China ist eine Erziehungsdiktatur
Raimund Löw hat für den ORF drei Jahre lang aus China berichtet und seine Eindrücke in einem Buch beschrieben. Im Gespräch erzählt er, wie die Überwachung das tägliche Leben bestimmt. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell, Fotos: Karin Wasner
Herr Löw, Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Kontrolle und Überwachung in China zuweilen auch positiv besetzt sind. Wie das?
China ist eine Erziehungsdiktatur, das wird von vielen Leuten auch so erlebt. Kürzlich hat es eine Katastrophe in Chongqing gegeben. Ein vollbesetzter Bus ist über eine Brücke in den Jangtsekiang gestürzt, alle Fahrgäste waren tot. Eine Frau hatte den Stopp verpasst und während eines Streits dem Fahrer mit dem Handy auf den Kopf geschlagen, weil dieser nicht stehen bleiben wollte. Der Fahrer verriss das Lenkrad und der Bus stürzte ab. Es folgte eine große Diskussion in den Medien, die es vor 20 Jahren nicht gegeben hätte. Damals wurden Katastrophen einfach verschwiegen. Nun haben die Behörden ein Video vom Unfall veröffentlicht und es wurde emotional diskutiert, ob man die Fahrer besser schützen müsse und warum sich Menschen so unzivilisiert benehmen. Die Medien sind zwar gelenkt aber solche Berichte sind zu lesen. Und viele Leute sprechen sich tatsächlich für mehr staatliche Regeln aus, der Umgang in China ist oft recht rüde unter Einsatz der Ellenbogen. Das Problem ist, dass es in China keine Gewaltenteilung gibt und kein Rechtssystem, das unabhängig von der politischen Macht agiert. Wenn die Polizei oder die Antikorruptionsbehörden durchgreifen, dann basiert das oft auf Willkür.
Sie haben drei Jahre in China gearbeitet, welche Freiheiten hat man als Auslandskorrespondent?
Ich habe mich nicht unfrei gefühlt, auch wenn man als Weißer auf der Straße natürlich schon erkannt wird. Dass es ein umfassendes Überwachungssystem gibt, ist einem immer bewusst. Eine französische Kollegin hatte kritisch über die Situation der Uiguren berichtet, da gab es eine Kampagne in den Medien gegen sie, sie habe das chinesische Volk beleidigt. Danach wurde ihr Visum nicht verlängert. Aber als Auslandsjournalist ist man eigentlich geschützt.
Unter welchen Umständen ist Menschenrechtsarbeit in China eigentlich möglich?
Es hat eine ganze Reihe von Anwaltsbüros gegeben, die Menschenrechtsfälle vor Gericht vertreten haben. Es gab ein Netzwerk von Anwälten, die sich gegenseitig mit Informationen versorgten. Vor drei Jahren gab es eine breit angelegte Razzia, bei der laut Amnesty International 248 Anwälte und Aktivisten festgenommen wurden. Die größte Menschenrechtskanzlei, die sich mit solchen Fällen beschäftigt hatte, wurde aufgelöst. Das war eine große Welle der Repression. Aber neue Initiativen entstehen immer wieder. Das jüngste Beispiel ist: Es gibt viele Streiks in China, die aber über die Betriebe nicht hinausgehen. In der Nähe von Shenzhen im Süden Chinas hat es eine Bewegung gegeben, Betriebsräte zu wählen. Etwas, das es eigentlich nicht gibt. Es kam zu einem Konflikt, und Studenten von Marxismus-Instituten verschiedener Universitäten haben sich mit den Leuten solidarisiert und sind dorthin gefahren. Auch hier reagierte man mit Repression, ich glaube, zwei oder drei der Studenten sind heute noch in Haft. Aber solche Initiativen kommen immer wieder auf, sie sind die unweigerliche Folge der gesellschaftlichen Entwicklungen.
Immer wieder hört man von Netzsperren und blockierten Social Media in China, wie ausgeprägt ist die Kontrolle des Internet tatsächlich?
Die Recherchearbeit ist furchtbar mühsam, man hat ein VPN, also ein Virtual Private Network. Das ist eine Software, um die Firewall am Computer oder am Handy zu umgehen. Das ist ein dauernder Kampf, auch wenn die Behörden diese Lücke teilweise zulassen. Geschäftsleute arbeiten häufig damit, Studenten können sich ein VPN eher nicht leisten. Aber es hat sogar chinesische Firmen gegeben, die so eine Software angeboten haben. Das läuft alles sehr chaotisch und auch pragmatisch ab, in China passiert viel gleichzeitig. Dann gab es wieder eine Welle gegen diese Hersteller, kurz darauf bieten Unternehmen aus Taiwan neue Produkte an. Ganz konkret funktioniert das Internet so, dass ausländische Seiten stark verlangsamt sind, während bestimmte Medien blockiert werden.
Ist die New York Times wieder online? Die Zeitung hatte sich unbeliebt gemacht, weil sie Finanzgeschäfte im Umfeld von Präsident Xi Jinping aufgedeckt hatte.
Verwandte von Xi waren ein Aspekt, aber die New York Times hatte ausführlich über den Reichtum der Mitglieder des Politbüros recherchiert. Die Folge war, dass der Korrespondent der New York Times ausgewiesen wurde. Die Zeitung ist bis heute gesperrt, aber deren Büro wurde mittlerweile wieder geöffnet – sicherlich unter guter Beobachtung. Die New York Times bringt jeden Tag eine chinesische Ausgabe heraus, ein enormer Aufwand. Das wird in Hongkong und in Taiwan gelesen und die Hoffnung ist, dass, wenn die Zensur schwächer wird, das auch in China gelesen wird. Dass Google, Twitter und Facebook blockiert sind, hat nicht nur inhaltliche Gründe. Die Behörden wollen damit auch eigene Firmen, die solche Formate anbieten, stärken.
Gibt es halbwegs objektive Informationsquellen in China?
Objektive Medien gibt es nicht, aber ungefähr 100 Millionen Blogger, die über Streiks und Konflikte schreiben. Mit dem China Labor Bulletin gibt es eine Stelle, die versucht, alle Streiks in China zu dokumentieren. Aber auch die Leute des Bulletin beziehen ihre Informationen aus den diversen Blogs, die nicht gleich zensuriert werden. Wenn es zu Problemen in einem Dorf oder in einem Betrieb kommt, hat man gute Chancen, darüber in Blogs mehr zu erfahren. Blogger fahren auch dorthin, um zu recherchieren. Das ganze ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden. Vor einem Jahr wurden einige der Blogger verhaftet, manche sind bis heute verschwunden.
Wird diese Kontrolle, dieser staatliche Zugriff öffentlich thematisiert?
Nein, in den Medien gehört das zu den Tabuthemen. Auf den Universitäten wird das schon diskutiert, aber nicht öffentlich. Anders in Taiwan und Hongkong, wo in der „South China Morning Post“ ausführlich über diese Themen berichtet wird. Aber die Zeitung ist in China nicht verfügbar.
Wie stehen die Menschen zu dieser Kontrolle, regt man sich darüber auf?
Als Korrespondent kann man das Thema schon ansprechen, und die Leute sind auch bereit, darüber zu sprechen. Dass es Zensur gibt, ist allen bewusst, die Meinungen darüber sind geteilt. Die einen meinen, das muss so sein, sonst würde das Reich zerfallen. Sie verweisen auf die problematischen Entwicklungen des Arabischen Frühling und wollen etwas Ähnliches verhindern. Eine Sichtweise, die auch die Parteivertreter befördern. Aber ich habe auch mit Intellektuellen diskutiert, die sich noch vor einigen Jahren für mehr Freiheiten ausgesprochen haben. Jetzt ist das nicht mehr so eindeutig, die Leute beziehen sich auf die Wahl von Donald Trump, auf den aufkommenden autoritären, demagogischen Nationalismus, auf den Brexit der Briten und zweifeln angesichts der daraus entstandenen Verwerfungen an der Sinnhaftigkeit von Referenden. Man merkt: Es gibt ein Legitimationsproblem der westlichen Demokratie.
Eine Entwicklung in China scheinen auch die so genannten Smart Cities zu sein, in denen kaum ein Winkel nicht von einer Kamera erfasst ist. Wird die Überwachung auch räumlich ausgebaut?
Solche Versuche gibt es in einigen Städten, die Regierung trägt das vor sich her. Damit zeigt sie, wie toll die Technologie funktionieren kann und wie sie die Sicherheit verstärken kann. Anhand eines Beispiels wollte man dokumentieren, wie gut Gesichtserkennung funktioniert. Man hat drei Polizistinnen mit Brillen ausgerüstet, die mit der Datenbank der Polizei und den Fotos von Verdächtigen verlinkt waren. Sie haben sich an einem Bahnhof postiert und alle Leute dort aufgenommen, und tatsächlich sind die Gesuchten über dieses System identifiziert und festgenommen worden. Das sind natürlich Propagandaaktionen, aber es zeigt, wie offensiv die Regierung das betreibt. Es stimmt, in Chinas Städten werden viele Kameras montiert, aber das ist in London nicht anders. Der Unterschied ist: die Bereitschaft der Chinesen, die Technologie einzusetzen, ist sehr groß, weil das Vertrauen in die Technologie groß ist. Das Problem dabei ist aber vor allem die Verbindung von Big Data und der fehlenden Gewaltenteilung und Rechtssicherheit. Menschenrechtsorganisationen in Hongkong und Dissidenten im Exil warnen davor.
Auch Sie selbst haben erlebt, wie leicht man auffällig werden kann, als Sie auf einer Pressekonferenz eine nicht genehmigte Frage gestellt haben. Wie kam es dazu?
Ich wollte für eine Diskussionsrunde für den ORF auch Vertreter des Parteitages einladen, die etwa erklären, was der Sozialismus mit chinesischer Prägung ist. Bei der Auslandsabteilung des Zentralkomitees, wo ich bestens auch über Deutschland und Österreich informierte, freundliche Beamte vorgefunden habe, hat man darüber nur gelacht und gemeint: Sie wüssten, dass Politiker in Europa und Amerika ihr halbes Leben im Fernsehen verbringen, aber sie hätten dafür keine Zeit. Tatsache ist, es besteht in China praktisch kein Zugang zu Politikern. Es gibt nach dem Volkskongress eine große Pressekonferenz, und zwar die des Premierministers, die wird live in allen Fernsehkanälen übertragen. Dafür kann man im Vorfeld drei Fragen einreichen, davon wird eine ausgewählt. Ich habe nur eine Frage abgeliefert, ob die Krim aus chinesischer Sicht zur Ukraine oder zu Russland gehört. China ist mit Russland eng verbündet, lehnt aber strikt Eingriffe in die nationale Souveränität ab. Die Frage wurde abgelehnt, aber bei der Pressekonferenz hatte ich dann plötzlich so etwas wie ORF verstanden. Als der Saaldiener sich mit dem Mikrophon auf mich zubewegte, habe ich das Mikrophon ergriffen und meine gestellt. Der Premierminister schaute ziemlich erstaunt, hat dann aber diplomatisch geantwortet. Nachher hat sich herausgestellt, nicht ich war zur Frage aufgerufen, sondern der Kollege neben mir von der spanischen Presseagentur. Meine nicht genehmigte Frage war jedenfalls eine kleinere Sensation, in allen chinesischen Zeitungen wurde über den „mic grabber“ berichtet. Es ist aber harmlos ausgegangen, außer dass man später keine meiner eingereichten Fragen mehr genehmigte. Ausgewiesen wurde ich aber nicht.
Raimund Löw, Kerstin Witt-Löw
Weltmacht China
Residenz Verlag, 2018
256 Seiten, 24 Euro
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