Stützen der Gesellschaft – Neroz Mohammed, Freizeitpädagogin: „Ich wollte unbedingt wieder unterrichten“
Neroz Mohammed ist eine starke Frau mit leuchtenden braunen Augen und einer einnehmenden Ausstrahlung. Die 43-jährige Freizeitpädagogin, die mit ihrer Familie 2015 nach Österreich geflüchtete ist, empfängt uns in ihrer Wohnung im 19. Bezirk in Wien, wo sie Kräutertee serviert und dann auf einem knallgelben Sessel Platz nimmt. An der Wand hinter ihr hängen Fotos ihrer Kinder, die sie umrahmen, und die, so wird schnell klar, der Grund für ihre Kraft und ihr Leuchten sind. Wie hat sie den schwierigen Neuanfang in einem für sie unbekannten Land geschafft? Neroz Mohammed gibt Antworten.
Redaktion: Sonja Kittel, Fotos: Michael Pöltl
„Es war der Horror“
„Mein Name ist Neroz und ich wurde 1981 in Syrien geboren. Ich habe dort englische Literatur studiert und sieben Jahre Englisch unterrichtet. Ich begann an einer Volksschule in meinem Heimatort Aleppo. Dann lernte ich meinen Mann kennen und wir heirateten. Gemeinsam zogen wir nach Kobane, wo ich an einem Gymnasium arbeiten konnte. Als der Krieg begann und Kobane bombardiert wurde, gingen wir zurück nach Aleppo. Wir hatten mittlerweile drei Kinder und mein Mann wollte Syrien verlassen. Ich fand die Idee nicht gut, weil ich mir die Flucht mit drei kleinen Kindern nicht vorstellen konnte, aber nachdem dann auch Aleppo bombardiert wurde, hatten wir keine andere Möglichkeit und flüchteten in die Türkei. Mein Mann arbeitete dort von morgens bis abends, um uns irgendwie versorgen zu können. Wir sind Kurden und wir erlebten jeden Tag Rassismus. Die Kinder konnten nicht in die Schule gehen, mein ältester Sohn war damals neun Jahre alt, und nach Syrien konnten wir nicht zurück, weil überall Krieg herrschte. Es war der Horror.
„Mein einziger Gedanke war, meine Kinder festzuhalten“
Wir beschlossen, unsere Flucht gemeinsam mit zwei weiteren Familien fortzusetzen. Insgesamt waren neun Kinder dabei, das Jüngste an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei geboren. Wir sollten mit einem Boot nach Griechenland übersetzen, doch die Schlepper hatten uns betrogen. In ein Boot, das für 20 Menschen ausgelegt war, sollten über 40 gepfercht werden. Wir wollten das Geld zurück, das wir für die Überfahrt bezahlt hatten, doch die Schlepper zwangen uns in das überfüllte Boot. Ich hielt meinen zehn Monate alten Sohn Hamoude in den Armen, mein älterer Sohn Lawad und meine Tochter Rama links und rechts von mir und mein einziger Gedanke war, meine Kinder festzuhalten. Sonst fühlte ich nichts. In Griechenland wurden wir von sehr lieben Menschen am Strand empfangen. Wir blieben dreizehn Tage dort und lebten in Zelten. Dann ging es weiter über Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich.
Liebe, Unterstützung & Sicherheit
Den Kindern ging es sehr schlecht. Wir lernten eine Frau am Hauptbahnhof in Wien kennen. Sie war Psychotherapeutin und ihr Mann Kinderarzt. Sie brachten uns in ihr Sommerhaus an der alten Donau und unterstützen uns in jeglichem Sinne. Wir haben dort Liebe, Warmherzigkeit und Sicherheit erfahren und unsere Kinder waren glücklich. Wir beschlossen in Österreich zu bleiben und bekamen nach einem kurzen Aufenthalt im Pavillon Lainz über die Diakonie eine eigene Wohnung. Wir suchten um Asyl an und erhielten den positiven Bescheid nach einem halben Jahr. Ich wollte unbedingt die deutsche Sprache lernen, denn das ist der Schlüssel zu allem. Zuerst habe ich mir privat einen Kurs bezahlt. Nach dem positiven Bescheid bekam ich dann einen Kurs über das AMS. Ende 2017 war ich schon auf B2 Niveau.
„Plötzlich hatte ich keine Kraft mehr“
So sehr mir das AMS bei der Sprache geholfen hat, sowenig Unterstützung erfuhr ich bei dem Versuch, wieder als Lehrerin zu arbeiten. Mein Betreuer machte mir null Hoffnung und so machte ich mich selbst auf die Suche. Ich fand einen Zertifikatskurs für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund an der Uni Wien, bewarb mich dort und wurde gleich genommen. Wir waren dort ein gutes Team und unterstützen uns gegenseitig beim Lernen. Nachdem ich den Kurs abgeschlossen hatte, wollte ich das Lehramtsstudium beginnen, doch plötzlich hatte ich keine Kraft mehr. Die ganze Energie war weg. Ich bewarb mich bei „Bildung im Mittelpunkt“, ein Anbieter von freizeitpädagogischen Angeboten für Kinder in Ganztagsschulen, und startete an einer Volksschule als Freizeitpädagogin. Dort unterstütze ich die Lehrer*innen am Vormittag und übernehme die Kinder am Nachmittag für das Mittagessen, die Lernstunde und die Freizeitstunden. Ich mache Ausflüge mit ihnen, gebe Tanzkurse von orientalisch bis Hip Hop oder koche mit ihnen.
„Es gibt immer wieder Vorurteile“
Ich arbeite sehr gerne mit den Kindern in meiner Schule, doch immer wieder gibt es Vorurteile von Kolleg*innen oder Eltern, die mir wegen meiner Herkunft oder einfach wegen meines Namens nicht zutrauen, gut unterrichten zu können. Trotzdem mache ich weiter. Für mich und meinen Mann ist es sehr wichtig zu arbeiten und nicht vom Staat bezahlt zu werden. Für die Kinder wäre es schlimm zu sagen, meine Eltern sind arbeitslos. Unser jüngster Sohn, Hamoude, ist jetzt in der vierten Klasse Volksschule. Seine ältere Schwester Rama ist 17 und in der zweiten Oberstufe Gymnasium, mein ältester Sohn Lawad hat noch ein Jahr an der graphischen Höheren Schule vor sich.
„Das war für mich ein Wow-Moment“
Eine gute Ausbildung für meine Kinder war mir sehr wichtig. Ich weiß, dass sagen alle Eltern über ihre Kinder, aber meine drei sind wirklich schlau. In Syrien können Lehrpersonen ihre Kinder mit in die Schule bringen, wo sie in einer eigenen Gruppe unterrichtet und betreut werden. So hat mein Sohn schon sehr früh angefangen zu schreiben und zu lesen. Als wir nach Österreich kamen, wollte ich einen Platz an einem Gymnasium für Lawad finden. Doch seine Volksschullehrerin sagte, er müsse auf eine NMS gehen. Ich wollte das nicht akzeptieren. Ich versuchte an 16 verschiedenen Schulen einen Platz für ihn zu bekommen, doch niemand wollte ihn nehmen. Ein Flüchtlingskind, das nach so kurzer Zeit auf ein Gymnasium gehen sollte, das war unvorstellbar. Also meldete ich ihn erst an einer privaten NMS an. Den ganzen Sommer lernten er und seine Geschwister Deutsch mit einer österreichischen Freundin, während alle anderen Kinder in den Urlaub fuhren und spielten. Nach eineinhalb Jahren auf der NMS konnte Lawad auf das Gymnasium wechseln und hatte dort zwar nicht perfekte, aber gute Noten. Das war für mich ein Wow-Moment mit vielen Freudentränen. Wir hatten es geschafft.
„Ihr müsst stark bleiben“
Mein nächstes großes Ziel ist die österreichische Staatsbürgerschaft, die ich im September beantragen will. Ich war schon bei der MA35 für ein Beratungsgespräch und habe eine Riesenliste an Dingen mitgenommen, die ich vorbereiten muss. Auch das Lehramtsstudium habe ich noch im Hinterkopf. Anderen Menschen, die in einer Situation sind, wie ich vor neun Jahren, sage ich, ihr müsst stark bleiben. Es ist nicht leicht und es werden Phasen kommen, an denen man nicht mehr weiter kann, aber dann denkt man an seine Kinder und auch ein bisschen an sich selbst und macht trotzdem weiter.“
Sie mussten aus ihrem Heimatland fliehen und fast alles zurücklassen. Jetzt arbeiten sie in Österreich in einem systemrelevanten Beruf und zählen zu den Stützen der österreichischen Gesellschaft. In der 11-teiligen Porträtreihe „Stützen der Gesellschaft“ erzählen geflüchtete Menschen, wie sie unter oft sehr schwierigen Bedingungen einen Neuanfang geschafft haben, und welche Wünsche und Ratschläge sie haben. Wenn Sie Geflüchtete unterstützen wollen, finden Sie hier Infos und Kontakte. Alle bereits veröffentlichten Porträts der aktuellen Reihe sowie unsere Porträtreihen der letzten Jahre sind hier nachzuschauen: www.hierangekommen.at
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