
Schamlose Normalisierung
Die geplatzte Regierung setzte auf verbale Ausgrenzung und Untergriffe und war damit erfolgreich. Ein Konzept, das wohl noch nicht ausgedient hat. Die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak über Stil und Inhalt dieser Politik. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Zoran Sergievski, Fotos: Karin Wasner
Beginnen wir mit der Gretchenfrage: Muss ich als Demokrat, als Journalist, mit ‚Identitären‘ reden?
Wenn Sie etwas über diese Gruppe anhand eines Interviews erfahren wollen: sicher. Warum nicht?
Nun heißt es über ‚Identitäre‘ aber, sie wollen den Diskurs zerstören.
Da geht es um unterschiedliche Aspekte. Wollen diese Leute tatsächlich interviewt werden? Ich denke ja, weil sie sind, wenn man das so salopp formulieren darf, ‚mediengeil‘. Insofern kann ich mir nicht vorstellen, dass in einem solchen Fall der Diskurs zerstört würde.
Der andere Fall beträfe eine Diskussion mit TeilnehmerInnen, in der sie vielleicht kritisiert würden oder Position beziehen müssten, also einen sachlichen Dialog führen müssten. Wenn das, was Sie meinen, stimmt, würden manche Identitäre dann eher nicht auf Argumente eingehen, nicht wirklich zuhören, oft unterbrechen, Trugschlüsse verwenden, und Höflichkeitskonventionen durchbrechen. Da gibt es viele Möglichkeiten.
Ende April sagte Ex-Vizekanzler Strache, ‚der große Austausch‘ sei ein ‚Begriff der Realität‘. Dabei ist es die zentrale Verschwörungstheorie der ‚Identitären‘. Die Neos übernahmen die Phrase augenzwinkernd, Stichwort ERASMUS. Was wird sich durchsetzen: die Normalisierung oder die Umdeutung?
Austauschen kann man natürlich vieles. Man kann Bücher in der Bibliothek austauschen, es gibt Studentenaustausch. Der Begriff ‚Bevölkerungsaustausch‘ betrifft aber nicht nur den Gebrauch in der Programmatik der Identitären, sondern er geht zurück auf NS Propaganda, ein Euphemismus für ‚Umvolkung‘, wodurch damals unterstellt wurde, Juden würden das deutsche Volk ‚unterwandern, zersetzen‘, usw. Die Begriffe ‚Umvolkung‘ und ‚Überfremdung‘ stehen mit ‚Bevölkerungsaustausch‘ in der Verschwörungstheorie der ‚Identitären‘ in einem intertextuellen Zusammenhang. Es geht bei Letzteren vor allem um Angst vor dem Islam und um Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten, um ein Bedrohungsszenario, das bewusst propagiert wird. Es wird behauptet, diese Menschen würden unsere Kultur, unser Land, Europa insgesamt demographisch komplett verändern, aus der weißen christlichen Mehrheit würde also eine Minderheit. Und dies würde von jemanden manipuliert, beispielsweise wird der ungarisch-jüdische Philantrop George Soros in diesem Zusammenhang genannt – ein bekanntes antisemitisches Stereotyp, nämlich jenes der ‚jüdischen Weltverschwörung‘ wird angesprochen! Ähnliches kommt von Viktor Orbán. In Ungarn stellt sich die Situation allerdings anders dar: es gibt kaum Einwanderung nach Ungarn, sondern hunderttausende junge Ungarn wandern aus. Wenn man also keine Einwanderung will, müsste man die eigenen jungen Menschen durch bessere Lebensperspektiven im Land halten, um einem Rückgang der Bevölkerung gegenzusteuern. Dabei muss man betonen, dass es hier um mindestens zwei Definitionen für ‚Bevölkerung‘ geht; einerseits mittels Staatsbürgerschaft definiert, also staatsnational; andererseits wie bei den Identitären, kulturnational gedacht, also eine ethnische Definition. Es handelt sich beim Letzteren um die Imagination eines homogenen ‚Volkes‘, das es so natürlich nicht gibt und niemals gegeben hat.
Bei den Herabwürdigungen der FPÖ vermisste man von Kanzler Kurz oft eine deutliche Distanzierung. Was sagt das generell über den ‚neuen Stil‘, den Kurz gerne betont?
Kurz wurde fast täglich mit so genannten Einzelfällen konfrontiert, die natürlich keine Einzelfälle sind, sondern ein systematisches Muster ergeben. Dieses Muster weist auf die Agenda der FPÖ hin, die u.a. im ‚Handbuch freiheitlicher Politik‘ aufgelistet sind. Eine ausgrenzende, nativistische Politik, eine anachronistische Haltung zu Geschlechterrollen. Es gibt viele inhaltliche Elemente, die man auch bei Le Pen und der US-amerikanischen Alt-Right findet.
Wenn der Kanzler die sogenannten ‚roten Linien‘ immer wieder beschwört, die sich aber ständig verschieben, müsste er letztlich den Gesamtzusammenhang ablehnen. Damit müsste er aber die Programmatik dieser Partei ablehnen, mit der er ja 2017 eine Regierungskoalition eingegangen ist.
Im Essay „Schamlose Normalisierung“ haben Sie 2018 aufgezeigt, wie die ÖVP rechtspopulistische Positionen im Wahlkampf salonfähig macht. Ist das etwas, das sich in der Regierungsrhetorik fortgesetzt hat?
Damals ging es darum, einen von vielen akzeptierten Sündenbock zu schaffen, nämlich die sogenannten „illegalen Migranten“. In der Wissenschaft spricht man aber von ‚irregular migrants‘, von irregulären Migranten. Das negativ konnotierte Attribut ‚illegal‘ suchen Sie etwa im globalen Migrationspakt vergeblich. Der Nationalratswahlkampf baute aber genau auf diesem Bedrohungsszenario auf: Schließung der Balkanroute, Verhinderung illegaler Migration, Grenzsicherung; dass man diese ‚Bedrohung‘ abwenden und Österreich schützen wird. In dieser Rhetorik ist viel von der FPÖ übernommen worden. Es wird spannend, wie sich dieser Diskurs weiterentwickelt. Zuletzt gab es immer mehr Kritik, auch von renommierten internationalen Medien. Auf die Dauer führt das sicherlich zu einem Druck auf die ÖVP, weil diese doch stark international ausgerichtet ist. Andererseits lässt sich mit einer solchen Symbolpolitik von anderen, komplexen Herausforderungen und politischen Inhalten ablenken.
Sind unsere Medien zu nett zu Kurz?
Ob das nett oder nicht nett ist, kann und will ich so nicht beurteilen. Aber es ist offensichtlich, dass kritische Auseinandersetzungen nicht erwünscht sind. Ich erinnere mich an eine ‚Im Zentrum‘-Diskussion, wo der Falter als ‚linksextrem‘ bezeichnet wurde; die Verortung als ‚links‘ – ähnlich wie in den USA der Begriff ‚liberal‘ – wird immer mehr negativ konnotiert. Anstatt sich auf eine sachliche Diskussion einzulassen, werden ad hominem Argumente eingebracht. Damit wird Kritik einfach weggewischt. Das geht bei internationalen Medien wahrscheinlich nicht ganz so einfach.
Welche Sprachbilder sind besonders ‚schamlos‘?
Was meine ich mit ‚schamlos‘? Früher kam es noch zu Rückziehern, nach sogenannten Sagern. Etwa in Form der typischen Haider’schen Entschuldigungen, wie ‚Eigentlich muss ich mich entschuldigen, aber‘. Damit hatte sich Haider zwar formal entschuldigt, dennoch gleichzeitig signalisiert, dass er dazu gezwungen wurde. Wir bezeichnen diese Strategie als ‚kalkulierte Ambivalenz‘. Sogar solche Rückzieher vermisse ich bei der heutigen FPÖ. Es gibt sie nur, wenn die gesetzlich festgelegte rote Linie überschritten wird, also bei Antisemitismus, Holocaust-Leugnung, beim ‚Rattengedicht‘ und beim ‚Nazi-Liederbuch‘. Dann kann es auch zu einem Rücktritt eines Politikers kommen, aber es kann auch später zum Rücktritt vom Rücktritt kommen, wenn man etwa an Udo Landbauer denkt. Traditionelle Konventionen des Dialogs, der Argumentation, und der Höflichkeit gelten häufig nicht mehr. Mächtige Menschen dürfen sich kommunikativ vieles erlauben, was früher negativ sanktioniert wurde. Man denke etwa an Donald Trumps vielfache Entgleisungen.
Was wäre ein konkretes Beispiel für diese Sprachbilder?
Wir leben in einer Zeit der Umbenennungen, der strategischen Unwahrheiten und zynischen Euphemismen, beispielsweise die Umbenennung vom Aufnahmezentrum in ‚Ausreisezentrum‘. Dieser Zynismus, der darin besteht, dass Menschen, die flüchten müssen und um ihr Leben fürchten, dann endlich in Sicherheit ankommen und lesen: Reisen Sie wieder aus, noch dazu freiwillig. Man will also niemanden aufnehmen. Aber den Begriff ‚Abschiebezentrum‘ konnte man doch nicht einfach verwenden. Also greift man stattdessen zum Euphemismus ‚Ausreisezentrum‘. So kommt man in der Ableitung dieses Euphemismus vom Aufnahme- zum Abschiebe- zum Ausreisezentrum.
Aktuell wird wieder allerorten Leistung beschworen. Wer wird damit angesprochen?
Ich kann natürlich nicht als Ökonomin, sondern nur als Diskursforscherin versuchen, das dahinter stehende Bild zu analysieren: Im neoliberalen Gedankengut wird unter anderem unterstellt, jeder sei – grosso modo – für sich selbst verantwortlich. Das impliziert weiter: Wenn jemand arbeitslos ist, hat er oder sie sich nicht genug bemüht, es liegt also nicht an strukturellen Bedingungen. Daraus wird weiter argumentativ abgeleitet: Offenbar ist die Motivation, Arbeit zu suchen, nicht groß genug. Wenn das Arbeitslosengeld oder andere Sozialleistungen nicht so hoch wären, so wird weiter argumentiert, wären Menschen daher eher bereit, ja gezwungen, Arbeit zu suchen und anzunehmen, welche auch immer. Das spielt beispielsweise den Ball an jene zurück, die in schwierigen, oft prekären Beschäftigungsverhältnissen stehen. Viele strukturelle Veränderungen werden in dieser Argumentation nicht zur Kenntnis genommen, etwa dass in manchen Berufen die Löhne nicht adäquat gestiegen sind, dass die Schere zwischen arm und reich immer mehr auseinanderklafft, usw.
Auch Ressentiments werden geschürt: Wieso bekommen manche ‚Zugewanderte‘ etwas oder genauso viel und ‚wir‘ nicht? So werden strukturell Benachteiligte gegeneinander ausgespielt. Meine Frisörin hat mir erzählt, dass sie nach 40 Jahren Vollzeitarbeit nur 1300 Euro netto verdient, plus Trinkgelder. Dass sie enttäuscht ist, kann ich gut verstehen. Es kommt in diesen Debatten häufig zur Instrumentalisierung von Ressentiments, Neid und Angst vor Verlust, und nicht zu einem differenzierten Umgang mit großen nationalen wie auch globalen Problemen.
In Medien und über die Lager hinweg spricht man von der Verhärtung der Fronten. Keiner rede mehr miteinander. Wie schlimm ist es wirklich um die Streitkultur bestellt?
Ich mag solche Generalisierungen überhaupt nicht. Man muss Räume schaffen, wo man reden, argumentieren, diskutieren und streiten kann. Räume, wo bestimmte Regeln des Dialogs herrschen. Diese kommunikative Kompetenz gibt es, man muss sie ermöglichen und fördern. Ich selbst wohne im 10. Bezirk. Da gibt es etwa die monatlichen Treffen ‚Mitten in Favoriten‘, organisiert von der Bezirksvertretung, mit eingeladenen Vortragenden und anschließender Diskussion. Das findet einmal im Monat statt, in einem typischen Wiener Beisl, wo das Schnitzel sieben Euro kostet. Solche Abende sind immer sehr gut von Alt und Jung besucht. Insofern bin ich nicht so pessimistisch.
Warum nicht?
Weil wir wissen, dass es ein Bedürfnis von Menschen ist, miteinander zu reden. Es gibt aber nicht genügend Angebote zur Partizipation. Das halte ich für ein großes Manko. Das, was im Fernsehen als Polarisierung erlebt wird, ist häufig intendierte Skandalisierung, Infotainment. Das Gegenüber-Stellen von Personen besitzt ja einen Unterhaltungswert. Schlimmer ist es in den Social Media. Daher steht Bildung vor großen Herausforderungen. Man muss von Kindesbeinen an lernen, wie man Social Media sinnvoll in den Alltag integriert. Man ist ja nicht online und dann offline, diese klaren Grenzen bestehen so nicht mehr.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass großes Interesse an Diskussion und Information besteht, wie ich an vielen Orten in Österreich vorgetragen habe. Deshalb glaube ich, die Zukunft liegt häufig in der unmittelbaren Nachbarschaft, wo man eben miteinander ins Gespräch kommt.
Nach den Neuwahlen ist eine Fortsetzung der schwarzblauen Koalition keineswegs ausgeschlossen. Rechnen Sie damit, dass sich damit auch die bekannte Rhetorik fortsetzen wird oder haben sich Neiddebatten irgendwann einmal erschöpft?
Ich bin keine Prophetin; es wäre zu hoffen, dass solche Ereignisse zu kollektiven Lernprozessen führen. Ob das der Fall sein wird, weiß natürlich niemand.
Zur Person: Die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak ist Distinguished Professor and Chair in Discourse Studies an der Lancaster University und der Universität Wien. Dzt: Visiting Fellow am IWM, Wien. Zahlreiche Publikationen, aktuell: „Kinder der Rückkehr. Geschichte einer marginalisierten Jugend“ (Ernst Berger & Ruth Wodak) erschien 2018 im Springer Verlag. Ihr Buch „Politik mit der Angst“ in der Edition Konturen (2016) geht detailliert auf rechtspopulistische Rhetorik und Ideen ein.
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