Wir sollten Doppelstaatsbürgerschaften erleichtern
Christoph Wiederkehr, Wiener Bildungsstadtrat der NEOS, über die Vorteile eines Ethikunterrichts, seinen Austausch mit Melisa Erkurt über Diskriminierung, die Förderung von Zweisprachigkeit und zu hohe Hürden bei der Staatsbürgerschaft. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Alexander Pollak, Gunnar Landsgesell, Fotos: Magdalena Blaszczuk
Wie würden Sie sich selbst beschreiben, sind Sie ehrgeizig?
Ja schon, das war ich schon in der Schule, auch beim Sport. Ich wollte immer etwas bewegen und schaffen, und habe gelernt, dass man mit Ehrgeiz und Einsatz seine Ideale am besten voranbringen kann.
Was ist das ehrgeizigste Ziel, das Sie sich für die kommende Legislaturperiode gesteckt haben?
Dass Aufstieg und Bildungsaufstieg unabhängig von der Herkunft möglich sein muss. Das ist ein sehr langfristiges und hehres Ziel, das sicher nicht in einer Periode zu realisieren sein wird. Aber mein Beitrag als Bildungsstadtrat wird sein, einige Schritte näher in Richtung Bildungsgerechtigkeit zu kommen. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben sollte für jedes Kind in dieser Stadt gelten.
Das Ziel deckt sich ein bisschen mit dem Buch „Generation haram“ von Melisa Erkurt. Haben Sie das Buch gelesen?
Ja, ich habe es mit großem Interesse gelesen und bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, weil es so eindrücklich ist. Beschrieben werden auch Diskriminierungserfahrungen einzelner Kinder und Jugendlicher, die sich im Bildungssystem nicht angenommen fühlen. Ich hatte Melisa Erkurt kontaktiert, um mich während der Koalitionsverhandlungen mit ihr auszutauschen, und habe versucht, die wichtigsten Punkte in die Verhandlungen einzubringen.
Christoph Wiederkehr (NEOS), geboren 1990 in Salzburg, studierte in Wien Jus und Politikwissenschaft. Er ist seit November 2020 Vize-Bürgermeister von Wien und Stadtrat für Bildung, Jugend, Integration und Transparenz. Damit ist er u.a. zuständig für Kindergärten und Schulen, für Einwanderung und Staatsbürgerschaft.
Was konkret wollen Sie nun gegen Rassismus und Diskriminierung an Schulen tun?
Es geht eher um eine generelle Sensibilisierung im Schulsystem, weil man mittlerweile in der Sprach- und Bildungswissenschaft weiß, dass sich Diskriminierungserfahrungen ganz gravierend auf den Bildungserfolg auswirken. Und auch dafür, wie man Schule erlebt. Durch Diskriminierung wird die Schule zum negativen Ort. Man muss es schaffen, über die Lehrer*innenausbildung, auch kulturelle Sensibilität stärker zu verankern. Um auch innerhalb der Schülerschaft stärkeres Verständnis zu erwirken, bin ich ein Anhänger eines verpflichtenden Ethikunterrichts für alle – weil genau im Ethikunterricht solche Diskriminierungserfahrungen thematisiert werden können. Dort können sich alle, und zwar unabhängig von Religion oder Herkunft, gemeinsam über Wertvorstellungen verständigen. Ich kann das zwar in Wien nicht umsetzen, aber ich möchte zumindest antirassistische und Antidiskriminierungsarbeit an den Schulen verstärken. Unter anderem auch mit dem Verein ZARA.
Ein weiterer Kritikpunkt von Erkurt ist, dass das Schulsystem generell auf Kinder ausgerichtet ist, die ohnehin vom Elternhaus unterstützt werden und weniger auf jene mit nicht so guten Startbedingungen. Bei der Vergabe von Kindergartenplätzen ist es derzeit so, dass sie an den Bedürfnissen erwerbstätiger Eltern ausgerichtet sind und nicht an den Bedürfnissen von Kindern mit mehr Förderungsbedarf. Ist eine Änderung geplant?
Ich unterstreiche die Analyse von Erkurt, dass Bildungschancen im österreichischen Schulsystem ungleich verteilt sind. Das hat sehr stark mit der frühen Selektion zu tun, aber Bildungssegregation beginnt natürlich bereits im Kindergarten. Da müssen wir ansetzen, wir müssen etwa in eine Sprachförderung im Kindergarten investieren. Zur Frage, wer welche Bildungsplätze bekommt: Hier fungiert vor allem die Ganztagsschule als wertvolle Institution für gelungene Bildungs- und Integrationsarbeit. Wir wollen stärker darauf schauen, wer sie braucht. Im Rahmen der Schülerallokation wollen wir stärker den sozioökonomischen Background einbeziehen. Der Bildungshintergrund der Eltern soll dabei das wichtigste Kriterium für so einen Sozialindex sein. Zusätzlich wollen wir die ganztägigen Schulen ausbauen. Derzeit haben wir 70 Standorte, pro Jahr sollen zehn dazukommen.
„Man weiß mittlerweile, dass sich Diskriminierungserfahrungen auf den Bildungserfolg auswirken.“ Christoph Wiederkehr
Wie stehen Sie zur Mehrsprachigkeit, die derzeit eher als Defizit verstanden wird. Was planen Sie?
Ich möchte grundsätzlich eine Veränderung in der Diskussion erwirken, weil Mehrsprachigkeit eine große Chance ist, dafür muss man aber auch investieren. Das Schlimmste wäre, ein Kind spricht zwei Sprachen, aber keine gut. Wir haben bei der Regierungsklausur ein großes Sprachförderpaket auf den Weg gebracht und wollen die Sprachförderkräfte im Kindergarten von 300 auf 500 erhöhen. Das betrifft die deutsche aber auch die Muttersprache. Auch die Muttersprache kann für den weiteren Bildungserwerb wichtig sein.
Ein sehr emotionales Thema ist die Abschiebung von Kindern, die hier geboren und aufgewachsen sind. Im Fall von Tina haben Sie sich mit Schülerinnen getroffen, die dagegen demonstriert haben. Was können Sie tun, um Kinder und Jugendliche zu schützen?
Ich kann meine Stimme erheben. Ich habe auf Landesebene leider keine politische Kompetenz, Abschiebungen zu verhindern. Ich kann aber politisch aufzeigen, dass es moralisch abzulehnen und unmenschlich ist, Kinder, die in Österreich aufgewachsen sind und hier zur Schule gehen, in ein Land abzuschieben, das sie kaum kennen. Die Spitze des Eisberges war die zwölfjährige Schülerin Tina. Ich war im Austausch mit der Schulgemeinschaft, die sich für sie eingesetzt hat. Der Innenminister hätte auf jeden Fall die Möglichkeit gehabt, ein humanitäres Bleiberecht zu geben – und er hätte die moralische Verpflichtung dazu gehabt. Es ist zynisch, dass er sich auf eine rein rechtliche Beurteilung ausredet. Es war seine bewusste Entscheidung, das so durchzuführen.
Fall Tina: „Es ist zynisch, dass sich der Innenminister auf eine rein rechtliche Beurteilung ausredet.“
Ein möglicher Schutz wäre die Staatsbürgerschaft gewesen. Tina wurde in Österreich geboren und hat zehn Jahre in Österreich verbracht. Wären Sie dafür, dass hier geborene Kinder ein bedingungsloses Recht auf die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten?
Das wäre eine komplette Abkehr vom System des Staatsbürgerschaftsrechts in Österreich. Wofür ich mich einsetze, ist die Möglichkeit, Doppelstaatsbürgerschaften zu erleichtern. Klar ist, es gibt das Kindesrecht, das auch in der Kinderrechtskonvention geschützt ist, das muss beachtet werden. Das ist im Fall von Tina zu wenig passiert. Wofür ich mich politisch stark gemacht habe, war, beim humanitären Bleiberecht wieder die Perspektive der Gemeinden einzubinden. Sie sind näher an den Fällen und können das besser beurteilen.
Bei der Staatsbürgerschaft haben Sie recht vorsichtig formuliert. Nehmen wir das deutsche Modell: Wenn ein Elternteil bereits acht Jahre im Land ist und das Kind in Deutschland auf die Welt kommt, erhält es automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Alter von 18 Jahren kann es sich für die eine oder andere Staatsbürgerschaft entscheiden. Ein Modell auch für Österreich?
Darüber kann man sicherlich diskutieren, wir brauchen auf jeden Fall einen gesellschaftlichen Diskurs über das Thema Staatsbürgerschaft. Auch über die Frage, wie hoch die Schwellen sind, um die Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ich selbst habe darauf ehrlich gesagt auch noch nicht die einzige richtige Antwort. Klar ist, dass wir die finanziellen Hürden für die Annahme der Staatsbürgerschaft senken müssen. Für eine Familie mit zwei Kindern kostet das Verfahren 3.000 Euro, manchmal mehr. Das ist zu viel.
Fürchten Sie, dass Sie das Stimmen von Rechts kosten könnte?
Da bin ich sehr gelassen. Ich finde die öffentliche Diskussion zum Thema Vielfalt und offene Gesellschaft muss man als Liberaler offensiv führen. Ich glaube, dass man viele überzeugen kann, dass ein positiver Zugang zur Staatsbürgerschaft der richtige ist. Es stimmt aber, immer wenn ich das Thema Staatsbürgerschaft anspreche, werde ich gewarnt, dass das ein politisches Minenfeld ist. Genau deshalb ist es so wichtig, das zu thematisieren. Immer weniger Leute, die zu uns ziehen, nehmen die österreichische Staatsbürgerschaft an, wir haben mittlerweile ein echtes Demokratiedefizit. Ich finde es aber sehr schön, wenn Menschen die Staatsbürgerschaft annehmen und werde deshalb sehr laut und selbstbewusst einfordern, dass wir diese Möglichkeit schaffen.
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