Fake News und Hate Mails
Vom Internet hatte man sich viel erwartet: die Demokratisierung der Gesellschaft mit bis dahin ungeahnten Möglichkeiten. Stattdessen wuchern Verschwörungstheorien und Hassbotschaften in den Sozialen Medien. Ist die Demokratie in Gefahr, wie manche warnen? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Gunnar Landsgesell, Illustration: P.M. Hoffmann
Auch vor den US-amerikanischen Midterm Elections Anfang November war die Frage wieder: Werden russische Bots und Troll-Armeen die Wahlentscheidung beeinflussen? So, wie es offenkundig bei den Präsidentschaftswahlen passiert ist, in den USA, in Frankreich, oder auch bei den Bundestagswahlen in Deutschland. Gesicherte Antworten darauf sind nicht leicht zu geben, wenngleich ExpertInnen in der Vergangenheit mehrfach Spuren zu russischen Hackergruppen zurückverfolgen konnten. Aber wenn es bei Wahlen nicht mehr allein darum geht, welcher politische Kandidat gewinnen wird, sondern um die Frage, ob Manipulationen das Ergebnis verfälschen, ist nicht bereits dann etwas faul in der Demokratie?
Zeynep Tufekci, Autorin von „Twitter and Tear Gas“ (2017) und renommierte Tech-Soziologin mit Lehrauftrag in Harvard, glaubt: Auch wenn kein einziger Rubel für Desinformation ausgegeben wurde, und auch wenn kein einziger Stimmenzählapparat manipuliert wurde, sind demokratische Wahlen unter diesen Vorzeichen bereits gehackt. In einem Kommentar für die „New York Times“ schreibt Tufekci, dass die Legitimität einer Wahl auf der Akzeptanz der Wählerschaft basiert, dass das Verfahren fair abläuft. Im Gegensatz dazu glauben in den USA laut einer jüngsten Umfrage 46 Prozent der Befragten, dass ihre Stimme nicht korrekt gezählt wird. Und rund ein Drittel vermutet, dass eine ausländische Macht die Wahlergebnisse beeinflusst.
Nun sind Wahlanfechtungen und Neuauszählungen nicht nur in den USA, sondern seit den Präsidentschaftswahlen auch in Österreich bekannt. Entscheidend ist laut Tufekci aber der Zweifel, der, nur lange und intensiv genug gesät, soviel Misstrauen erzeugt, dass er auch das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger verändert. Es ist, ganz generell gesprochen, der grassierende Vertrauensverlust in die Institutionen des Staates, der die Demokratien heute umtreibt. Dieser Verlust an Vertrauen gilt auch als eine der zentralen Motivationen, warum Menschen stärker für autoritäre Lösungen ansprechbar sind. Der Auslöser dafür ist zwar nicht das Internet, es spielt bei diesen Entwicklungen aber eine entscheidende Rolle.
Die Zeiten, als man sich von der digitalen Öffentlichkeit erhoffte, sie würde die direkte Demokratie bis in die Wohnzimmer bringen, die Möglichkeiten der Partizipation in neue Sphären hieven, die Transparenz politischer Prozesse vorantreiben und schließlich auch ein freies Forum für Meinungsaustausch und Pluralität bieten, scheinen vorbei. War man naiv, das zu glauben? Oder wurde das World Wide Web längst von Internetkonzernen, Verschwörungstheoretikern und rechtsextremen Agitatoren gekapert?
Social Media als öffentliche Sphäre
So schlimm ist es nicht, möchte man einwenden. Social Media spielen immer noch eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, objektive Informationen aus schwachen Demokratien wie Ungarn, der Türkei oder aus de facto Diktaturen wie Weißrussland zu erhalten, wo ein repressiver staatliche Zugriff auf Medien herrscht. Soziale Medien haben sich bewährt, wenn es um die Mobilisierung von Protest geht, und sie sind als virales Medium jedem Flugblatt überlegen.
Zeynep Tufekci rechnet Social Media der öffentlichen Sphäre zu, und das hat seine guten Gründe. Zugleich wird das aber auch zum Problem. Wenn der politische Wettstreit der besten Argumente einer Politik von Fake News, Alternative Facts und trotzigen Behauptungen weicht, die auch der Präsident eines Staates millionenfach mit einem Klick verbreiten kann, droht sich die Gesellschaft in ein virtuelles Schlachtfeld zu verwandeln.
Ein jüngstes Beispiel dafür ist die Kontroverse um den CNN-Journalisten Jim Acosta, der sich bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus das Mikrophon nicht durch eine Mitarbeiterin von Donald Trump aus der Hand nehmen lassen wollte. Seine Abwehrgeste wurde zum politischen Streitfall, der Acosta seine Akkreditierung kostete, wofür er mittlerweile die US-Regierung geklagt hat. Sie machte aber auch das kühle Verständnis Donald Trumps für die Mittel der Macht sichtbar. Das Weiße Haus griff auf ein Video, das der britische YouTuber Paul Joseph Watson, ergänzt um eine Großaufnahme, über den Vorfall erstellt hat. Watson ist Editor-at-large für das rechte Internet-Portal Infowars.com, das regelmäßig durch Verschwörungstheorien auffällt und eine libertäre, paläokonservative Richtung vertritt. Man will den Staat zurückdrängen, lehnt den Sozialstaat ab und glaubt, dass geheime Eliten, zu deren Strohmännern man auch Barack Obama zählt, an einer „Neuen Weltordnung“ basteln. Während solche Ansichten im analogen Zeitalter nur in versprengten rechtsextremen Publikationen zu finden waren, gehen sie nun, geschickt verpackt, viral.
Paul Joseph Watson, ein aufgeweckter Bursche, betreibt auf YouTube einen Kanal, der derzeit 1,4 Millionen Abonnenten hat. Nach der Diskussion über sein „doctored video“ zum Fall Acosta dürften es wieder einige mehr werden. Schon der Reiz, sich gegen die Mehrheit zu stellen, klingt attraktiv. Im Internet entwickelt sich daraus eine besondere Dynamik.
Der damalige Google-Vorsitzende Eric Schmidt drückte seine Begeisterung über das WWW in seinem 2013 erschienen Buch „Die Vernetzung der Welt: Ein Blick in die Zukunft“ so aus: „Das Internet ist das größte Anarchismusexperiment aller Zeiten. Die Onlinewelt (...) wird kaum durch Gesetze beschränkt.“ Fünf Jahre später lässt sich das immer noch bestätigen.
Yvonne Hofstetter, Geschäftsführerin eines deutschen Technologieunternehmens und Internetforscherin, kommentiert die Vision des Ex-Google-Chairmans in ihrem Buch „Das Ende der Demokratie – Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt“ (2016), so: „Eric Schmidt wiederholt, was Kryptoanarchisten anstreben: sich im Netz ohne den Einfluss staatlicher Macht zu entfalten, und mehr noch, staatliche Strukturen mit den Technologien der Digitalisierung ganz zu beseitigen.“ Hofstetter spricht dabei einen zentralen Punkt an, der viel mit der problemhaften Entwicklung des Internets zu tun hat. Das Internet ist bis heute ein wenig geregelter Raum, der digitale Anonymität verspricht und scheinbar dazu einlädt, die Grenzen der eigenen Freiheit ohne Sorge vor Konsequenzen auf Kosten anderer auszudehnen.
Raum der Macht
Dass der Cyberspace ein Raum ohne Macht wäre, wie Kryptoanarchisten oder auch Eric Schmidt insinuieren, stimmt aber so nicht. Hofstetter dazu: „Auch im digitalen Raum wird Macht ausgeübt. Nur: Die Macht liegt nicht beim Staat. Macht – wir erinnern uns: die Möglichkeit, Einfluss auszuüben, um die soziale Wirklichkeit zu gestalten, zu verändern – verschiebt sich gerade auf nie dagewesene Weise. Das Machtmonopol des Staates besteht nicht mehr uneingeschränkt. Stattdessen wird Macht von privaten Institutionen wie GAFAM ausgeübt. Der Macht, die Menschheit umzubauen, geht ihre wirtschaftliche Macht voraus. Und sie verfügen über sagenhafte wirtschaftliche Macht.“ Mit GAFAM sind die Internet-Riesen Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft gemeint. Apple allein erzielte im Geschäftsjahr 2018 (Oktober 2017 bis September 2018) einen Umsatz von rund 266 Milliarden US-Dollar. Der Umsatz von Amazon lag bei 178 Milliarden Dollar. Dazu kommt der extrem hohe Anlagenwert, den die Unternehmen an den Börsen halten. Damit zählen sie zu den größten Konzernen der USA.
Die Monopolisierung der Macht ist ein erklärtes Ziel der Silicon-Valley-Giganten, die Konkurrenten lieber aufkaufen als sich mit ihnen zu messen. Das bringt sie, so wie etwa deren an Profiten gemessene, lächerlich geringe Steuerleistung, regelmäßig in die Schlagzeilen. Man kommt den Internetriesen nicht mehr aus. Ulrich Dolata schreibt in den Blättern für deutsche und internationale Politik: „Nahezu jeder, der im Internet unterwegs ist, nutzt mindestens ein Angebot der führenden Internetkonzerne Apple, Google, Amazon und Facebook. In den vergangenen Jahren hat deren Marktmacht... massiv zugenommen. Damit haben die Konzerne auch enorme gesellschaftliche Bedeutung erlangt. Denn auf deren Plattformen verbringen die Nutzer heute nicht nur einen Großteil ihrer Zeit im Internet. Ihr Verhalten wird auch maßgeblich geprägt durch die Standardeinstellungen, Features und algorithmischen Sortier- und Selektionsfunktionen, denen sie dort unterworfen werden.“ Die Algorithmen und Filterblasen, mit denen die Google und Co den Horizont ihrer User beschränken, sind mittlerweile berüchtigt.
Zerschlagt Google
Die Frage, wie sich der wachsende Einfluss der Internetkonzerne eingrenzen lässt, beschäftigt heute immerhin die Politik. Lange wurde nicht einmal versucht, die Konzerne einer stärkeren politischen Kontrolle zu unterwerfen. Doch die haben längst Realitäten geschaffen, in denen sie selbst die Regeln bestimmen. Das wird deutlich, wenn sich Facebook oder Youtube weigern, ein Hass-Mail, ein kompromittierendes Video oder eine Neonazi-Botschaft zu löschen. Den Regierungen fehlen die Druckmittel, und oft auch die Gesetze. Das Problem beginnt schon dabei, dass Soziale Medien gar nicht unter das Mediengesetz fallen. Obwohl milliardenschwere Unternehmen, die ihre Inhalte redaktionell bearbeiten und Diskurse in bestimmten Bereichen wohl stärker mitbestimmen als etwa Tageszeitungen, können sie sich erstaunlich leicht aus der Verantwortung ziehen. Da das Internet ausschließlich in privaten Händen ist, könnte man sagen, kein Wunder, Unternehmen interessiert eben nicht Demokratie und Pluralismus, sondern ihr Gewinn.
Corinna Milborn und Markus Breitenecker schreiben in ihrem Buch „Change the Game“: „Die Vorteile der Meinungsfreiheit, die Social Media für zivilgesellschaftliche Bewegungen und Oppositionelle bietet, treten in den Hintergrund, wenn man sich die Wirkungen von Facebook und YouTube in den letzten großen Wahlkampagnen seit 2015 ansieht: Die Weigerung, sich als Medien zu klassifizieren und die Verantwortung von Herausgebern über die eigenen Feeds und Streams zu übernehmen, öffnete der Manipulation und Spaltung Tür und Tor. Lügen über politische Gegner, Verschwörungstheorien, gezielte Wahlwerbungen an immer kleinere Gruppen ohne jegliche Möglichkeit von Faktenchecks und demokratischem Diskurs, Hetze bis hin zur Demobilisierung von Wählern und dem Provozieren eines grundlegenden Vertrauensverlustes in das System und die Demokratie an sich waren (bei Wahlkampagnen, Anm.) die bestimmenden Themen auf Facebook und YouTube... Sie stellten dafür nicht nur die Tools zur Verfügung und verdienten an der Werbung, sie tolerierten und befeuerten Manipulation und Lügen in einem Ausmaß, das – wenn man an die immer besser werdende künstliche Intelligenz der Algorithmen denkt – ein düsteres Bild von der Zukunft von Demokratie zeichnet.“
Nur langsam entwickelt sich darüber in Europa ein Bewusstsein dafür, gegenzusteuern. Die Vorschläge sind unterschiedlichster Art: sie reichen von der Gründung eigener sozialer Dienste und Plattformen bis zur strengen Reglementierung der US-Konzerne bis zu deren Entflechtung. Währenddessen bestimmen Facebook und Co unsere Kommunikations- und Konsumverhalten munter weiter.
Hate Mails und Public Shaming
Warum das Internet wie ein Magnet für Hass, Rassismus, Sexismus, rechtsextreme Rülpser und öffentliche Bloßstellungen wirkt, beschäftigt zunehmend auch die Öffentlichkeit. Man erinnert sich an die 31-jährige Italienerin Tiziana C., von der ein intimes Video ins Netz gelangte, worauf eine Welle der Häme begann. Man witzelte über ihren Dialekt, inszenierte Parodien und entwarf Schmählieder. Eineinhalb Jahre später war die auf Fotos fröhlich wirkende Frau tot, sie hatte sich das Leben genommen.
Zwei Drittel der jungen Frauen berichten laut einer Umfrage in Österreich, dass sie auf Social Media schon mit verbaler Gewalt konfrontiert waren. Bildet sich also im virtuellen Raum die Gesellschaft so ab, wie sie ist? Oder bringt der Schutz der Anonymität besondere Verhaltensweisen hervor?
Der Autor und Blogger Sascha Lobo hält die Möglichkeiten, die Soziale Medien mit ihrer „Kombination aus Niedrigschwelligkeit und Dokumentierbarkeit“ bieten, grundsätzlich für „supergroßartig“. In seinem Beitrag „Das Ende der Gesellschaft“ in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ (2016) schreibt Lobo: „Soziale Medien versetzen uns durch ihre Mischung aus Spontaneität und Dokumentation in die Lage, den Menschen in die Köpfe zu schauen.“ Milliarden Mittagessenfotos seien nunmehr Teil einer Öffentlichkeit. Milliarden Likes für falsch übersetzte Benjamin-Franklin-Zitate auch. Die öffentliche Niederschrift sei mit einem Mal kein Kriterium der Durchdachtheit mehr, und Lobo ortet in diesen Selbstveräußerungen einen regelrechten Schatz. Die Ambivalenz dieses „Schatzes“ äußert sich etwa auch darin, wie sich „live unsere Illusion von der Gesellschaft auflöst“, so Lobo weiter. „Da schreibt ein Mann aus Österreich anlässlich des Lieferwagens, in dem 71 Flüchtlinge erstickt sind: ‚Schade, dass es nur 71 waren!’ Da schreibt jemand aus Deutschland, er plädiere dafür, die Flüchtlingskrise zu lösen, indem man die Bundeswehr Flüchtlingsboote versenken lässt.“ Und als in einem Zoo in den USA ein Gorilla erschossen wird, als er einen schwarzen vierjährigen Buben ergreift, der in den Käfig gefallen ist, bedauert im danach aufgekommenen Shitstorm jemand den armen Gorilla, der „für das dumme Kind“ getötet wurde.
Ist es also der risikolose Schuss aus dem Hinterhalt, der die Poster zu solchen Meldungen verleitet? Oder hat das Internet eine neue spezifische Qualität der Gewalt hervorgebracht? Lobo zitiert Frank Schirrmacher, der in einem Tweet schon 2012 schrieb: „Nicht die Anonymität, sondern der ansteigende Grad der NICHT-anonymen Hass-Komentare und –Mails, von Sarrazin bis Grass, ist beunruhigend.“ Lobo sieht mit der Illusion der Gesellschaft auch einen ihrer zentralen bürgerlichen Werte schwinden: den der Mäßigung. „Mäßigung erkennt man vor allem daran, was als extrem gilt. Das von Extremisten verwendete Schlagwort ‚Lügenpresse’ zielt in erster Linie auf ebendiesen Kern bürgerlicher Öffentlichkeit. Wer ‚Lügenpresse’ sagt, meint eigentlich: Die Medien sind nicht bereit, meine extremistische, kompromisslose, ungemäßigte Werthaltung abzubilden. Weil Extremismus und der autoritäre Ausschluss des Anderen Hand in Hand gehen, zielt der Begriff ‚Lügenpresse’
auch auf den Pluralismus.“
Den Lügenpresse-Rufern ginge es nicht darum, auch ihre Interpretation der Realität abgebildet zu sehen, sondern ausschließlich ihre. Der Abschied von der medialen Mäßigung ist dabei mit dem Erfolg der sozialen Medien eng verschränkt. Dort werden Sensation und Zuspitzung tendenziell bevorzugt. Soziale Medien sind riesige, enorm wirksame „Gefühlsschleuderwerke“, deren Hauptzweck die Emotion ist. „Information“, so Lobo, „kommt erst lange danach.“ Damit hat man es mit einer ganz anderen öffentlichen Sphäre zu tun, die nicht auf Faktizität basiert, sondern auf der Emotion. Für das Prinzip der Demokratie ist das hingegen ein schlechter Treibstoff, sie basiert immer noch darauf, dass Menschen sich rational zueinander verhalten und Interessen ausverhandeln.
Vielleicht liegt der Wert der Sozialen Medien ja genau darin, einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel sichtbar zu machen, bei dem es aber weniger darum geht, die Symptome, als die Ursachen zu bekämpfen. In einer Gesellschaft, der ein bislang ungeahnter Reichtum an Information und Wissen zur Verfügung steht, den sie auf paradoxe Weise nicht zu nutzen weiß.
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