Ottakringer Marktschau
Ein Video über den Brunnenmarkt erhitzte die Gemüter. Lokalaugenschein auf einem Markt, der die Geschichte und Menschen Wiens widerspiegelt – und auch für politisches Hickhack herhalten muss. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Reportage und Fotos: Milena Österreicher
Harte Arbeit. Standler Ömer Dugan: Um drei Uhr nachts geht es täglich zum Großmarkt, ab 6.30 Uhr
wird verkauft. Über Mahrers Video sagt er: „Eigentlich war es eine indirekte Werbung für uns.“
Eigentlich war das Video eine indirekte Werbung für uns“, meint Ömer Dugan an seinem Marktstand am Brunnenmarkt in Wien Ottakring. Der 33-Jährige beobachtete in den Wochen nachdem der Chef der Wiener ÖVP, Karl Mahrer, im März ein Video über den Brunnenmarkt veröffentlichte, verstärktes Interesse am Markt.
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Rechte Codes: ÖVP-Wien-Chef
Karl Mahrer behauptet,
„Syrer, Afghanen und Araber“
hätten den Markt „übernommen“.
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In seinem Video über den Brunnenmarkt „einst und heute“ spricht Mahrer über „Syrer, Afghanen und Araber“, die den Markt übernommen hätten sowie von einem Syrer, der genug Geld habe, um alles aufzukaufen. Chefredakteur Florian Klenk wies im Falter darauf hin, dass Mahrers Worte rechte Codes bedient, wie sie auch die Identitäre Bewegung nutzt. Selbst Justizministerin Alma Zadić bezeichnete Mahrers Aussagen in einer TV-Diskussion von Puls 24 als rassistisch.
Seit jeher gemischt
„Anfangs wollte ich das Video gar nicht sehen“, sagt Thomas Kaider, der eine Fahrradwerkstatt neben dem Brunnenmarkt, am angrenzenden Yppenplatz betreibt. Kaider ist in Ottakring aufgewachsen, ging schon als kleiner Junge mit seinen Eltern am Markt einkaufen und lebt seither in der Nähe. „Als ich vom Video hörte, dachte ich: Was wird hier schon wieder aus unserem Brunnenmarkt gemacht?“, erzählt er.
Der Brunnenmarkt zwischen Thaliastraße und Yppenplatz ist geschichtsträchtig. Mit rund 170 Marktständen und fast einem Kilometer Länge ist er einer der größten ständigen Straßenmärkte Europas. „Verlieren wir nicht unser Wien“, sagt Mahrer in seinem Video. Dieses Wien spiegelt sich in der Geschichte des Marktes wider. Seit seiner Gründung 1786 hat er zahlreiche Transformationen durchlaufen.
Es habe hier nie nur österreichische Standbetreiber*innen gegeben, sagt Cornelia Dlabaja von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dlabaja erforscht seit mehr als fünfzehn Jahren den Wandel des Brunnenmarktes: „Bereits in der Monarchie gab es Standler unterschiedlichster Länder.“
Einer der größten ständigen Straßenmärkte Europas. „Hätte es die migrantischen Standler*innen nicht
gegeben, würde der Markt heute nicht mehr existieren“, vermutet die Stadtforscherin C. Dlabaja.
Stadtgeschichte
Heute wird der Markt als bunte Attraktion beworben, manch einer spricht vom „Orient ums Eck“. Durchschnittlich 80.000 Menschen finden hier wöchentlich Waren von Vorarlberger Käse über türkische Datteln bis hin zu syrischen Falafel, laut Marktamt ist er der meistbesuchte Markt Wiens. Die Nationalitäten der Standler*innen erhebt das Marktamt nicht, insgesamt seien aber 46 verschiedene vertreten.
Wie es dazu kam? Nach dem Zweiten Weltkrieg verließen viele österreichische Bewohner*innen das Brunnenviertel, immer mehr Migrant*innen zogen in die teils sehr baufälligen Wohnungen. Zudem fand in den 1970er- und 1980er-Jahren ein Wechsel der Standler*innen statt. Während zunächst vorwiegend österreichische, polnische und tschechische Besitzer*innen Stände betrieben, wurden diese nicht mehr von den Kindern übernommen.
„Das lag an der sogenannten Bildungsmobilität und am Arbeitswandel“, erklärt Stadtforscherin Dlabaja. Die junge Nachfolgegeneration hatte ein deutlich höheres Bildungsniveau und war auch nicht mehr an dem beschwerlichen Arbeitsalltag interessiert. Viele türkische und serbische Betreiber*innen übernahmen stattdessen. „Hätte es die migrantischen Standler*innen nicht gegeben, würde der Markt heute nicht mehr existieren“, vermutet Dlabaja.
Soziologin Cornelia Dlabaja: Am Brunnenmarkt
gab es nie nur österreichische Standler*innen.
Trugschluss
Karl Mahrer scheint sich heute hingegen mehr heimische Landwirt*innen und Nahversorger*innen zu wünschen. Dass diese dann jeden Tag auf dem Markt stehen würden, hält Cornelia Dlabja jedoch für unrealistisch. Am benachbarten Yppenplatz findet samstags der heimische Bauernmarkt statt. Von der Stadtforschung sei bekannt, dass schon seit dem Mittelalter Bauern aufgrund der aufwendigen Arbeitsprozesse einbis höchstens zweimal pro Woche mit ihren regionalen Produkten auf einem Markt stehen.
„Wenn sich nun jemand mehr österreichische Marktbetreiber*innen wünscht, wünsche ich viel Spaß bei der Suche“, sagt die Stadtforscherin. In ihren Untersuchungen zum Brunnenviertel, in dem sie mittlerweile auch selbst lebt, erforschte sie auch den Arbeitsalltag der Standbetreiber*innen. Den würden sich viele Österreicher*innen nicht mehr antun wollen. „Ähnliches zeichnet sich ja auch in Bereichen wie der Pflege ab“, ergänzt Dlabaja.
Marktarbeit
Den Arbeitsalltag kennt Ömer Dugan nur allzu gut. Gegen drei Uhr nachts geht es für ihn jeden Tag zum Großmarkt, die Ware für den kommenden Tag holen. Dann wird hergerichtet und ab 6.30 Uhr verkauft, meist bis sechs Uhr abends. Danach noch weg- und aufgeräumt. Von Montag bis Samstag steht er an seinem Obst- und Gemüsestand. 2015 übernahm er diesen von seinem Vater. 1997 kamen Dugans Eltern aus der Türkei nach Österreich. Zunächst arbeitete Dugans Vater als Fleischhauer in der Landstraße. Danach konnte er sich mit dem Stand am Brunnenmarkt selbstständig machen.
Wenn man mit den Standbetreiber*innen spricht, hört man teils ähnliche Geschichten: Nach Österreich gekommen, in Hilfsjobs gearbeitet, irgendwann geschafft, einen Stand zu übernehmen, nun wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen, potenzielle Arbeitgeber*innen sein. Eigentlich genau das, was gemeinhin unter Integration erwartet und gefordert wird.
Dennoch gibt es auch Probleme. Standbetreiber* innen, die anonym bleiben möchten, erzählen von schlechter Hygiene in manchen Bereichen. Auf einem kurzen Video, das Karl Mahrer später teilte, ist eine Rangelei auf dem Markt zu sehen, die er als Massenschlägerei bezeichnet. Die Wiener Polizei antwortete auf Twitter: „Natürlich kennen wir das Video und es gab auch einen dbzgl. Notruf. Beim Eintreffen unsere Kolleg*innen war jedoch niemand mehr anwesend. Weder Täter, noch Zeugen, noch Opfer. Das ist für ‚Massenschlägereien‘ eher untypisch“.
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Im Park am Yppenplatz sollen
bis Sommer mehr Lichtquellen
installiert und Awareness-Teams
eingesetzt werden.
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Parktreiben
In einer Reaktion auf das erste Brunnenmarkt-Video legte Sabine Keri, ÖVP-Abgeordnete und Obfrau des Vereins Wienerinnen, eine Presseaussendung nach. Darin spricht sie von einer Befragung, in der der Brunnenmarkt als Zone genannt wird, in der sich Frauen nicht mehr sicher fühlen würden. Auf Anfragen des MO-Magazins, um welche Befragung es sich hier handle, wurde bis Redaktionsschluss nicht reagiert. Im Gespräch mit einigen Anwohner*innen ist jedoch eine Unzufriedenheit über die Situation im Park am Yppenplatz durchzuhören, der an den Brunnenmarkt anschließt. Auch Thomas Kaider, der seit sechs Jahren seine Fahrradwerkstatt am Yppenplatz betreibt, spricht von Veränderungen. Von seinem Geschäft aus sieht er zum gegenüberliegenden Park, der hinter den hippen Essenslokalen am Platz liegt. Dort beobachtete er in den letzten zwei bis drei Jahren vermehrt Schlägereien zwischen Jugendlichen, manchmal auch ganzen Gruppen, sowie Polizeieinsätze. Er erzählt von Bekannten, die nicht mehr gern mit ihren Kindern auf den Spielplatz im Park gehen würden.
Brunnenmarkt als Gewalt-Hotspot? Auf einem Video, das Mahrer teilte, war eine Rangelei zu sehen,
die er als „Massenschlägerei“ bezeichnete. Die Polizei konnte das nicht bestätigen.
Angespannte Lage
„Wir sind uns der Situation bewusst“, sagt Ruth Manninger, SPÖ-Bezirksrätin in Ottakring. Sie verweist auf die angespannte Lage für manche Jugendliche nach Jahren der Pandemie und Lockdowns sowie einen Ortswechsel kleinkrimineller Szenen. „Der Park ist ein öffentlicher Raum, der allen konsumfrei zugänglich sein soll, das ist uns als Bezirk wichtig“, sagt die Bezirksrätin. Es dürfe aber klarerweise nicht passieren, dass ein Unsicherheitsgefühl entsteht: „Schon gar nicht für Mädchen und Frauen.“ Awareness-Teams und Sozialarbeiter* innen der Suchthilfe sind laut Manninger mehrmals wöchentlich tagsüber und nachts in den Ottakringer Parks unterwegs. Im Park am Yppenplatz sollen bis Sommer mehr Lichtquellen installiert, er damit besser ausgeleuchtet werden. „Wir lassen uns aber unser allgemein gutes Zusammenleben nicht durch Videos kaputt machen, die an schlechte Slapstick-Filme erinnern“, ergänzt sie.
Fahrradwerkstättenbetreiber Thomas Kaider sah sich schlussendlich doch das Markt-Video von Karl Mahrer an. „Ich finde es absurd, das hat mit den Geschäftsleuten am Brunnenmarkt nichts zu tun“, meint er. Auf den Markt geht er weiterhin gern einkaufen. „Woher die Standler kommen, war mir schon als Kind ziemlich wurscht“, sagt er.
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