Am Limit
Im Gegensatz zu anderen Ressorts wird die Justiz seit Jahren finanziell und ressourcenmäßig ausgedünnt. Der Jurist und Richter Oliver Scheiber warnt vor den Konsequenzen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Magdalena Stern, Illustration: P.M. Hoffmann
Schon länger mahnen prominente Stimmen aus Rechtwissenschafts- und Justizkreisen, dass die österreichische Justiz finanziell ausgehungert wird. Übergangs-Justizminister Clemens Jabloner warnte im Juli 2019 vor den Entwicklungen: „Ich würde meinen, die Justiz stirbt einen stillen Tod.“ Im Frühsommer 2019 initiierte die ehemalige Justizministerin Maria Berger eine Petition zur „Rettung der Justiz“, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Davon gibt es einige. Berichtet wird, dass viele Bezirksgerichte nur noch auf Notbetrieb laufen, während 400 Planstellen allein im Kanzleibereich abgebaut worden sind. Eine der lautesten Stimmen ist der langjährige Richter und Leiter des Bezirksgerichts Meidling, Oliver Scheiber. Wir haben mit ihm über den gegenwärtigen Zustand der Justiz, Schwächen in der Strafverfolgung und die Rolle des Verfassungsgerichtshofs gesprochen.
Qualitätsverlust
„Die Justiz ist sehr am Limit“, konstatiert Scheiber. Zwar habe man das schon vor der Corona-Krise gesehen, doch in der aktuellen Situation werden die Mängel noch deutlicher. Sowohl personell wie auch bei der Ausstattung herrsche ein eklatanter Ressourcenrückstand. Konkret bedeutet das, dass nicht einmal genügend Laptops vorhanden sind, um in der Covid-Krise alle MitarbeiterInnen im Home-Office das Weiterarbeiten zu ermöglichen.
Anders verhält sich das etwa bei der Polizei, sie sei um ein Vielfaches besser ausgestattet. Auch personell sprechen die Zahlen im internationalen Vergleich für sich: In Österreich gibt es rund vier Staatsanwältinnen und Staatsanwälte je 100.000 Einwohner; in anderen EU-Staaten liegt der Schnitt laut Europarat dreimal so hoch.
Noch vor einiger Zeit war es laut Scheiber üblich, an mittelgroßen Bezirksgerichten in jedem Bereich (Familien-, Zivil- oder Strafrecht) mindestens drei erfahrene MitarbeiterInnen im Kanzleidienst zu beschäftigen. Heute hingegen sei es immer öfter so, dass nach Pensionierungen die Stellen nicht nachbesetzt werden können. Scheiber dazu: „Wir haben im vergangenen Jahr zum ersten Mal eine Grenze überschritten, als eine ganze Reihe von Gerichten Schwierigkeiten hatten, einen ordentlichen Betrieb aufrechtzuerhalten“. Mit einer Entspannung der Situation sei nicht zu rechnen, würden in den kommenden Jahren doch viele Pensionierungen anstehen, während kaum Nachwuchs aufgebaut werden konnte. Die Gründe dafür sieht der Jurist vor allem darin, dass man aufgrund fehlender Finanzierung Vollzeitstellen zunehmend durch einjährige PraktikantInnen oder Lehrlinge besetzt hat. Es wurden also immer öfter fixe Arbeitskräfte durch Kurzzeitarbeitsverhältnisse ersetzt. Darunter leide die Qualität. „Jede Organisation braucht, um die Qualität ihrer Arbeit aufrechtzuerhalten, einen Erfahrungsschatz. Zwar kann man mit wechselnden Arbeitskräften arbeiten, allerdings nur dann, wenn das nicht mehr als die Hälfte der Belegschaft betrifft. Im Justizbereich werden in Zukunft aber die Schlüsselarbeitskräfte fehlen. Es gibt keinen Pool mehr an erfahrenen, gut vernetzten MitarbeiterInnen. Das wirkt sich langfristig sicherlich negativ auf die Qualität aus.“ Eine Möglichkeit, diesen Entwicklungen gegenzusteuern, sieht Scheiber u.a. bei den Gehaltseinstufungen. Derzeit sind Ressorts wie jenes der Finanz oder des Inneren attraktiver, weil dort die Gehaltseinstufungen für BeamtInnen höher sind. Will man die Justiz als Arbeitgeber attraktiver machen, könnte man als ersten Schritt im Gehaltsschema nachziehen. „Eigentlich“, so Scheiber, „geht es gar nicht um so viele Stellen. Wenn bundesweit im Kanzleibereich um 200 bis 300 Stellen aufgestockt wird, wäre das schon eine gute Perspektive.“
Zweiklassenjustiz
Ende des vergangenen Jahres erschien Scheibers Buch „Mut zum Recht“. Darin umreißt der engagierte Richter, der auch Vorstandsmitglied von SOS Mitmensch ist, verschiedene Problembereiche der Justiz, lässt dabei auf sehr konkrete Weise seine Erfahrungen einfließen und bringt einem verständlich die Schwachstellen des österreichischen Justizsystems näher. Auf Lösungsansätze vergisst er dabei nicht. Kritik übt der Autor etwa an der Praxis der Strafverfolgung. Anstatt jene zu belangen, die der Gesellschaft nachhaltigen Schaden zufügen, würden Ressourcen dafür verschwendet, kleine Delikte zu ahnden. Werden die vorhandenen Ressourcen tatsächlich effizient eingesetzt? Für den Juristen wäre die Maxime eigentlich klar: Dort, wo dem Staat am meisten Schaden droht, sollten die vorhandenen Mittel vorrangig eingesetzt werden.
Das bezieht sich auf den Bereich der Umwelt-, Finanz- und Wirtschaftskriminalität. Sie bedroht mitunter die Existenz von Millionen von Menschen, und dennoch gibt es hier oft nur ein geringes Risiko, strafrechtlich verfolgt zu werden. Stattdessen verfolgt man in einer Art Zweiklassenjustiz indische Zusteller auf ihren klapprigen Mopeds, weil deren Führerschein im Herkunftsland oftmals nur über korrupte Behördenwege zu erhalten ist. Lange mussten etwa auch RegalbetreuerInnen von Supermärkten fürchten, im Fall verdorbener Waren persönlich belangt zu werden, und nicht etwa die FilialleiterInnen – weil das rechtlich so geregelt war. Scheiber kritisiert, dass es immer das schwächste Glied einer Kette trifft und damit Menschen, die sich vielleicht nicht so gut auf Deutsch ausdrücken können oder die nur unzureichend über ihre Arbeit belehrt wurden. Das gilt für Bauarbeiter ebenso wie für überlastete Schneeräumer, die immer öfter von Hausverwaltungen als Subunternehmer eingesetzt werden, und eine Klage am Hals haben, wenn jemand am Gehsteig ausrutscht.
Zweiklassenjustiz heißt also, wer über eine gute Ausbildung, Geld und rhetorisches Sprachvermögen verfügt, steht vor Gericht einfach besser da. Defizite gibt es in diesem Zusammenhang auch im Bereich der Verfahrenshilfe. In Österreich läuft das so, dass in kleineren Rechtssachen nur ausnahmsweise eine Verteidigung zuerkannt wird. Ginge es nach Oliver Scheiber, müsste man hier ansetzen: „Das System wäre um einiges ausbalancierter und fairer, wenn jeder, der kein Geld hat, eine Verteidigung zur Verfügung gestellt bekommt. Zwar wäre es dann immer noch so, dass sich Wohlhabende besser verteidigen können, weil sie auch sieben Anwälte engagieren könnten. Aber eine Verfahrenshilfe für alle wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.“
Der richtige Tonfall
In der politischen Debatte kommt es in Österreich immer wieder zu verbalen Angriffen auf Rechtsstaat und Demokratie. Der Freiheitliche Herbert Kickl stellte als Innenminister 2019 die Menschenrechtskonvention in Frage oder meinte, das Recht müsse der Politik folgen und nicht die Politik dem Recht. Anderen Politikern fällt es mitunter schwer, die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zu respektieren. Als der VfGH Kernpunkte des türkis-blauen Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes kippte, übte Bundeskanzler Sebastian Kurz daran heftige Kritik: „Ich kann diese Entscheidung nicht nachvollziehen. Ich finde das schlecht, aber wir leben in einem Rechtsstaat und die Entscheidung ist zu respektieren.“ Die Spitzen des Staates seien grundsätzlich gut beraten, zurückhaltend im Kommentieren der Anderen zu sein, meint Scheiber. Der Verfassungsgerichtshofpräsident solle nicht laufend die Arbeit der Regierung kommentieren und umgekehrt. Das schade dem institutionellen Gefüge. Dies zu tun sei Aufgabe der Medien, kritischer BürgerInnen und der Wissenschaft. „Was ich bei Kurz sehe ist, dass er häufig die Arbeit von Gerichten und Staatsanwaltschaften in einem Ton kommentiert, der nicht vom angemessenen Respekt zeugt und das halte ich für äußerst problematisch.“ Wenn Politiker die Institution nicht achten, braucht man sich nicht zu wundern, wenn das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte und Behörden abnimmt.
Rechtsstaat in Gefahr?
Im November 2019 legte Übergangs-Innenminister Clemens Jabloner eine Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Bereiche der Justiz vor. In diesem „Wahrnehmungsbericht“ hieß es unter anderem, dass für das Jahr 2020 ein Mehrbedarf von 90,6 Millionen Euro nötig sei, um den Status Quo aufrechterhalten zu können. Da sich im türkis-grünen Regierungsprogramm zwar Ankündigungen für eine bessere Ausstattung der Justiz finden, aber keine konkreten Zahlen, starteten Oliver Scheiber und Maria Berger Anfang diesen Jahres eine weitere Petition zum Schutz des Rechtsstaates. Enthalten ist auch der dringende Appell, mindestens 150 Millionen Euro zusätzlich für die Justiz bereitzustellen. Zwar funktioniere die Justiz noch gut und verlässlich, so Scheiber, aber wenn nicht bald gegengesteuert werde, werde es zu einem Qualitätsabfall kommen. „Den Rechtsstaat sehe ich dadurch noch nicht in Gefahr, aber die Zahl der Fehler muss unweigerlich steigen.“ Angesichts der Ausgaben in Milliardenhöhe zur Bewältigung der Corona-Krise ist es allerdings unwahrscheinlich, dass der Bereich in nächster Zeit die finanziellen Ressourcen bekommt, die er braucht. Die Justiz bleibt vorerst wohl am Limit.
Magdalena Stern ist Mitarbeiterin für Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit im Koordinationsbüro von SOS Mitmensch.
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