
Handlungsbedarf: Österreich sicher wie nie
Bestandaufnahme vier Jahre nach der Flüchtlingsaufnahme 2015. Welche Prognosen haben sich bewahrheitet und in welche Richtung driftet die Politik?
Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kommentar: Alexander Pollak, Illustration: Petja Dimitrova
Wenn Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz über das Jahr 2015 spricht, verwendet er gerne das Wort „Katastrophe“. Er will damit nicht auf die katastrophalen Bedingungen verweisen, vor denen Menschen geflohen sind, sondern „Katastrophe“ steht bei ihm für die seiner Ansicht nach durchwegs negativen Auswirkungen auf Österreich. Noch drastischere Bilder wurden von seinem bisherigen blauen Koalitionspartner gemalt. In ihren Untergangsszenarien prognostizierte die FPÖ „explodierende Kriminalität“ und eine ebenso „explodierende Arbeitslosigkeit“.
Bezüglich der Kriminalitätsentwicklung hat das Bundeskriminalamt eine gänzlich andere Wahrnehmung. „Österreich ist so sicher wie noch nie“, betitelte die Behörde kürzlich eine Aussendung. Die Gesamtkriminalität sei im Jahr 2018 auf den niedrigsten Wert seit mehr als 20 Jahren gesunken, die Aufklärungsquote zugleich gestiegen. Auch im Bereich der Gewaltkriminalität habe es insgesamt einen deutlichen Rückgang gegeben, einzig bei Morden und Mordversuchen sei ein Anstieg zu verzeichnen gewesen. Laut den Zahlen des Bundeskriminalamts ist die Kriminalität gerade in dem Bundesland am stärksten zurückgegangen, in dem sich die meisten Geflüchteten niedergelassen haben, nämlich in Wien. Die Bundeshauptstadt verzeichnete 2018 den niedrigsten Kriminalitätswert seit Jahrzehnten. Nicht nur das macht sie in mehreren aktuellen internationalen Bewertungen zu einer der lebenswertesten Städte dieser Erde.
Auch die Arbeitslosigkeit geht in Österreich zurück. Seit Ende 2016 sank die Zahl der als arbeitslos gemeldeten Personen von Monat zu Monat. Inzwischen finden auch immer mehr Geflüchtete einen Job, vermeldete kürzlich das Arbeitsmarktservice. Dank guter Konjunktur, Beschäftigungsinitiativen, Integrationsprogramme und hoher Motivation können immer mehr von ihnen am Arbeitsmarkt Fuß fassen.
Das heißt nicht, dass Flucht keine Herausforderungen und Probleme mit sich bringt, insbesondere für die Betroffenen selbst. Ein Teil der Geflüchteten tut sich mit dem neuen Umfeld schwer. Nicht alle kommen mit den vorherrschenden Strukturen und Alltagskulturen in Österreich zurecht. Viele Geflüchtete leiden darunter, dass sie ihre Familie nicht nachholen können, weil die diesbezüglichen Bestimmungen massiv verschärft wurden. Ein Teil hat traumatische Erlebnisse und Gewalterfahrungen noch nicht verarbeitet. Viele kämpfen zudem mit dem Erlernen der deutschen Sprache, insbesondere jetzt, wo Sprachkurse gekürzt werden und der soziale Druck massiv erhöht wird.
Darüber hinaus hat in Österreich, wer eine dunklere Hautfarbe hat, als MuslimIn eingeordnet wird, nicht akzentfrei Deutsch spricht ist oder einen Namen hat, der als „nicht einheimisch“ bewertet wird, immer wieder mit Ablehnung und Vorurteilen zu kämpfen. Spaltende und rassistische Kampagnen durch Teile der Politik befeuern dieses Problem.
Gleichzeitig gibt es auch Druck aus Familien und Communities, Lebensstile nicht zu sehr zu verändern. Und viele, die daran arbeiten, gut Fuß zu fassen, werden durch die vom Innenministerium nun verstärkt betriebenen Asylaberkennungs-Verfahren in Unsicherheit und psychologische Krisen gestürzt. Hinzu kommt eine dramatische Wende der Politik. Aus einer sich entwickelnden Integrationspolitik wurde eine handfeste Desintegrationspolitik. Drei Viertel der unter der türkis-blauen Regierung umgesetzten Maßnahmen seien desintegrativ, konstatierten 21 Expertinnen und Experten in einem gemeinsam mit SOS Mitmensch präsentierten Bericht. So wurden eine Vielzahl an Integrationsprogrammen gestrichen, Integrationsmittel an Schulen gekürzt und Ausbildungswege für Asylsuchende versperrt.
Fast könnte man meinen, die nun durch den Ibiza-Skandal implodierte Regierung hätte sehr gezielt daran gearbeitet, die bislang überraschend positive Bilanz der großen Flüchtlingsaufnahme zu zerstören.
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