
Offener Brief von über 50 Schulen gegen Abschiebungen
Mehr als 50 Schulen haben sich zusammengeschlossen und einen Protestbrief gegen die Abschiebungen der vergangenen Tage an die Bundesregierung geschrieben. Der Brief enthält einen flammenden Appell für den Vorrang des Kindeswohls und eine Unterstützung der #hiergeboren-Initiative von SOS Mitmensch für ein faires Einbürgerungsrecht für hier geborene Kinder:
Sehr geehrter Herr Innenminister Nehammer,
sehr geehrte Bundesregierung,
sehr geehrte Damen und Herren,
Wir richten uns auf diesem Wege an Sie, da uns die Ereignisse der vergangenen Wochen keine andere Wahl gelassen haben. Die Abschiebungen der jungen Schüler*innen aus der Stubenbastei und der HLW10 haben uns zutiefst schockiert. Sie sind eines Landes wie Österreich unwürdig und beschämend. Wir haben uns daher als unabhängige Schüler*innen von über 50 Schulen aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland zusammengeschlossen, um klarzustellen, dass wir solche Abschiebungen und die damit verbundene menschenfeindliche Politik nicht mittragen.
In Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern ist festgehalten, dass jedes Kind Anspruch „auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung“ hat und „das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“ muss. In Österreich müssen alle Kinder sicher und ohne Angst leben können. Kein Kind darf in Furcht leben müssen, eines Tages von bewaffneten Polizeibeamt*innen aus der eigenen Wohnung gerissen zu werden. Kein junger Mensch darf unrechtmäßig aus seinem Leben gerissen werden. Niemandem darf einfach so seine Zukunft gestohlen werden. Kindeswohl muss ausnahmslos Vorrang haben! Und auch Kinderrecht muss Recht bleiben!
Wir Schüler*innen können nicht länger zusehen, wie unsere Rechte mit Füßen getreten werden. Wer denkt, das Engagement der Schüler*innen des GRG1 Stubenbastei und der HLW10 wären Einzelfälle, der irrt. Wir stehen geschlossen hinter den beiden Schulen und unterstützen sie in ihrem Kampf für die Einhaltung der Kinderrechte und gegen unmenschliche Abschiebungen.
Wir sind viele – Über 50 Schulen, die zehntausende Schüler*innen repräsentieren. Wer Tina und weitere aus ihrem Leben reißt, der reißt auch einen Teil von uns heraus! Wer sie angreift, der greift uns alle an. Solange Sie nicht eine grundlegende Veränderung schaffen, werden wir Schüler*innen nicht vergeben und auch nicht vergessen. Unsere Generation ist jetzt auf Ihre Humanität angewiesen. Wenn es gesetzeskonform ist, Kinder in dieser Art aus ihrer Heimat – Österreich – zu reißen und ihnen ihrer Zukunft zu berauben, dann stimmt etwas mit unseren Gesetzen nicht und sie müssen geändert werden. Sich hier auf Paragraphen stützend seiner humanitären Verantwortung zu entziehen, ist für uns Schüler*innen aus Ostösterreich untragbar.
Für Fälle, wie die von Tina, Sona und co. ist die Wiedereinsetzung einer unparteiischen und unabhängigen Härtefallkommission von höchster Wichtigkeit. Auch Bezugspersonen der Betroffenen, Vertreter*innen der jeweiligen Gemeinde und humanitärer Organisationen müssen hier ein Mitspracherecht haben. Es muss gemeinsam über die jeweiligen Fälle entschieden werden, nicht distanziert und von oben herab.
Um ein gerechtes Leben für alle in Österreich lebenden Kinder sicherzustellen, muss auch darüber diskutiert werden, mehr Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. So muss etwa dem Diskriminierungsverbot, dem Schutz der Privatsphäre und der Berücksichtigung des Kindeswillens mehr Platz eingeräumt werden.
Der Passus "Fremde, die von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sind, dürfen nicht ausgewiesen werden." muss, wie bereits Jahrzehnte lang bis 2018, wieder Einzug ins Fremdenrecht finden.
Wir halten es abschließend für essenziell, über eine Staatsbürgerschaftsrechtsreform zu diskutieren und unterstützen die Petition „JA zur Einbürgerung hier geborener Kinder!“ von SOS Mitmensch, die bisher bereits über 30 Tausend Unterstützungserklärungen sammeln konnte.
Wir hoffen auf eine Antwort und appellieren an Ihre Menschlichkeit. Hören Sie hin, wenn Ihre Jugend und Ihre Schüler*innen mit Ihnen sprechen wollen und Veränderung verlangen!
Mit freundlichen Grüßen
Die Schüler*innen der Schulen…
G/ORG23 St. Ursula
GRG6 Rahlgasse
GRG21 Ödenburger Straße
BGRG8 Albertgasse
GRG1 Stubenbastei
GRG21 Franklinstraße 26
GRG6 Amerlingstraße
HGBLuVA, die Graphische
BAfEP8 Lange Gasse
GRG17 Geblergasse
BRG16 Schuhmeierplatz
GRG 16 Maroltingergasse
GRG2 Sigmund-Freud Gymnasium
BHAK/BHAS13 Maygasse
HLTW21 Wassermanngasse
HLMP/FS Hetzendorf
GRG11 Gottschalkgasse
HLTW13 Bergheidengasse
HTL Donaustadt
GRG3 Kundmanngasse
Theresianum Favoritenstraße 15
Zwi Perez Chajes Schule
Islamische Fachschule für soziale Berufe
BG13 Fichtnergasse
RGWRG8 Feldgasse
RG/ORG23 Antonkriegergasse
BRG6 Marchettigasse
BRG18 Schopenhauerstraße
BRG9 Glasergasse
BRG3 Boerhaavegasse
GRG10 Laaerberg
BRG14 Linzerstraße
GRG13 Wenzgasse
BG11 Geringergasse
HTBLuVA Spengergasse
GRG5 Rainergasse
HBLA Herbststraße
BHAK/BHAS10 Pernerstorfergasse
BG/BRG10 Ettenreichgasse
GRG21 Bertha von Suttner
Akademisches Gymnasium Wien
BG/BRG10 Pichelmayergasse
ÖSTG Seitenstetten
BORG Deutsch-Wagram
BHAK/BHAS Bruck/Leitha
BG/BRG Gänserndorf
BG/BRG Lilienfeld
BRG Waidhofen/Ybbs
BG/BRG Stockerau
HTBLuVA Waidhofen/Ybbs
BG/BRG Tulln
BG/BRG Berndorf
BG/BRG Wieselburg
BHAK/BHAS Eisenstadt
ORG des Theresianum Eisenstadt
BG/BRG Mattersburg
BG/BRG/BORG Eisenstadt
#hiergeboren-Kampagne
SOS Mitmensch hat gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen eine große Kampagne gegen den Ausschluss hier geborener und hier aufgewachsener Kinder und Jugendlicher von der österreichischen Staatsbürgerschaft gestartet. Mehr als 220.000 in Österreich geborene junge Menschen sind betroffen und die Zahl wächst mit jedem Tag!
--> Link zum Video der Pressekonferenz
--> Link zur #hiergeboren-Kampagnenseite
Ausgrenzung von Geburt an
„Wir erleben, dass Kinder in Österreich vom Tag ihrer Geburt an staatlich ausgegrenzt und in ihren Rechten und Möglichkeiten eingeschränkt werden. Sie werden vom Staat zu „Fremden“ erklärt, obwohl sie von hier sind“, begründet Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch, die Dringlichkeit der Kampagne für faire Einbürgerungsbestimmungen.
Österreich Schlusslicht bei Einbürgerung
Laut einer aktuellen Erhebung des Migrant Integration Policy Index (MIPEX) ist Österreich gemeinsam mit Bulgarien absolutes Schlusslicht in Europa beim Zugang zur Einbürgerung. Verglichen wurden 52 europäische und außereuropäische Länder. Österreich erhält als nur eines von fünf Ländern die Negativbewertung „unfavourable“.
Mehr als 300.000 Betroffene
SOS Mitmensch verweist darüber hinaus auf Zahlen der Statistik Austria, wonach mehr als 220.000 in Österreich geborene Menschen bislang nicht die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten haben. Weitere 80.000 Personen leben bereits seit frühester Kindheit in Österreich , aber sind bisher ebenfalls von der Einbürgerung ausgeschlossen geblieben. Und jeden Tag kommen in Österreich durchschnittlich weitere 49 Kinder zur Welt, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten.
Pressekonferenz zum Start der #hiergeboren-Kampagne von SOS Mitmensch
Kinder müssen Mindesteinkommen nachweisen
Hauptgrund dafür sind die im internationalen Vergleich extrem hohen Einbürgerungshürden. Selbst hier geborene Kinder müssten über ihre Eltern ein Mindesteinkommen nachweisen, um eine Chance auf Einbürgerung zu haben. Für viele Eltern mit niedrigem Vollzeiteinkommen, Teilzeitbeschäftigung oder ohne Erwerbsarbeit ist das aber unmöglich.
Einbürgerung bleibt oft unerreichbar
Die Staatsbürgerschaftsexpertin Antonia Wagner betont, dass die Einbürgerung „ein Schlüssel zur rechtlichen, politischen und sozialen Gleichstellung“ und somit „ein wichtiges Integrationsinstrument“ sei. Das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht trage dieser Integrationsfunktion jedoch nur unzureichend Rechnung „Die Einbürgerung bleibt auf Grund zahlreicher Hürden für viele unerreichbar. Insbesondere Kindern, deren Eltern nicht das geforderte Einkommen erreichen oder aus anderen Gründen von der Einbürgerung ausgeschlossen sind, wird ein Rechtsanspruch auf die Einbürgerung verwehrt“, so Wagner.
Staatsbürgerschaftsexpertin Antonia Wagner zum in Österreich extrem restriktiven Einbürgerungsrecht
Keim der Spaltung
Der Verfassungsjurist Prof. Heinz Mayer konstatiert eine demokratiepolitisch problematische Entwicklung. Eine Demokratie nehme Schaden, wenn Menschen die in Österreich geboren wurden und hier ihren Lebensmittelpunkt haben, von Wahlen ausgeschlossen seien, betont Mayer. „Damit schafft man zwei Gruppen von Menschen: 'die, die zu uns gehören' und 'die, die nicht zu uns gehören'. Eine derartige Politik trägt den Keim der Spaltung in sich“, erklärt der Verfassungsjurist.
Zugeschaltet aus dem Homeoffice warnt Verfassungsjurist Prof. Heinz Mayer vor den problematischen demokratiepolitischen Folgen der Nicht-Einbürgerungspolitik
Menschen sollten nicht ausgegrenzt werden
Die in Österreich geborene 18-jährige Schülerin Mereme Merlaku findet es schade, dass sie bislang nicht die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Merlaku, die eine Handelsakademie besucht und nebenbei arbeitet, sieht sich als Teil der österreichischen Bevölkerung. Sie spricht sich gegen Ausgrenzung aus. „Menschen die in Österreich geboren sind, hier leben, arbeiten und Steuern an den Staat zahlen, sind genauso ein Teil der österreichischen Bevölkerung und sie sollten nicht aufgrund ihres ausländischen Migrationshintergrunds vom Wahlrecht und der Demokratie ausgegrenzt werden“, betont die Schülerin.
Schülerin Mereme Merlaku, selbst hier geboren, aufgewachsen, aber ohne österreichische Staatsbürgerschaft, appeliert für ein gerechteres Einbürgerungsrecht
Sehr unfaire Situation
Die 17-jährige Schülerin Aylin Ayyildiz ist ebenfalls in Österreich geboren und hat ihr ganzes Leben hier verbracht, ohne bislang die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten zu haben. Ayyildiz findet es „sehr unfair“, dass Menschen, die in Österreich geboren sind, keine österreichische Staatsbürgerschaft haben können und nicht wählen können. „Ich habe meine Schulpflicht in Österreich absolviert, besuche aktuell die zweite Klasse einer Handelsschule, gehe nebenher geringfügig arbeiten und fühl mich eigentlich auch als Österreicherin. Ich finde es komisch, dass ich hier nicht wählen darf, weil wählen ist wichtig in einer Demokratie“, betont Ayyildiz.
Schülerin Aylin Ayyildiz, in Österreich geboren, aber ohne österreichische Staatsbürgerschaft, berichtet von den Nachteilen des Staatsbürgerschafts-Ausschlusses
Kinder nicht für Herkunft bestrafen
Auch die Schülerin Mirjana Milenkovic ist von den hohen Einbürgerungshürden betroffen. Sie kam in Österreich zur Welt, ist jetzt 17 Jahre alt, besucht eine Handelsakademie in Wien, aber hat bislang nicht die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen bekommen. „Ich finde, ein Kind sollte nicht dafür bestraft werden, nur weil es ausländische Wurzeln hat“, sagt Milenkovic. Die Schülerin betont, dass es wichtig sei, allen Kindern von Anfang an das Gefühl zu geben, dazuzugehören.
Schülerin Mirjana Milenkovic, hier geboren und ohne österreichische Staatsbürgerschaft, hat kein Verständnis für die Benachteiligung von Kindern, deren Eltern keine österreichische Staatsbürgerschaft haben
Ausgrenzung endlich beenden
Ziel der Kampagne von SOS Mitmensch ist ein faires Einbürgerungsrecht für alle in Österreich lebenden Menschen und ganz besonders für hier geborene und aufgewachsene Kinder und Jugendliche. „Die staatliche Ausgrenzung hier geborener und hier aufgewachsener Kinder und Jugendlicher muss beendet werden. Es sollte in Österreich keine Ungleichbehandlung von Kindern geben. Und es sollte keine Wahl mehr geben, bei der hunderttauende hier verwurzelte Menschen von der Demokratie ausgeschlossen sind“, so SOS Mitmensch-Sprecher Pollak.
SOS Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak ruft dazu auf, im Rahmen der #hiergeboren-Petition "JA zur Einbügerung hier geborener Kinder" zu sagen
Um dieses Ziel zu erreichen hat SOS Mitmensch unter dem Motto „#hiergeboren“ eine Petition gestartet und ruft auf der Webseite hiergeboren.at zum Unterschreiben auf.
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