„Starke Zunahme der Anfragen“
Die Inflation ist hoch wie seit 40 Jahren nicht, 800.000 Menschen haben Probleme, den Haushalt zu finanzieren. Reichen die Maßnahmen der Regierung? Nachgefragt bei Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell
Wie merken Sie die zunehmende Armutsgefährdung bei der täglichen Arbeit?
Es wenden sich Menschen erstmals an uns, die nie damit gerechnet hätten, jemals die Hilfe der Caritas zu brauchen. Menschen, die ohnehin im Supermarkt sehr genau abwägen, ob sich das Kilo Brot am Ende des Monats noch ausgeht – diese Menschen können sich das Alltäglichste schlichtweg nicht mehr leisten. Unsere Caritas Sozialberatungsstellen melden eine starke Zunahme der Anfragen, ebenso unsere Lebensmittelausgabestellen. Teils gibt es schon Aufnahmestopps, weil wir nicht mehr genügend Lebensmittel für alle haben. Es ist dramatisch.
Die Bundesregierung lobt sich selbst mit einem der größten Entlastungspakete überhaupt, Sie fordern hingegen einen zielgerichteten Antiteuerungszuschlag ohne Gießkannenprinzip. Profitieren die falschen Zielgruppen von den angekündigten Milliarden?
Die Bundesregierung hat mit mittlerweile drei Teuerungspaketen viele Maßnahmen gesetzt – das ist anzuerkennen. Aber: Die Teuerung kommt schneller an als die beschlossenen Hilfen. Sie trifft Armutsbetroffene bzw. Menschen mit geringem Einkommen ungleich härter. Deshalb fordern wir auch vehement ein, dass es jetzt treffsichere und schnelle Maßnahmen gibt. Für Herbst und Winter erwarten wir eine weitere gravierende Verschlechterung. Die Valorisierung der Sozial- und Familienleistungen ist für Jänner nächsten Jahres geplant – wenn aber die Inflation immer höher wird und auch die Energiepreise schon mit September weiter angehoben werden, dann muss auch diese Valorisierung vorgezogen werden.
Welche konkreten Maßnahmen schlagen Sie vor? Wie entkräftet man den Einwand, zielgerichtete Maßnahmen würden zu großen Bürokratieaufwand bringen?
Wir wissen, dass der Sozialstaat wirkt und Menschen, die Hilfe brauchen, über bestehende Daten und Mechanismen gut erreichen kann. Was wir aber auch sehen: Bei immer mehr Menschen, die erwerbstätig sind, reicht das Einkommen nicht mehr aus; sie suchen erstmals um Hilfe bei uns an. Das bestätigen auch Zahlen des Fiskalrates: Mittlerweile sind 35 Prozent aller Haushalte durch die Teuerungen massiv unter Druck. Die Bundesregierung muss dringend die Datengrundlage herstellen, damit diese Menschen etwaige Einmalhilfen erhalten können, bis die Valorisierung greift. Das muss oberste Priorität haben.
Welche raschen Schritte fordern Sie?
Aus unserer Sicht braucht es bereits jetzt eine Valorisierung der Sozial- und Familienleistungen – bis Jänner nächsten Jahres können Familien nicht mehr warten. Falls das nicht gelingt, braucht es noch im Herbst einen Anti-Teuerungs- Zuschlag für die einkommensärmsten 35 Prozent der Haushalte – und zwar für Empfänger*innen von Sozialleistungen ebenso wie für Erwerbstätige mit geringem Einkommen. Zweitens braucht es einen gesetzlich verankerten Abschaltestopp bei Strom und Gas diesen Winter. Und drittens muss die Regierung endlich alle Sozialleistungen auf ein armutsfestes Niveau anheben. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe müssen valorisiert werden. Und – wir wissen nicht, wie sich das nächste Jahr entwickeln wird: Es braucht Flexibilität, dass das Sozialministerium auch unterjährig Valorisierungen verordnen kann. (gun)
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