
"Wir wünschen uns Integration ab Tag eins"
Die Zahl der Aberkennungsverfahren hat unter Schwarz-Blau zugenommen, erzählt Andrea Eraslan-Weninger vom Integrationshaus Wien. Das sorgt für Unsicherheit und mangelnde Perspektiven. Ein Lokalaugenschein. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Reportage und Fotos: Florian Bayer.
Narges ist 18 Jahre alt und im Jahr 2016 aus Afghanistan nach Österreich gekommen. Sie ist froh, denn sie hat heute die Zusage für eine Lehrstelle als Frisörin bekommen. Das hat sie den meisten ihrer knapp 40 KollegInnen voraus, mit denen sie den JAWA Next 10 Kurs im Integrationshaus Wien besucht. JAWA steht für „Jugendliche auf dem Weg in die Arbeitswelt“ und hilft jungen Asylberechtigten, subsidiär Schutzberechtigten und MigrantInnen im Alter von 16 bis 21 Jahren auf ihrem Weg ins Arbeitsleben. Sie werden bei ihrer Suche nach einer Lehrstelle oder einer Ausbildung unterstützt, und das seit 13 Jahren. Der aktuelle Kurs läuft seit Mitte Jänner und beinhaltet u.a. Sprachförderung, Mathematik, EDV und Kommunikation.
Geübt wird auch, wie man Lebensläufe verfasst oder Jobinterviews führt. Und so gibt es im Laufe des Kursjahres immer wieder neue Gesichter, was im Sinne der Erfinder ist: Der Kurs (32 Wochenstunden) ist mit begleitender individueller Betreuung und Mentoring extra so angelegt, dass man während des Jahres einsteigen kann. Das zahlt sich aus: Die große Mehrheit der Jugendlichen kann innerhalb weniger Monate weitervermittelt werden.
Die KursteilnehmerInnen sind bei unserem Besuch etwas schüchtern, sprechen aber gut Deutsch. Die meisten kommen aus Afghanistan, dem Irak und Syrien, aber auch die 16-Jährige Ana aus Serbien, ihr Wunschberuf ist Hotelfachfrau, oder die 19-jährige Mulki aus Somalia treffen wir in der Gruppe. Mulki würde gerne zahnärztliche Fachassistentin oder pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin werden. Bis dahin dauert es wohl noch, doch sie ist auf einem guten Weg.
Zunehmend negative Asylanträge
Das Integrationshaus befindet sich in einem unscheinbaren Gebäude im Nordbahnviertel im Zweiten Wiener Gemeindebezirk. Flüchtlingen, die in der Grundversorgung Wien (GVS) sind, wird hier Unterstützung angeboten. Das reicht vom Wohnen über den Kontakt mit Ämtern und Behörden bis hin zur Unterstützung bei der Arbeitssuche. Auch psychosoziale Hilfe ist ein Thema: „Neben Traumata durch die Flucht ist es vor allem die Angst vor einem negativen Asylbescheid oder einem Verschwinden der Lebensgrundlage, die den Menschen immer mehr Sorgen bereiten“, sagt Zelimir Dordevic, psychosozialer Berater in der Psychosozialen Beratungsstelle des Integrationshauses.
Im vergangenen Jahr wurden Asylanträge zunehmend negativ beurteilt, auch bereits bestehende Aufenthaltstitel wurden wieder aufgehoben. Begründet haben das die Behörden etwa damit, das sich die Umstände, aufgrund derer ein subsidiärer Schutz ausgesprochen wurde, im Herkunftsland geändert haben. Mittlerweile dürfen subsidiär Schutzberechtigte selbst bei anhaltenden schweren Krankheiten zum Teil nicht mehr in Österreich bleiben, berichtet Dordevic aus seiner Erfahrung.
Inakzeptable Fehlerquote
„Es ist viel schwieriger geworden, Asyl zu bekommen und es auch zu behalten. Vor allem bei Afghanen gibt es viele negative Asylbescheide und Aberkennungsverfahren“, erzählt auch Andrea Eraslan-Weninger, Geschäftsführerin des Integrationshaus. „Die Aufhebensquote des Bundesverwaltungsgerichts von Bescheiden in Asylangelegenheiten liegt bei 42 Prozent. Das ist eine völlig inakzeptable Fehlerquote in erster Instanz“, kritisiert Eraslan Weninger. Sie verweist auch auf die vielen Bleiberechtsfälle, bei denen inhaltlich oft vollkommen willkürlich entschieden würde. Ein Problem sei auch weiterhin, dass Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden, obwohl dieses Land, das immer wieder durch Attentate und Kriegshandlungen in die Schlagzeilen kommt, nach wie vor nicht sicher ist.
Wie aber stellt sich die Situation für Asylwerbende in Österreich dar? Ein wesentliches Hindernis sei der fehlende Zugang zum Arbeitsmarkt, obwohl eine EU-Richtlinie einen effektiven Arbeitsmarktzugang vorsieht. „Andere Länder wie etwa Deutschland haben ihren Arbeitsmarkt entsprechend geöffnet und gute Erfahrungen gemacht. In Österreich hingegen wurde der Erlass, dass Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren in Mangelberufen arbeiten dürfen, gekippt“, sagt Eraslan-Weninger. Sie berichtet von Fällen, in denen bestens integrierte Lehrlinge direkt aus den Betrieben abgeschoben wurden. Das Ergebnis ist ein Vertrauensverlust bei den Menschen, sie verlieren die Perspektive.
Rekord bei Aberkennungsverfahren
Gibt es rechtliche Probleme, dann hilft die Rechtsberatung des Integrationshauses. Zwei Juristen unterstützen beim Ausfüllen von Dokumenten, beim Aufzeigen von Fehlern und im Instanzenzug bei unrechtmäßigen Asylbescheiden, die in letzter Zeit stark zugenommen haben. „Über den Köpfen der Antragsteller schwebt ein Damoklesschwert – es herrscht oft große Unsicherheit, wie es mit ihnen weitergeht“, sagt Eraslan-Weninger. Fast jeder kennt jemanden im näheren Umfeld, der oder die von Abschiebung bedroht ist. Das mache den Menschen Angst. Allein im letzten Jahr gab es fast 5.000 Aberkennungsverfahren – das war vor der türkis- blauen Regierung noch nicht so.
Eine relativ neue Schikane für Hilfsorganisationen ist ein kürzlich von der Regierung lanciertes Bundesgesetz, wonach „externe Leistungsbringer“ in der Rechts- und Rückkehrberatung durch eine staatliche Agentur ersetzt werden sollen. Das ist besonders im Bereich der Rechtsberatung bedenklich, weil die Rechtsberater damit dienstrechtlich dem Innenministerium unterstehen würden. Eine unabhängige Rechtsberatung und Vertretung von Betroffenen wäre dann nicht mehr möglich. Der Gesetzesentwurf von ÖVP/FPÖ hat den Nationalrat bereits erfolgreich passiert und liegt nun beim Bundesrat.
Glücklicherweise gebe es eine lebendige Zivilgesellschaft und viele Freiwillige, betont Eraslan-Weninger. An den vier Standorten des Integrationshauses, alle in Wien Leopoldstadt, helfen zusätzlich zu den 140 MitarbeiterInnen auch 250 Freiwillige mit – als Buddies, Trainerinnen und Betreuer. Besonders wertvoll sind eigene Erfahrungen im Asylsystem und Sprachkenntnisse, die viele der freiwilligen Helfer und Helferinnen mitbringen. Neben Bildung und Beratung bietet das Integrationshaus auch Wohnprogramme an, etwa Wohngemeinschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen 18 und 25 Jahren.
Das Leben schwergemacht
Ein Problem für viele ist die reformierte Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe, die wenige Wochen vor dem Ende der Regierungskoalition beschlossen wurde. „Von 365 Euro kann niemand leben. Mindestsicherung kann man das tatsächlich nicht mehr nennen“, ist sich Sozialarbeiter Dordevic sicher. Zusätzlich eingeführte Höchstgrenzen und Auflagen, wie etwa Deutschkenntnisse mindestens auf B1-Niveau würden in Zukunft vor allem jenen das Leben schwermachen, die am meisten Unterstützung bei der Integration ins Arbeitsleben bräuchten.
Auch die Finanzierung der Arbeit des Integrationshauses sei ein ständiger Kampf, sagt Eraslan-Weninger. Deshalb kann nur auf Projektbasis geplant werden. Aufgrund der Kürzungen von Bundesmitteln wurde kürzlich – nach 20 Jahren – ein Projekt für psychisch kranke Asylwerber gestrichen. Zwar erhalte man vom Bildungs-, Frauen- und Sozialministerium weiterhin Unterstützung, es sei aber insgesamt schwieriger geworden. Größter und wichtigster Fördergeber ist nach wie vor der Fonds Soziales Wien, mit dem es eine sehr gute Zusammenarbeit gäbe. Dennoch ist das Integrationshaus auf Spenden angewiesen, die immerhin 15 Prozent des gesamten Etats ausmachen.
„Insbesondere die letzten anderthalb Jahre waren von politisch verursachter Desintegration geprägt und nicht von Integration. Die Regierung hat alles unternommen, damit eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt und Integration nur ja nicht gelingen kann“, kritisiert Eraslan-Weninger. Eine der größten Herausforderungen sei es aber auch, einen gemeinsamen, konstruktiven EU-Kurs zu finden: „Die EU funktioniert leider gut wenn es um Abschottung und Ausgrenzung geht, aber schlecht bei der Aufnahme von Flüchtlingen und fairen Asylverfahren.“
Ihre dringlichsten Wünsche an die heimische Politik sind eine Verbesserung der Standards in der Grundversorgung, eine Rückkehr zur Mindestsicherung auf hohem Niveau, leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt – bei fairer Entlohnung – und eine Entschärfung des Asyl- und Fremdenrechts. In vielen Punkten sei Wien ein Vorbild, zumindest innerhalb Österreichs. Das wichtigste aber sei eine Abkehr vom Rechtsruck und der politisch beförderten gesellschaftlichen Entsolidarisierung, so Eraslan-Weninger: „Wir wünschen uns, dass Flüchtlinge und Migranten ab Tag eins integriert werden.“
Florian Bayer hat Journalismus & Medienmanagement, Globalgeschichte und Philosophie in Wien studiert. Er ist freier Journalist (u.a. Die Furche, zeit.de, profil.at, Südwind) und interessiert sich besonders für Flucht und Asyl, Menschenrechte, Europapolitik und Zivilgesellschaft.
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