„Nur dem Parlament verantwortlich“
In England gibt es mit dem IOPC eine weisungsfreie Behörde, die bei Gewalt- und anderen Vorwürfen gegen die Polizei ermittelt. Ein Gespräch mit Regional-Direktor Derrick Campbell über institutionellen Rassimus, Bodycams und wiedergewonnenes Vertrauen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell
In Österreich ist eine unabhängige Behörde zur Untersuchung von Polizeigewalt geplant, Details wurden für Herbst angekündigt. Die Polizei soll nicht länger gegen sich selbst ermitteln. Menschenrechtsexperten wie Manfred Nowak oder Amnesty fordern das seit Jahren (siehe MO 59). In England und Wales gibt es mit dem IOPC (Independent Office for Police Conduct) so eine Stelle bereits. Sie ermittelt seit 2004 mit umfassenden Kompetenzen und vollkommen weisungsfrei, einzig dem Parlament verantwortlich. Aktiv wird das IOPC u.a. bei Todesfällen und schweren Verletzungen im Zuge polizeilicher Handlungen, bei Diskriminierung, Polizeikorruption oder bei Einsatz von Gewalt oder Waffen durch die Polizei. Regionaldirektor Derrick Campbell bezeichnet das IOPC als den „mächtigsten police watchdog der Welt“.
Englands Polizei hatte ein Problem mit Rassismus und Gewalt. Was hat sich seit der IOPC-Gründung verändert?
Wir haben 2004 unsere Arbeit aufgenommen, Auslöser war der Mord eines jungen Mannes namens Steven Lawrence aus rassistischen Gründen. Die Ermittlungen wurden zu einem echten Wendepunkt: bei allen involvierten Einrichtungen, sei es das Metropolitan Police Service, die Staatsanwaltschaft, die lokale Verwaltung oder der Nationale Gesundheitsdienst, überall wurde institutioneller Rassismus festgestellt. Sie alle behandelten ethnische Minderheiten anders als die weiße Mehrheitsgesellschaft. Die Ermittlungen wurden selbst Gegenstand von Untersuchungen, so konnte man das herausarbeiten. Bei den Menschen verschiedener Communities entstand dadurch viel Misstrauen, insbesondere gegenüber der Polizei.
Das IOPC übernimmt die schwierigsten Fälle, etwa auch bei der Diskriminierung von ethnischen Minderheiten. D. Campbell: „Wir haben alle Möglichkeiten, die Wahrheit herauszufinden.“
Wie hatte sich diese fehlende Kontrolle ausgewirkt?
3,3 Prozent der Bevölkerung in England sind Schwarz. Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei kontrolliert zu werden, ist für Schwarze Menschen neun Mal höher als die von Weißen. Bevor das IOPC seine Arbeit aufnahm, musste die Polizei dafür keine Rechenschaft abgeben. Sie verhielt sich gegenüber „people of color“ diskriminierend und es gab keinen Mechanismus, der sie zur Verantwortung gezogen hätte. Das IOPC ist nun dieser Mechanismus. Wir wurden gegründet, um die Arbeit der Polizei zu untersuchen. Wir können Polizisten verhören, sie verhaften, wir können sie wegen Mordes zur Anklage bringen. Wir sind „the most powerful watchdog in the world“, wenn es um die Polizei geht.
Wie unterscheiden Sie zwischen individuellem und institutionellem Rassismus?
Ein Beispiel: Wenn meine Organisation sagt, jeder Schwarze muss angehalten und durchsucht werden, bin nicht ich als Polizist rassistisch, sondern die Policy meiner Organisation ist es. Im Fall einer Beschwerde sehen wir uns an, was der Grund der Anhaltung war, wir sprechen auch mit dem Polizeibeamten. Man kann nicht einfach jemand anhalten, nur weil einem danach ist. Es muss eine rechtliche Grundlage geben. Gibt es keine für uns schlüssige Begründung, dann ist der Beamte verantwortlich, dann kommt er vor ein Tribunal oder, falls es eine kriminelle Ebene gibt, vor Gericht. Der zweite Teil unserer Arbeit ist es, Veränderungen zu veranlassen. In diesem Fall sprechen mit der Polizei, die dafür Sorge tragen muss, dass ihre Beamten sich korrekt verhalten. Tut sie das nicht, ist sie dafür zur Verantwortung zu ziehen. Die Polizei muss sich einfach bewußt sein, dass sie Rechte hat, die normale Bürger nicht haben.
Derrick Campbell, Regional-Direktor für Midland, mit Sitz in Birmingham. Sein Team ist für 14 der 43 Polizeieinheiten von England und Wales zuständig.
Wie werden Sie aktiv, entscheiden Sie das selbst?
Der Gesetzgeber hat uns völlige Unabhängigkeit garantiert, niemand in diesem Land kontrolliert uns. Wir sind allein dem Parlament verantwortlich, also keiner Partei, egal ob links oder rechts, kein Innenminister kann uns eine Weisung geben. Das Gesetz ist sehr eindeutig formuliert. Auch Abgeordneten ist es nicht möglich, zu intervenieren, um eine Untersuchung zu stoppen oder Einfluss zu nehmen. Davor schützt uns das Gesetz. Zur Frage, wie wir aktiv werden: Sie als Bürger haben die Möglichkeit, sich zu beschweren, wenn Sie glauben, ungerecht behandelt worden zu sein. Sie reichen die Beschwerde bei der Polizei ein, entweder gegen den Polizeiapparat oder einen bestimmten Beamten. Dieser Beschwerde muss die Polizei nachgehen. Tut sie das nicht, kann sich der Bürger an uns wenden. Wir befragen dann die Polizei nach der Ursache und reagieren darauf dementsprechend.
In welchen Fällen werden Sie aktiv?
Wir sind für 200.000 Polizeibeamte in England und Wales verantwortlich. Es gibt jedes Jahr 34.000 Beschwerden, daraus wählen wir 700 bis 750 Fälle pro Jahr aus. Es geht um die schwerwiegendsten und sensibelsten Fälle. Das heißt, dass 98 Prozent der Fälle von der Polizei bearbeitet werden, wir ermitteln zum Beispiel nach Schusswaffengebrauch der Polizei, bei Korruption oder Machtmißbrauch. Wenn ein Polizist in eine Handlung verwickelt ist, in der ein Mensch stirbt, übernehmen wir die Ermittlungen. Der Polizei ist es nicht erlaubt, das selbst zu untersuchen. Genauso, wenn es um schwere Verletzungen im Zuge einer Amtshandlung geht. Das heißt noch nicht, dass es ein Fehlverhalten der Beamten gab, wir untersuchen das unabhängig. Solche Fälle gehen automatisch an uns. Ich kann als Regionaldirektor aber auch einfach aktiv werden, wenn ich etwas im Fernsehen sehe, dem ich nachgehen möchte. Wir nennen das „The power of calling“. Die Polizei ist verpflichtet, mir unbeschränkt Einsicht zu gewähren, und zu kooperieren.
In Österreich wurden in einer Studie 1.500 Fälle in Wien und Salzburg untersucht, in denen der Polizei Misshandlung vorgeworfen wurde. Nur 7 Fälle kamen überhaupt vor Gericht. Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak sieht das Problem darin, dass die Polizei nicht die beste Ermittlungsinstanz gegen sich selbst ist. Und auch die Staatsanwälte sind zumeist auf Polizeiermittlungen angewiesen. Wie klingt das für Sie?
Das ist ganz eindeutig nicht effektiv, man kann seine eigene Arbeit nicht objektiv beurteilen. Das schafft auch kein Vertrauen in der Öffentlichkeit, was ein echtes Problem ist. Wir haben dieses System in England nicht, das würde nicht funktionieren. Aus diesem Grund ist auch die Anzahl ehemaliger Polizeibeamter im IOPC äußerst beschränkt. Ex-Polizisten sind nur in den Ermittlungsteams erlaubt, dort machen sie 21 Prozent aus. Ich selbst könnte meine Funktion nicht ausüben, wäre ich zuvor bei der Polizei gewesen. Das Gesetz formuliert sehr klar, dass die Polizei die Unabhängigkeit unserer Einrichtung in keiner Weise beeinträchtigen darf. Gerade deshalb sind wir so effektiv.
Wer bekommt die Ergebnisse Ihrer Ermittlungen? Gehen sie direkt an die Staatsanwaltschaft?
Falls wir bei einem Polizeibeamten ein Fehlverhalten feststellen, aber kein kriminelles Verhalten, dann schicken wir unsere Ermittlungsergebnisse zurück an die Polizei, also den Arbeitgeber des Beamten. Dort haben disziplinäre Maßnahmen zu erfolgen, also entweder eine Verwarnung oder auch eine Kündigung. Stellen wir Kriminalität fest, dann geht der Akt an die Staatsanwaltschaft, und im Fall einer Anklage an das Gericht weiter.
In Österreich oder auch im Nachbarland Deutschland gibt es immer wieder Diskussionen über den so genannten „Korpsgeist“. Kollegen sprechen sich ab und schützen sich so gegenseitig im Fall von Untersuchungen. Gibt es solche Fälle in England?
In England nennen wir das „Band of brothers“, wenn die Polizisten die Reihen enger machen, um ihre Kollegen zu schützen. Wir registrieren das in England, aber sehr selten. Viel öfter sind Polizisten nicht bereit, problematisches Verhalten von Polizisten zu decken, sondern gegen sie auszusagen, oder sie zu melden. Ich denke, das hat viel mit der Gründung des IOPC zu tun. Wir können jederzeit Einsicht nehmen und ermitteln, sobald es einen Verdacht gibt. Wir können in Computer einsteigen, Telefonate abhören, die Häuser betreffender Beamter verwanzen, die Kommunikation in ihren Autos abhören, wir können die Leute geheim überwachen. Wir haben alle Möglichkeiten, die Wahrheit herauszufinden.
In Wien gingen nach dem Tod von George Floyd 50.000 Menschen solidarisch gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße. Wie beurteilen Sie das Potenzial der #BlackLivesMatter Bewegung?
In dieser Diskussion sehe ich einen ganz wichtigen Punkt, wir müssen unbedingt zwischen individuellem und institutionellem Rassismus unterscheiden. Die Polizei in England ist nicht endemisch rassistisch, aber wir haben Praktiken gegen ethnische Minderheiten, die rassistisch sind.
Meinen Sie damit auch die Praktik des „racial profiling“?
Ja, definitiv. Die Wahrscheinlichkeit als Nicht-Weißer von der Polizei angehalten zu werden ist um ein vielfaches größer als für weiße Menschen. Die Frage ist aber, geht dieses Verhalten von einem Polizisten oder vom Polizeiapparat aus? Denn: Wie ist es zu beurteilen, wenn Schwarze oder Menschen aus Asien von schwarzen oder asiatischen Polizisten gestoppt werden? Handeln die Polizisten dann rassistisch oder entsprechen sie den Vorgaben ihrer Organisation? Die #BlackLivesMatter Bewegung spricht im Fall der Tötung von George Floyd von Rassismus. Beteiligt waren ein Latino, ein Asiate und ein Weißer, man spricht aber nur von dem weißen Polizisten. Wir müssen uns aber ansehen, woher die Motivation für dieses Verhalten kommt. Es ist der Polizeiapparat, der rassistisch ist. Das ist mir ganz wichtig. Egal, welche Farbe der Polizist auf der Straße hat, er führt aus, was der Polizeiapparat ihm vorgibt. Das ist der Hebel, an dem man ansetzen muss. Man muss das Gebahren der Polizei selbst verändern, um das Verhalten der Polizisten zu ändern.
Bei Beschwerden gegen die Polizei steht Aussage gegen Aussage. In Österreich spielten Handy-Videos in einigen Fällen, in denen Polizisten unter Verdacht standen, unmäßige Gewalt anzuwenden, eine entscheidende Rolle. Wie wichtig sind solche Videobeweise und welche Rolle spielen Bodycams bei Ihrer Arbeit?
Es ist gut, dass wir alle Mobiltelefone haben, und noch besser ist, dass es seit einiger Zeit ein Gesetz gibt, das Polizisten zum Einsatz von Bodycams verpflichtet. Das hatte einen massiven Einfluss auf die Anzahl der Beschwerden, es gibt ganz klar weniger Beschwerden, weil es durch die Bodycam einen unabhängigen Zeugen gibt. Die Körperkamera, und auch Leute, die bei Polizeieinsätzen mitfilmen, haben es Polizisten viel schwerer gemacht, sich aus einem Fehlverhalten herauszureden. Sie können nicht mehr ihre eigene Version erzählen und hoffen, damit durchzukommen. Und natürlich ist dieses Bildmaterial für unsere Ermittlungen beim IOPC extrem wichtig. Insgesamt hatte die Einführung der Bodycams aber einen positiven Einfluss auf das ganze Land.
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