Einen Hoffnungsschimmer in die Dunkelheit tragen
Die polnische Lehrerin Paula Weremiuk setzt sich an der polnisch-belarussischen Grenze unter schwierigsten Bedingungen für Geflüchtete ein. Sie wurde dafür mit dem Schweizer Paul-Grüninger-Preis ausgezeichnet.
Text: Martin Pollack
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Auszug der Rede des österreichischen Schriftstellers Martin Pollack zur Preisverleihung am 17. November 2023:
Wir leben in einer Welt, die zunehmend aus den Fugen zu geraten scheint. In einer „unglaublich rohen und doch wunderbaren Welt”, wie mir eine ukrainische Freundin vor ein paar Tagen geschrieben hat. Sie ist in L’viv zu Hause und weiß, wovon sie spricht. Tatsächlich könnte der Eindruck entstehen, wir steuerten angesichts tagtäglicher Meldungen hilf- und haltlos wie Lemminge auf den Abgrund zu. Doch wir dürfen nicht resignieren und den Kopf hängen lassen, denn es gibt immer wieder auch lichte Momente und Anlass zur Hoffnung. Dazu zählen Personen, die sich aus eigenem Antrieb, nur ihrem Gewissen verpflichtet, für Menchen einsetzen, die auf der Suche nach Schutz vor Krieg und Verfolgung ihre Heimat verlassen müssen. So auch Paula Weremiuk. Der Paul-Grüninger Preis 2023 wurde der polnischen Lehrerin zugesprochen, die diese Auszeichnung für ihren selbstlosen und mutigen Einsatz für die humanitäre Flüchtlingshilfe an der polnisch-belarussischen Grenze bekommt, ganz im Sinne von Paul Grüninger, dem Schweizer Polizeihauptmann, der in der Zeit des Nationalsozialismus, offizielle Weisungen und Befehle missachtend, zahlreiche Juden vor den NS-Mördern gerettet hat, wofür er vom eigenen Staat hart bestraft, eingesperrt und entrechtet wurde. Paulina oder auch Paula Weremiuk stammt aus der kleinen zweisprachigen Gemeinde Narewka am Rande des Urwalds von Białowieża, der von der polnisch-belarussischen Grenze durchschnitten wird. Dort unterrichtet sie seit Jahren in der Grundschule Englisch und setzt sich für Belange der Schüler:innen ein.
Paula Weremiuk wollte es nicht länger hinnehmen, dass sie weiterhin normal reist und lebt, während im Wald nebenan Menschen frieren und um ihr Leben bangen müssen.
Mit Beginn der Flüchtlingskrise in der Region von Białowieża begann Paula an ihrer Schule Arbeitskreise zum Thema Toleranz und Völkerverständigung einzurichten und mit ihren Schüler:innen darüber zu sprechen, was an der Grenze geschieht. Seit Herbst 2021 engagiert sie sich aktiv für Flüchtlinge, die völlig unvorbereitet, ungenügend bekleidet, ohne ausreichende Nahrung und Wasser, ohne Kenntnis der unwirtlichen Verhältnisse von belarussischen Beamten über die Grenze getrieben werden, um orientierungslos durch den unwegsamen, von Sümpfen, Flüssen und Bächen durchzogenen Urwald zu irren. Männer, Frauen, Kinder, alte Menschen, hilflos den feindlichen Elementen ausgesetzt, Regen, Eis und Schnee. Paula versuchte nach Kräften diesen verzweifelten Menschen zu helfen, sie brachte ihnen im Schutz der Nacht, um den wachsamen Blicken der Grenzer zu entgehen, warmes Essen, Kleidung, Medikamente und Verbandszeug, versorgte die schlimmsten Wunden und klärte sie über ihre Rechte und Möglichkeiten auf, soweit das unter diesen Bedingungen möglich ist. Die polnischen Grenzbeamten, unterstützt von Polizei und Militär, haben Weisung, entgegen internationalen Vereinbarungen keine Asylansuchen anzunehmen, sondern die Menschen, oft schwer verletzt, mit Erfrierungen, halb verhungert und verdurstet, in den Urwald zurückzutreiben, zurück über die belarussische Grenze. Die belarussischen Grenzbeamten und Soldaten, noch brutaler als ihre polnischen Kollegen, jagen die Flüchtlinge erbarmungslos wieder zurück. Nach offiziellen Angaben sind bisher auf beiden Seiten der Grenze über 50 Menschen im Urwald ums Leben gekommen, die Dunkelziffer ist mit Sicherheit viel höher, da zahlreiche Opfer nie gefunden werden, spurlos in den Sümpfen verschwinden, in den Flüssen, im undurchdringlichen Dickicht. Hilfe von Seiten der Behörden haben die Migrant:innen keine zu erwarten, im Gegenteil. Das Verb pushbackować, abgeleitet vom englischen pushback, zurückschieben, hat längst Eingang in die polnische Sprache gefunden. So rasch passt sich die Sprache den Bedingungen der Gesetzlosigkeit und Unmenschlichkeit an.
Umso wichtiger ist das Engagement der Freiwilligen an der Grenze, die seit über zwei Jahren im Namen der Nächstenliebe und Solidarität unsägliche Strapazen und Risiken auf sich nehmen. Paula ist nicht allein, es gibt eine ganze Reihe Gleichgesinnter, manche in Gruppen tätig, andere auf eigene Faust handelnd. Spontane Kämpferinnen und Kämpfer für die Menschlichkeit. Die Flüchtlingshilfe, die gleichzeitig den aktiven Widerstand gegen die Willkür der Staatsmacht signalisiert, ist, wie so oft in den Ländern, von denen hier die Rede ist, überwiegend weiblich.
Natürlich wissen wir, dass Menschen wie Paula gegenüber der geballten Staatsmacht und der flüchtlingsfeindlichen Haltung eines Teils der Gesellschaft auf den ersten Blick nicht viel ausrichten können. Sie werden von den Behörden schikaniert und behindert, von Polizisten, Soldaten und Grenzern nach Möglichkeit von der Grenze ferngehalten, sind zahlreichen Kontrollen und Demütigungen ausgesetzt – und doch ist ihre Hilfe sehr wichtig, ein Beweis, dass es in einem System brutaler Gewalt und Menschenverachtung noch Empathie für den Nächsten gibt und die Bereitschaft, sich vorbehaltlos für ihn einzusetzen. Die Hilfe mag wie ein Tropfen auf einen heißen Stein erscheinen, doch sie flößt den zwischen den Grenzen gestrandeten Menschen Mut ein und läßt sie vielleicht nicht endgültig verzweifeln.
Warum setzen sich Menschen wie Paula solchen Mühen und Gefahren aus? Wie kommt eine junge Frau aus gesicherten Verhältnissen dazu, von einem Tag auf den anderen die Wärme und den Komfort ihres bisherigen Lebens aufs Spiel zu setzen und sich in ein Abenteuer zu stürzen, in dem es in Wahrheit um einen Grundbegriff der menschlichen Existenz geht, um die Verantwortung für den Nächsten, auch wenn dieser fremd erscheinen mag und von vielen, beeinflusst durch eine rabiat fremdenfeindliche Propaganda, abgelehnt, ja förmlich verteufelt wird?
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Es geht um die Verantwortung für den Nächsten,
auch wenn dieser fremd erscheinen mag.
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Paula erzählt, wie es für sie begann. Sie war damals schon Lehrerin in Narewka, das war im Herbst 2021. „Ich machte mir Vorwürfe, dass ich normal esse, reise und lebe, dass ich in einem warmen Bett aufwache, während Menschen im Wald frieren. Ich empfand einen entsetzlichen Stress, ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich hatte damals keine Ahnung, dass es irgendwelche Hilfsaktionen gab. Ich wußte nur von einem grünen Licht (das hilfswillige Personen ins Fenster stellten) und beschloss, auch ein solches Licht anzuzünden, möglichst rasch, ohne viel zu wissen, nur von meinem Herzen geleitet.”
Um die Flüchtlinge fernzuhalten, errichteten die polnischen Behörden auf einer Strecke von über 180 Kilometern einen Grenzzaun mitten im unwegsamen Waldgebiet, der anfangs als unüberwindlich galt. 5,5 Meter hohe Palisaden, so eng nebeneinander, dass ein Durchkommen für größere Tiere und Menschen unmöglich schien. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellte. Darauf wurde die Grenzsperre durch ein dichtes Geflecht von Widerhakensperrdraht, auch NATO-Draht genannt, verstärkt. Ein so teures wie sinnloses Unterfangen. Laut einem internen Bericht der Grenzbehörden, zitiert von der unabhängigen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza”, ist es zwischen Jänner und Mitte September 2023 aus Belarus kommenden Flüchtlingen in mehr als 30.000 Fällen gelungen, die Sperre zu überwinden. Viele von ihnen gelangten weiter nach Deutschland und in andere Zielländer. Der Grenzzaun bleibt jedoch gefährlich und tückisch. Der Draht reißt tiefe, schwer heilende Wunden, bei Menschen wie Tieren, die im Urwald leben und bis vor kurzem ungehindert durch das weitläufige Gebiet streifen konnten.
Es sind die in vielen Fällen anonym bleibenden Helfer:innen an der Grenze, die uns hoffen lassen, dass sich die anfangs geäußerte düstere Befürchtung nicht bewahrheiten möge. Paula ist eine von ihnen. Eine junge, mutige Frau, die Zeugin unmenschlicher Vorgänge geworden ist und, anders als viele ihrer Nachbarn und Bekannten nicht wegschaut, nicht weghört und den Schauergeschichten über Flüchtlinge keinen Glauben schenkt. Es ist Menschen wie Paula zu verdanken, dass sie ein wenig Licht, einen Hoffnungsschimmer in diese Dunkelheit tragen.
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