
Spielräume positiv nutzen
Die von Türkis-Blau beschlossene „Sozialhilfe Neu“ wurde von ExpertInnen vielfach kritisiert. Ende 2019 kippte der Verfassungsgerichtshof drei der giftigsten Punkte. Und nun? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Valentine Auer, Illustration: P.M. Hoffmann
Es geht darum, dass wir ein Netzwerk für die Armutsbekämpfung realisieren wollen. Das ist die Mindestsicherung oder die Sozialhilfe, egal wie wir sie nennen“, sagt der grüne Sozialminister Rudi Anschober im Interview mit Puls4 Info-Chefin Corinna Milborn. Armutsbekämpfung und Mindestsicherung. Zwei Begriffe, die durch das von der ÖVP/FPÖ Bundesregierung umgesetzte Sozialhilfe-Grundsatzgesetz nicht mehr zusammengehörten. Nicht nur weil die Mindestsicherung plötzlich Sozialhilfe hieß und damit dem Umstand gerecht wurde, dass nicht Mindestbeiträge, sondern Höchstsätze ausbezahlt werden sollen. Sondern auch, weil das Wort Armutsbekämpfung in ebendiesem Gesetz nicht vorkam.
Bereits vor dem Antritt Anschobers wurde das Gesetz entschärft, denn der Verfassungsgerichtshof (VfGH) entschied im Dezember 2019, dass drei Punkte des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes der Verfassung widersprechen. Neben der angedachten Übermittlung personenbezogener Daten zählen dazu die Verknüpfung von Leistungen mit Sprachkenntnissen sowie die gestaffelten Höchstsätze für Kinder. Je mehr Kinder, desto geringer sollen die Sozialhilfe-Beiträge ausfallen. Anschober zeigte sich erleichtert, dass die Schlechterstellung von Kindern in größeren Familien aufgehoben wurde und auch von Sanktionen bei fehlenden Deutschkenntnissen hält er nichts. Durch die Entscheidung des VfGH wurden dem Gesetz die größten Giftzähne gezogen, erklärt Anschober auf Nachfrage.
Defizite bei der Sozialhilfe
Anders sieht das Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie Österreich sowie Mitbegründer der „Armutskonferenz“. Aus seiner Arbeit mit Betroffenen weiß er, dass die Verwirrung groß ist. Daher müsse klar kommuniziert werden, dass das von Türkis-Blau beschlossene Grundsatzgesetz gilt und die Bundesländer dieses auch umsetzen müssen. Nur in den drei vom VfGH aufgehobenen Punkten können die Länder frei agieren, so Schenk: „Nur, weil die drei Punkte aufgehoben wurden, heißt das nicht, dass jetzt alles super ist. Das ist eine gefährliche Analyse, weil die ganzen anderen giftigen Punkte weiterhin drinnen sind.“
Der Sozialexperte beginnt die lange Liste dieser Punkte aufzuzählen: Da gibt es zum Beispiel die Deckelung der Wohnkosten. Der Wohnbedarf werde mit dieser Regelung nicht abgesichert, auch die tatsächlichen, ortsüblichen Wohnkosten werden nicht übernommen. Auch die Energiekosten werden nicht dem Wohnbedarf zugerechnet, stattdessen müssten die betroffenen Menschen für einen Zuschuss der Energiekosten extra betteln. Eine effektive Soforthilfe bei Notlagen vermisst Schenk im Gesetz ebenso wie Verfahrungsbestimmungen und einen verbesserten Vollzug, um schnellere Hilfe und Sicherheit zu ermöglichen. Zudem habe das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz die Situation von Menschen mit Behinderung verschärft, der höhere Bedarf dieser Personengruppe werde nicht gedeckt. „All das sind große kleine Dramen, die sich da abspielen. Es sind Punkte, die entscheiden, ob es sich um ein bürgerfreundliches Gesetz handelt oder um Untertanenregelungen“, fasst Schenk zusammen.
Armutskonferenz: 19 Punkte
Die Armutskonferenz drängt daher auf ein Mindestsicherungsgesetz, das Existenz, Chancen und Teilhabe sichert. Dafür wurden 19 Punkte formuliert, die es umzusetzen gilt. „Das geht aber nur mit einem neuen Gesetz, das alte Gesetz treibt die Leute eher in den Abgrund, als dass es sie aus der Armut führt“, stellt Schenk klar. Dass das komplette Bundesgesetz neu verhandelt wird, sei jedoch unwahrscheinlich. „Deshalb dürfen wir den Ländern zumindest keine Ausreden erlauben, damit sie zumindest das tun, was sie tun können.“
Auch Anschober will die Spielräume möglichst positiv nutzen und spricht sich gegen eine bundesweite Vereinheitlichung des Gesetzes aus. Dafür initiierte der Sozialminister Ende Jänner einen Arbeitsprozess mit den SozialreferentInnen der Länder. „Durch das Urteil des VfGH ist es zu einer wesentlichen Änderung des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes gekommen. Drei Punkte hat der Verfassungsgerichtshof beeinsprucht. Darüber hinaus sind in der Begründung eine ganze Reihe von Interpretationen des Grundsatzgesetzes enthalten, die den Ländern deutlich mehr Spielraum in weiteren Bereichen des Gesetzes ermöglichen“, betont Anschober. Anschober geht davon aus, dass die Länder die notwendigen Schritte zur Umsetzung des Grundsatzgesetzes in Angriff nehmen und bis Ende des Jahres in allen Bundesländern eine entsprechende Gesetzeslage vorliegt.
NÖ und OÖ: negative Vorreiter
Dass das nicht unbedingt positiv ausgehen muss, zeigen die Länder Niederösterreich und Oberösterreich. Während die restlichen Bundesländer die Entscheidung des VfGH abgewartet haben, setzten die beiden ÖVP-geführten Bundesländer die „Sozialhilfe Neu“ bereits 2019 um. Nun müssen sie die Regelung reparieren: die Kindersätze wurden insgesamt erhöht, und auch wenn die Staffelungen bestehen bleiben, hat man diese doch flacher gestaltet. Eine Entschärfung gibt es in Niederösterreich auch bei den Deutschkenntnissen. Um Sozialhilfe zu erhalten muss das Sprachniveau nicht mehr nachgewiesen werden, sondern es reicht der Besuch von Sprachkursen. In Oberösterreich wurden Sanktionen an die Integrationsbereitschaft der Betroffenen und an eine „Bemühungspflicht“ gebunden. Ein schwammiger Begriff, als Beispiel für dieses „Bemühen“ nennt ein Vertreter der FPÖ den Besuch eines „Sprachcafes“.
Martin Schenk bezeichnet die beiden Bundesländer als negative Vorreiter und auch Anschober zeigt sich unzufrieden: „Was Niederösterreich und Oberösterreich anbelangt, so haben sie sehr rasch auf die geänderten Rahmenbedingungen reagiert. Allerdings sehe ich die Umsetzung, gerade was die Unterstützung von Kindern betrifft, sehr kritisch.“ Doch ohne eine Neuverhandlung des gesamten Bundesgesetzes muss Anschober deren Umsetzung wohl zur Kenntnis nehmen.
Genau darin sieht auch Schenk ein Problem. Obwohl das Sozialministerium um eine Einschätzung der Armutskonferenz ersucht hat und auch die 19 vorgeschlagenen Punkte auf dem Bildschirm hat, dürfte es unwahrscheinlich sein, dass diese auch umgesetzt werden. Dennoch zeigt sich für Schenk – neben dem Bekenntnis zur Armutsbekämpfung – ein positiver Trend in der Politik. Nämlich jener der evidenzbasierten Gesetzgebung. Sozialwissenschaftliche Kenntnisse und Studien sowie Fachwissen aus der sozialen Praxis sollten demnach in der Gesetzgebung beachtet werden. „Das ist ein wichtiger Punkt“, sagt Schenk, „ein Punkt, der in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr berücksichtigt wurde. Es war völlig egal, was die Evidenz, was Leute aus der Praxis sagen: Dass das wieder Bedeutung hat, ist zumindest positiv“.
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