeit ist per se kein Aufenthaltsrecht gebunden.
Erleichterter Zugang zur Staatsbürgerschaft
In Österreich haben staatenlose Menschen im Zeitraum ihres 18. bis zum 21. Geburtstag einen erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft. Die Voraussetzungen dafür sind: zehn Jahre lang den Hauptwohnsitz in Österreich gehabt zu haben; vor dem Antrag muss man fünf Jahre durchgehend in Österreich gelebt haben. Anders als bei den üblichen Staatsbürgerschaftsverfahren sparen sich die von Staatenlosigkeit Betroffenen wenigstens den Nachweis einer bestimmten Einkommenshöhe, über Deutschkenntnisse und auch die Geschichte und Kultur Österreichs wird nicht abgeprüft. Leonhard Call betont, dass dieser „erleichterte“ Zugang nur die „Minimalvariante“ nach den internationalen Bestimmungen ist, zu denen sich Österreich verpflichtet hat. Der mindestens vorgeschriebene Antragszeitraum wurde erst im März 2022 auf drei statt wie bisher zwei Jahre verlängert. In anderen Staaten ist der Zugang zur Staatsbürgerschaft laut Call wesentlich einfacher. Alle Nachbarstaaten Österreichs bürgern staatenlose Kinder, die im Land geboren sind, automatisch ein oder auf Antrag fünf Jahre nach der Geburt.
Einheitliche Feststellung, wer staatenlos ist
In Frankreich gibt es dafür sogar eine eigene Behörde, die die Menschen bei rechtlichen und praktischen Fragen berät. Für Call ist das vorbildhaft: „Jegliche Verbesserung in dem Bereich ist eine Win-Win Situation, sowohl für Betroffene als auch für den Staat selbst.“ Er hält es für absolut sinnwidrig, so wie in Österreich keine einheitlichen Regeln zu haben. Praktisch bedeute das mehr Aufwand für die Behörden, während die Betroffenen mit einer beängstigenden Anzahl an Formularen und Zugangsvoraussetzungen allein gelassen werden. „Wäre das Verfahren einheitlich, würde sich die Zahl der Staatenlosen und Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit ziemlich sicher mit einem Schlag minimieren. Aber das ist eine politische Entscheidung“, schließt Call den Appell ab.
„Jeder Mensch hat das Recht auf eine Staatsbürgerschaft.“ Leonhard Call
„Zu viel Zeit und zu viele Nerven“
Von einem einfachen Verfahren oder gar einer zentralen Behörde konnte Nguyen nur träumen. Insgesamt dauerte es dreieinhalb Jahre, „zu viel Zeit und zu viele Nerven“ bis sie ihren grauen Konventionspass endlich durch einen österreichischen Pass austauschen konnte. Mitverantwortlich waren die verwirrende Datenlage, fehlende Informationen und die schlechte Erreichbarkeit ihrer Sachbearbeiterin. Unzählige Stunden gingen dafür drauf, Formulare zu beantragen und irgendetwas nachzuweisen. Am Ende kostete die Staatsbürgerschaft Nguyen nicht nur Zeit, sondern auch Geld: stolze 2.033 Euro ließ sich die Republik für das Dokument einer Frau bezahlen, die in Österreich geboren ist und nie woanders gelebt hat. Zusammen mit Wien-Reisen, bei denen ihre Mutter als Übersetzerin für die Korrespondenz bei der vietnamesischen Botschaft dabei sein musste, mit Kosten für Formulare, Übersetzungen und Nachweise, für Passfotos, den Reisepass und den Staatsbürgerschafts- Nachweis kommt Nguyen sogar auf Ausgaben von 2.600 Euro. Als Trinh Nguyen 2018 den ersten Antrag einreichte, war sie 20 Jahre alt und hätte vom erleichterten Zugang profitieren können. Damals wurde ihr die Staatsbürgerschaft aufgrund eines „nicht gesicherten Lebensunterhaltes“ nach langer Bearbeitungszeit im September 2019 nicht zuerkannt. Dass es einen erleichterten Zugang gegeben hätte, hat ihr niemand gesagt. Leonhard Call zufolge ist dieser erleichterte Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft ohnehin eine rein symboli- sche Bestimmung.
„Seit der Einführung 1989 wurde dieser erleichterte Zugang nur einmal angewendet“, weiß Call. Somit sei auch der von vielen befürchtete Pull-Faktor widerlegt. Ihren Weg ist zumindest Trinh Nguyen trotzdem gegangen. Sie hat ihren Bachelor- Abschluss in Pädagogik bereits in der Tasche. Begleitend zum Studium begann sie, als Jugend- und Freizeitpädagogin zu arbeiten. Demnächst wird Nguyen ihr Masterstudium und somit ihre Ausbildung als Sozialarbeiterin abschließen. Das Bachelorstudium hat sie als staatenlose ‚Auslandsstudentin‘ angefangen und ihr Masterstudium wird sie als österreichische, ordentliche Studentin beenden. Und das, obwohl sie von Beginn ihres Studiums an schon hier gewohnt, gearbeitet und studiert hat. Nur auf dem Papier haben sich ein paar Buchstaben verändert. Mit einer solch großen Wirkung.
Sophia Reiterer arbeitet als Kommunikationswissenschaftlerin in Salzburg. Sie forscht u.a. zu sozialer Ungleichheit, Klima und Medien.
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