Kanonenfutter
SONDERECKE. Künftig sollen sich StreifenpolizistInnen als "First Responder" mit TerroristInnen messen.|Um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger, lllustration: Petja Dimitrova
Marc Roth klatscht in die Hände bevor er beginnt. Roth ist gerichtlich beeidigter Sachverständiger für militärische und polizeiliche Schusswaffen – und Prokurist des deutschen Waffenherstellers Heckler & Koch. Beim Europäischen Polizeikongress in Berlin Anfang 2017 referiert er über die Gefahren des internationalen Terrorismus. Und dass seiner Meinung nach die Polizei auch reguläre Streifen militärisch ausrüsten sollte. Wie praktisch, beim Produktstand der Firma kann das Publikum die Sturmgewehre gleich in die Hand nehmen.
Auch eine Abordnung des österreichischen Innenministeriums.
Zufall oder nicht, zum Jahresende kündigte das Innenministerium einen Strategiewechsel an. Künftig sollen auch gewöhnliche StreifenpolizistInnen den Kampf mit TerroristInnen aufnehmen. Ob im Fall von Exekutionskommandos wie in Paris oder LKW-Angriffen wie in Nizza – AngreiferInnen sollen so schnell wie möglich erschossen werden, noch bevor zahlreiche zivile Todesopfer zu beklagen sind. Doch der erhoffte Sicherheitsgewinn könnte sich als Schuss ins Ofenrohr erweisen.
Bislang sicherte die erste eintreffende Polizeistreife lediglich den Tatort und wartete dann auf Spezialeinheiten wie Wega und Cobra. Gerade in der Großstadt sind diese ohnehin in wenigen Minuten vor Ort. Seit kurzem hat nun jeder Wiener Streifenwagen die Ausrüstung von KombattantInnen an Bord: ballistische Helme, Splitterschutzwesten und ein Sturmgewehr vom Typ Steyr AUG 3A. Was beim Kräftemessen mit einem militärisch geschulten Terrorkommando jedoch fehlt, ist die Kleinigkeit der erforderlichen Ausbildung und Schulung.
Schon bald könnte ein Streifenwagen auf ein Terrorkommando treffen. Bei einem „Pariser Szenario“ wäre der/die Sturmgewehr-Schütze/in nicht nur personell in der Unterzahl und schlechter ausgebildet, seine/ihre Waffe hätte außerdem nicht die Feuerkraft der Kalaschnikows der TerroristInnen. Im besten Fall könnte er/sie die Übermacht ein paar Minuten räumlich binden. (Gegen LKW-Angriffe gelten ohnehin Poller als die verlässlichere Variante.)
Dem steht ein nicht unerhebliches Risiko für Polizeibedienstete sowie Unbeteiligte gegenüber. Im schlimmsten Fall kann so ein überhasteter Waffengang die Zahl der Todesopfer noch erhöhen. Eine Vergleichsstudie zwischen Norwegen und Schweden illustriert das. Norwegische Polizeieinsätze gegen Bewaffnete enden für alle Beteiligten signifikant glimpflicher. Da norwegische Polizisten keine Waffe bei sich tragen, greifen sie häufiger zu gelinderen Taktiken. Kommen Schusswaffen zum Einsatz, dann besser vorbereitet und mit überlegener Feuerkraft. Im deutschen Nordrhein-Westfalen haben die PersonalvertreterInnen ähnliche Pläne des Innenministers daher auch als „lebensbedrohlich“ kritisiert.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at
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