
Es ist wie eine Art Staffellauf
Die Journalistin Alice Hasters hat mit „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ einen Bestseller geschrieben. Ein Gespräch über das Erfahrungswissen von BIPoC (Black, Indigenous & People of Color) als Analysewerkzeug und wie sich die Rassismusdebatte verändert hat. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Vina Yun
Ihr Buch richtet sich explizit an eine weiße Leser*innenschaft. Wie reagieren denn weiße Menschen auf den Buchttitel?
Ich hatte nicht vor, das Buch so zu nennen, aber der Verlag wollte einen expliziten Titel. Anfangs hatte ich ein bisschen Bauchweh und die Sorge, dass sich nicht-weiße Leser*innen gar nicht angesprochen fühlen werden. Aber natürlich gibt es Anliegen, die weiße Menschen hören müssen, weil sie im Kontext von Rassismus in einer Machtposition sind. Ich bin mir auch sicher, dass das Buch nicht so erfolgreich wäre ohne diesen Titel. Er wirkt wie eine Art Selffulfilling Prophecy – weiße Menschen reagieren nämlich so, wie ich es auf den ersten Seiten des Buchs beschreibe: Man kann nur schwer mit ihnen über Rassismus reden, weil sie sehr emotional und abwehrend reagieren und sich sofort selbst ins Zentrum der Diskussion stellen.
„Man kann nur schwer mit weißen Menschen über Rassismus reden, weil sie sehr emotional und abwehrend reagieren und sich sofort selbst ins Zentrum der Diskussion stellen.“
Im Buch haben Sie sehr viel Wissen zusammengetragen und weisen wiederholt auf die Arbeiten etwa von Schwarzen Autor*innen hin, die bereits seit Jahrzehnten kritische Analysen zu Rassismus formulieren. Wie erschöpfend aber auch empowernd war es, an diesem Buch zu arbeiten?
Bücher zu schreiben ist generell anstrengend, aber für mich war es definitiv auch ein empowernder Prozess. Ich glaube, das spürt man auch beim Lesen. Viele Menschen, die täglich mit Rassismus konfrontiert werden, haben nicht den Raum und die Zeit dafür oder ein Publikum, das ihnen zuhört. Daher empfinde ich es als Privileg, dass ich dieses Buch schreiben konnte.
Die Bücher zum Thema, die ich bisher gelesen habe, sind zwar inhaltlich wahnsinnig interessant, aber meist schwer zugänglich, weil sie oft sehr akademisch sind. Oder es sind Bücher, die emotional aufgeladen sind und spannende Anekdoten liefern, jedoch ohne Einordnung in größere Zusammenhänge. Diese Dinge hängen aber zusammen, ich wollte hier eine Brücke schlagen.
Die eigene Biografie zum Ausgangspunkt für eine Analyse zu machen, spielt bei vielen neueren Veröffentlichungen zum Thema eine wichtige Rolle. Zugleich gibt es die Erwartungshaltung an die Betroffenen, dass sie ihre Unterdrückung erklären und jene erziehen sollen, von denen Rassismus aktiv ausgeht – eine Arbeitsteilung, wie man sie oft zwischen weißen Menschen und BIPoC erlebt. Viele BIPoC lehnen diese Rolle ab, Sie hingegen haben mit dem Buch diese Aufgabe ganz bewusst angenommen.
Für mich ist klar: Was ich im Buch mache, kann ich abseits dessen nicht leisten. Man kann mir auf Lesungen oder in Interviews wirklich jede Frage stellen – würden mir dieselben Fragen im Alltag begegnen, würde ich die aber nicht unbedingt beantworten. Es würde mich extrem aufhalten, bei jedem Kommentar, bei jeder Mikroaggression groß auszupacken und Nachhilfe zu geben. Vor allem finde ich es eine Zumutung zu erwarten, dass alle Menschen, die Rassismus erfahren, das können. Nur weil man von einer bestimmten Diskriminierungsform betroffen ist, heißt das nicht, dass man da durchsteigt, eine Sprache und Haltung dafür entwickelt hat. Die muss man sich ja auch erst erarbeiten.
Mich interessiert das Thema und ich werde auch dafür bezahlt. Das Ziel muss aber natürlich sein, dass diese Aufklärungsarbeit im Alltag weniger wird. Das Buch soll dazu beitragen. Und ich glaube auch, dass es was bringt, sonst würde ich was anderes machen. Ich finde es vollkommen verständlich, wenn man diese Arbeit nicht machen möchte. Niemand ist dazu verpflichtet. Das bedeutet aber in der Konsequenz, dass man das Wissen nicht weitergibt, niemand anders wird von dem Wissen profitieren.
„Niemand wünscht sich, dass es Rassismus gibt. Aber man muss begreifen, dass Rassismus nicht einfach mit guten Intentionen verschwindet, sondern es tatsächlich Arbeit ist.“
Sie sagen: Wir lernen nicht, über Rassismus zu reden oder wie wir über ihn sprechen können. Ihr Buch ist im Herbst 2019 erschienen, vor der internationalen Protestwelle in Folge der Ermordung von George Floyd. Hat sich das Sprechen über Rassismus seitdem verändert?
Im Sommer 2020 gab es einen Vorstoß, den ich im deutschsprachigen Raum so noch nicht gesehen habe. Was Deutschland betrifft, sind hier viele Dinge zusammengekommen, etwa der erschütternde Anschlag in Hanau, der medial aber dann von Corona verdrängt wurde. Es wurde nicht darüber geredet, was hier eigentlich passiert war. Die Wut und Trauer darüber haben sich in die Black-Lives-Matter-Proteste eingelagert, die Leute gingen auf die Straße und sagten: Jetzt reicht’s! Was danach kam, ist, dass beispielsweise viele neue Initiativen und Organisationen gegründet wurden.
Mein Gefühl ist: Das Gespräch über Rassismus ist nicht mehr wegzukriegen, man kommt nicht mehr dran vorbei. Ich glaube auch, dass Antirassismus bei den kommenden Bundestagswahlen ein wichtiges Thema sein wird. Gleichzeitig haben wir Buchveröffentlichungen von Sahra Wagenknecht und Judith Sevinç Basad oder die Übersetzung des Bestsellers von Caroline Fourest. Hier werden „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“ zu Kampfbegriffen. Wir erleben auf der Diskursebene eine Täter*innen-Opfer-Umkehr – kaum nachdem wir ein bisschen nach vorne gegangen sind und dabei waren, einen Rassismusbegriff zu etablieren, der Rassismus eben nicht als Rechtradikalismus begreift, sondern als strukturelle Ungleichheit, die die Gesellschaft durchzieht. Ich finde es wirklich tragisch, dass ein Narrativ wie „Identität vs. Klassenkampf“ aufgebaut wird. Das ergibt für mich überhaupt gar keinen Sinn.
Es sind viele Ungleichzeitigkeiten zu beobachten. Nora Räthzel und Annita Kalpaka gaben schon 1986 den Band „Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ heraus, in dem institutioneller und Alltagsrassismus zusammengedacht wurden. In Österreich haben in den 2000er-Jahren linke Migrant*innen den vorherrschenden „moralischen Antirassismus“ kritisiert. Doch erst seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd sprechen bürgerliche Medien von „systemischem Rassismus“.
Vieles, was wir heute diskutieren, wurde schon vor 35 Jahren formuliert (Die Anthologie „Farbe bekennen“, herausgegeben von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz erschien 1986, Anm.), und ich kann verstehen, dass das ein frustrierendes Gefühl ist, dass sich gerade alles wiederholt, als wäre es neu. Meine Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die Arbeit derjenigen, die schon in den 1980ern dazu geschrieben haben. Ich stelle es mir als eine Art Staffellauf vor. Es ist sehr wichtig, die bisherige Arbeit anzuerkennen, aber ebenso ist wichtig zu sehen, dass man die Diskussion trotz allem weiterführen muss. Aber ich würde mir eine bessere intergenerationale Zusammenarbeit und eine bessere transnationale Vernetzung wünschen aufseiten der antirassistischen Bewegung.
Ihr Buch macht sehr deutlich, wie sich Rassismus auf sämtliche Lebensbereiche niederschlägt, sei es Schule, Alltag, intime Partnerschaften, Familienbeziehungen – aber auch, wie wir uns selber sehen. Im Buch thematisieren Sie, wie sich Ihre eigene Selbstwahrnehmung durch die Recherche und das Schreiben verändert hat. Wo stehen Sie derzeit im Prozess?
Oft beschreiben Leute einen Moment: als seien sie aufgewacht – daher auch der Begriff „woke“ – oder als würde es ihnen wie Schuppen von den Augen fallen. Mir geht es nicht so. Es ist eher wie eine Linse, die zunehmend schärfer zieht: Die Dinge waren schon die ganze Zeit da, aber erst jetzt wird das Bild klarer und ich kann immer mehr sehen. Nicht, weil die Sachen plötzlich auftauchen, sondern weil ich sie davor nicht richtig greifen konnte. Dieses Anpassen und „Ich komme durch, indem ich das mache, was von mir verlangt wird“, das funktioniert für mich nicht mehr. Mit diesem Gedanken endet das Buch.
Aber es gibt noch sehr viel zu entdecken und in meinem Kopf raucht es immer noch: Wie findet man eine Sprache für bestimmte Identitäten, bestimmte Dynamiken? Wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Wie kann man eine Debatte führen und zweifeln oder die Meinung ändern? Gerade habe ich das Gefühl, dass ich versehentlich in eine Diskussion über Identitätspolitik stolpere, was ich aber gar nicht will, das wird mir von außen zugetragen. Das ist, was mich derzeit herausfordert: nicht nur auf Zurufe zu reagieren.
Warum lohnt es sich für weiße Angehörige der Dominanzgesellschaft, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen?
Niemand wünscht sich, dass es Rassismus gibt. Aber man muss begreifen, dass Rassismus nicht einfach mit guten Intentionen verschwindet, sondern es tatsächlich Arbeit ist. Gerade weiße Menschen empfinden oft Scham, sie geraten in eine Verteidigungshaltung und sind frustriert, dass man sie nicht priorisiert. Ich sage nicht: Ihr dürft euch nicht so fühlen, sondern eher: Ihr fühlt euch vielleicht so, aber das ist nicht das Wichtigste. Wichtig ist das Ziel, das dahintersteht. Ich fände es schön, wenn da mehr Leute hinkommen würden. Gerade im Kontext von Rassismus kommt weißen Menschen eine besondere Verantwortung zu – aber sie sind nicht die einzigen, die sich damit auseinandersetzen müssen, wir alle beschäftigen uns damit. Es geht also darum zu erkennen: Ich habe eine ganz klare Verantwortung, aber es geht nicht um mich. Dazu und zum Thema Privilegien gibt es wunderbare Literatur. Manche denken, ich habe einfach nur dagesessen und mir irgendwie ein paar Gedanken gemacht für mein Buch – nein, ich habe gelesen! Und ich tue es weiterhin. Zu lesen, sich zu informieren hilft, davon bin ich überzeugt.
ZUR PERSON
Alice Hasters
wurde 1989 in Köln geboren. Sie studierte Journalismus in München und arbeitet u. a. für die „Tagesschau“ und den „RBB“. Mit Maxi Häcke spricht sie im monatlichen Pod-cast „Feuer&Brot“ über Feminismus und Popkultur. Alice Hasters lebt in Berlin.
Vina Yun ist freie Journalistin, (Comic-)Autorin und Öffentlichkeitsarbeiterin in Wien.
Alice Hasters
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten.
Verlag hanserblau, 2019
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