Neue Chancen am Land
Bevölkerungsrückgang und Arbeitskräftemangel zeigen: Österreich braucht Zuwanderung. Diese birgt viel Potenzial, gerade für ländliche Gebiete.
Text: Sarah Kleiner
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Murat Selimagić sitzt im Büro seiner Baufirma in Villach gegenüber seiner Ehefrau Hana – der „Finanzchefin“, wie er sagt. Der gebürtige Bosnier immigrierte 1991 nach Kärnten, da war er 17 Jahre alt. „Ich wollte meine Karriere eigentlich in Jugoslawien aufbauen, aber dann ist der Krieg ausgebrochen und die Grenzen waren geschlossen. Ich konnte nicht zurück.“ Sein Vater war bereits als Maurer im österreichischen Baugewerbe tätig. Angesichts der drohenden Eskalation holte er seine beiden Söhne zu sich. Selimagić hat sich daraufhin vom Hilfsarbeiter zum erfolgreichen Unternehmer hochgearbeitet. Er absolvierte eine Lehre als Zimmerer, machte die Polierschule und holte die HTL-Matura nach. „Deutsch hab‘ ich im tiefsten Gurktal gelernt, es war anfangs wirklich nicht leicht“, sagt er und lacht. Seit 2009 ist er selbständig und in Österreich, Slowenien und der Schweiz im Baumanagement tätig. Zu seinen jüngsten Projekten zählt zum Beispiel die Bauleitung des Linzer Stadions.
Das Österreich, das Murat Selimagić damals, wie er sagt „herzlich aufgenommen“ hat, war ein anderes als heute. Der Bundeskanzler hieß Franz Vranitzky, der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider und dessen Aussagen über die „ordentliche Beschäftigungspolitik“ im Dritten Reich sorgten im ganzen Land für Empörung. Heute schmieden rechtsextreme Gruppierungen „Remigrationspläne“, auch Konservative stellen Zuwanderung zunehmend und pauschal als Belastung für das österreichische Sozialsystem dar. Geschichten wie die von Murat Selimagić zeigen, wie verzerrt dieses Bild ist. Fremdenfeindliche Akteure täuschen über eine soziale und wirtschaftliche Tatsache hinweg: Österreich profitiert in vielerlei Hinsicht von Migration, und das vor allem am Land. Vielmehr kann man sogar sagen: Österreich braucht Zuwanderung.
Murat Selimagić arbeitete sich vom Hilfsarbeiter zum Unternehmer hoch und führt eine Baufirma in Villach. Damals sei er in Österreich herzlich aufgenommen worden, sagt der gebürtige Bosnier.
Abwanderung ins Urbane
Österreich wächst zwar insgesamt, aber zugleich schrumpft es regional. Im Zeitraum von 2002 bis 2021 ist die Bevölkerung in 28 der 93 österreichischen Bezirke (ohne Wien) zurückgegangen. Besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffen waren die Bundesländer Steier-mark und Kärnten, wobei letzteres das einzige ist, dessen Bevölkerung laut Prognosen der Statistik Austria auch in Zukunft weiter zurückgehen wird. Die Folgen des demografischen Wandels, also der Alterung der Gesellschaft und der Abwanderung der Jungen in urbane Gebiete, sind in vielen Gemeinden spürbar. Geschlossene Schulen, Post- und Bankfilialen, fehlende Lebensmittelgeschäfte und Gasthäuser, mangelnde Lehrplätze und Weiterbildungsmöglichkeiten sind echte Probleme am Land. Besonders in solchen Regionen ist Zuwanderung ein Weg, um Wirtschaft, Infrastruktur und Lebensqualität für die Bevölkerung zu erhalten.
Zuwanderung ist in Österreich dennoch immer in erster Linie ein städtisches Phänomen. 2021 lebten beinahe zwei Drittel der im Ausland geborenen Menschen in einer Stadt mit mehr als 20.000 Einwohner:innen, nur ein Viertel in einer Stadt mit weniger als 5.000. Allerdings ist der Anteil an Personen mit ausländischem Geburtsort in den vergangenen zwanzig Jahren in 89 der 93 österreichischen Bezirke gestiegen. Im Bezirk Klagenfurt-Land ist er beispielsweise von 9,1 auf über elf Prozent angestiegen, im ganzen Bundesland von neun auf 13 Prozent. Auch in der wissenschaftlichen Beobachtung rückt deshalb das Potenzial von Migration für ländliche Gebiete seit einigen Jahren immer mehr in den Fokus.
Die Kulturkenntnisse und Mehrsprachigkeit von Zuwander:innen können laut Marika Gruber, Senior Researcher an der FH Kärnten, beim Erschließen neuer Märkte helfen.
Innovationspotenzial am Land
„Wir konnten bei der Forschung in den verschiedensten Regionen und Ländern beobachten, dass Migration viel Innovationspotenzial mit sich bringt“, sagt Marika Gruber, Senior Researcher an der FH Kärnten. „Die Kulturkenntnisse und Mehrsprachigkeit, die Zuwanderer:innen mitbringen, sind enorm nützlich beim Erschließen neuer Märkte.“ Durch Migration würden im ländlichen Raum neue Vereine und Unternehmenszweige entstehen. Im Rahmen des EU-weiten Projekts MATILDE („Migration Impact Assessment to enhance Integration and Local Development in European Rural and Mountain Areas”), an dem neben Österreich neun weitere Länder beteiligt waren, hat Marika Gruber sich intensiv mit den sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Zuzugs von Drittstaatsangehörigen in rurale Gebiete und Bergregionen beschäftigt.
Analysiert wurden die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Migration in den teilnehmenden Ländern prägen. Das Fazit für Österreich: eine vergleichsweise restriktive Migrationspolitik, die Integration einerseits an ein Leistungsparadigma knüpft, an einen Arbeitsplatz und Deutschkenntnisse, aber andererseits durch einen beschränkten Arbeitsmarktzugang für Zuwanderer:innen genau diese Integration erschwert.
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Auch in der Wissenschaft rückt das Potenzial von Migration
für ländliche Gebiete immer mehr in den Fokus.
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Mehr Angebote schaffen
Die Herausforderungen für Integration im ländlichen Raum sind ähnlich wie in größeren Städten, allerdings ist in letzteren bereits ein breites Vertretungs- und Unterstützungsnetz für Migrant:innen vorhanden. Auch das Deutschkursangebot ist in kleineren Bezirken ausbaufähig. „Es ist aufgrund der finanziellen Anspannungen für kleine Gemeinden nicht möglich, alle Sprachen anzubieten und Kurse vollständig zu besetzen“, sagt Marika Gruber. „Deshalb ist es empfehlenswert, mit umliegenden Gemeinden zusammenzuarbeiten.“
Eine weitere Rolle am Land spielt der Ausbau der Kinderbetreuung. Außerdem nicht zu vernachlässigen: das Thema Führerschein, der für viele junge Migrant:innen nicht erschwinglich, aber aufgrund der Distanzen am Land oft erforderlich ist. Gruber verweist auf Beispiele, wo Arbeitgeber oder die Belegschaft Fahrgemeinschaften gründeten, um den Weg zur Arbeit oder auch zu privaten Terminen zu ermöglichen. Die zahlreichen Interviews, die sie mit Zuwanderer:innen geführt hat, zeigen aber auch, dass es nicht immer leicht ist, in die ländliche Gesellschaft aufgenommen zu werden.
Génése Akomi gründete ihr eigenes Modelabel und betreibt heute eine Boutique in Moosburg im Bezirk Klagenfurt-Land. Auch nach 30 Jahren in Kärnten muss sie Menschen noch klarmachen, dass das auch ihr Zuhause ist.
Zusammenleben auf Augenhöhe
„Ich muss den Leuten manchmal klarmachen, dass auch ich hier – trotz anderer Hautfarbe – daheim bin. Und das, obwohl ich schon seit über 30 Jahren in Kärnten lebe“, sagt Génése Akomi. Die 41-Jährige kommt ursprünglich aus der Demokratischen Republik Kongo und ist seit ihrem neunten Lebensjahr in Österreich. Nach dem Studium der Afrikanistik und dem Abschluss einer internationalen Kunsthochschule gründete sie 2021 das Modelabel „Génése Akomi Couture“ und betreibt heute eine Boutique in Moosburg im Bezirk Klagenfurt-Land. Sie betont aber auch, dass sie als Teil der Gesellschaft akzeptiert und wertgeschätzt werde. „Wenn es nicht die Hautfarbe oder der Migrationshintergrund ist, der Menschen nicht passt, dann wäre es vielleicht die Haarfarbe oder eine schiefe Nase.“
„Immer beweisen zu müssen, dass man ein ganz normaler Mensch ist, mit allen Sorgen, Freuden und Wünschen, das macht schon müde“, meint Murat Selimagić. Er ist neben seinem Job auch Migrationsbeauftragter der Kärntner Wirtschaftskammer und nimmt in dieser Funktion und als Arbeitgeber wahr, was nachkommende Generationen beschäftigt. „Viele Zuwanderer:innen haben den Eindruck, dass sie mehr leisten müssen als andere, um als ebenbürtig angesehen zu werden.“ Außerdem sehe er, welche Industriezweige durch Migration die notwendigen Fach- und Arbeitskräfte gewinnen könnten. Integrationspolitisch wünsche er sich deshalb einen entbürokratisierten und liberalen Arbeitsmarktzugang und gezielte Ausbildungen. Erfolgreich seien außerdem Mentoring-Programme, wie jenes der Wirtschaftskammer, die Migrant:innen auf den Berufseinstieg vorbereiten.
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„Immer beweisen zu müssen, dass man ein ganz normaler
Mensch ist, macht müde“, sagt Selimagic´.
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„Ein Bereich, in dem ich mir mehr Diskussion wünschen würde, ist das gemeinschaftliche Zusammenleben auf Augenhöhe“, sagt Marika Gruber. „Es wird auch zukünftig mehr Migration erfolgen, Belegschaften werden heterogener und diverser, und dafür braucht es mehr Austausch in der Gesellschaft.“ Damit Integration in ländlichen Regionen gelingen kann, braucht es laut der Migrationsexpertin den politischen Willen, Kooperationsbereitschaft aufseiten der Unternehmer:innen und eine Zivilgesellschaft, die offen auf neue Mitbürger:innen zugeht. Und einen stärkeren Fokus auf die vielen Erfolgsgeschichten, die es in der Stadt sowie am Land bereits gibt.
Sarah Kleiner leitet die Produktion des ORIGINAL Magazins und ist als freie Autorin im Bereich Wissenschaft unter anderem für die Tageszeitung Der Standard tätig.
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