
Wo bleibt das Kindeswohl?
Vor einem Jahr wurde die 12-jährige Tina abgeschoben. Vergangenen Sommer veröffentlichte die Kindeswohlkommission einen Bericht. Umgesetzt wurden die Empfehlungen bislang nur minimal. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher
Bald ist ein Jahr vorbei. Ein Jahr seitdem die damals 12-jährige Tina mit ihrer kleinen Schwester und Mutter unter großem Polizeiaufgebot und viel Medienwirbel am 28. Jänner 2020 nach Georgien abgeschoben wurden.
Wie geht es Tina inzwischen? „Mein Letztstand ist, dass es ihr immer noch schwer fällt sich auf das neue Land umzustellen“, erzählt der Anwalt der Familie, Wilfried Embacher. Die Frage nach der Rückkehr nach Österreich sei das dominante Thema. Ein direkter Kontakt zu Medien wird derzeit abgelehnt. „Wir hatten das Gefühl, dass die medialen Nachfragen, wie es ihr gehe, wieder Hoffnung in ihr wecken. Es sollte aber eher mehr Ruhe einkehren“, so der Anwalt.
Traumatisierender Einschnitt
In einem Video des Instagram-Mediums „die_chefredaktion“ beschreibt die 14-jährige Ana, wie es ihr nach ihrer Abschiebung im November 2020 nach Georgien geht. „Es kommt wirklich immer wieder hoch, da sitze ich manchmal einfach da und da steigen mir einfach so die Tränen in die Augen. Es ist wirklich nicht so leicht“, schildert sie. Anas Eltern waren 2008 vor dem Kaukasuskrieg nach Österreich geflohen. Zwölf Jahre verbrachte die Familie in Österreich, erhielt aber kein Bleiberecht. „Ich weine die ganze Zeit, habe irgendwie auf nichts Lust, will auch überhaupt nicht rausgehen“, erzählt Ana auf dem Kanal von „die_chefredaktion“.
Schüler‘innen demonstrieren gegen die Abschiebung von Kindern und Jugendlichen.
Ein solcher Einschnitt hat Folgen für die Betroffenen. „Wenn Kinder aus ihrem Lebensumfeld herausgerissen und in ein ihnen völlig unbekanntes Lebensumfeld verpflanzt werden, ist das fast immer eine Traumatisierung für sie“, erklärt Ernst Berger, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine derartige Traumatisierung kann später zu einer posttraumatischen Belastungsreaktion führen. „Je nach Umgang damit, kann sich das zu anhaltenden psychischen Störungen mit depressivem Charakter bis hin zu Selbstmordversuchen und verschiedenen Störungen des Sozialverhaltens verfestigen“, so der Facharzt.
Wo bleibt das Kindeswohl?
Ernst Berger war Teil der Kindeswohlkommission, die im Februar unter der Leitung der ehemaligen Höchstrichterin Irmgard Griss von Vizekanzler Werner Kogler eingesetzt wurde, nachdem die Abschiebungen von Tinas Familie auch für einen Koalitionskrach in der türkis-grünen Bundesregierung sorgten. Die Kommission befasste sich mit der Frage, wie es um die Kinderrechte bei Entscheidungen zum Asyl- und Bleiberecht stehe.
Jugendpsychater Ernst Berger: erwartet unter der türkisen ÖVP keine Veränderungen.
Mitte Juli präsentierte sie schließlich einen mehr als 400 Seiten umfassenden Bericht. Darin forderte sie eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls in Verfahren. Die Prüfung müsse „über die Wahrung der Familieneinheit hinausgehen und eigenständig die Situation und Integration von Kindern berücksichtigen.“
Kinderrechte seien zwar rechtlich umfassend abgesichert. Die österreichische Verfassung besagt, dass bei staatlichen Entscheidungen das Kindeswohl an erster Stelle stehen muss. Auch bei Rückkehrentscheidungen und Abschiebungen muss folglich das Kindeswohl mit den staatlichen Interessen individuell abgewogen werden. Laut Kindeswohlkommission würden aber ähnliche Fälle unterschiedlich bewertet werden.
Dem stimmt auch Fremdenrechtsexperte Wilfried Embacher zu: „Bei manchen Richter*innen hatte ich bis dato den Eindruck, dass ihnen nicht einmal bewusst war, dass das Kindeswohl relevant sein könnte.“ Es sei oft so entschieden worden, dass Kinder dem Schicksal der Eltern zu folgen haben. Werde deren Aufenthalt negativ entschieden, treffe das automatisch auch die Kinder. „Dieser Gedanke war so bestimmend, dass man gar nicht auf die Idee gekommen ist, zu sagen: Moment einmal, jetzt schau ich mir die Kinder gesondert an und wenn das Kindeswohl dem entgegensteht, dann wird sich das auf die ganze Familie durchschlagen und nicht umgekehrt“, so Embacher.
Rechtsanwalt Wilfried Embacher, sieht bezüglich Kinderrechte nun mehr Aufmerksamkeit.
Embacher nimmt insgesamt mehr Aufmerksamkeit wahr. „Das Thema Kindeswohl wird zumindest einmal behandelt, was aber natürlich noch nicht heißt, dass die Fälle jetzt alle gleich ausgehen.“ Dennoch ist Embacher überrascht, dass es bisher keine Ankündigungen von politischer Seite zur Umsetzung des Kommissionsberichts gibt. „Es ist ein wirklich beeindruckendes Dokument mit Vorarbeiten, die in vielen Bereichen wertvoll sein könnten. Dass das so sang- und klanglos in der Schublade verschwunden ist, ist schon enttäuschend.“
Die Liste der Empfehlungen der Kindeswohlkommission ist lang: Abschiebungen sollten nicht während des Schuljahres stattfinden. Es dürfe keine Schubhaft mehr für Minderjährige und Familien geben. Die Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müsse für ganz Österreich einheitlich gestaltet werden. Und es solle klare Kriterien und Handlungsanleitungen für Referent*innen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl sowie für Richter*innen des Bundesverwaltungsgerichts geben, bei dem Bescheide bekämpft werden können.
Keine weiteren Härtefälle
Einen humaneren Zugang fordert auch Rechtsanwältin Eva Velibeyoglu. Sie vertrat die Jugendlichen Shona und Ashot, die am gleichen Tag wie Tina und ihre Familie nach Armenien abgeschoben wurden. „Ich wünsche mir von der Politik, dass diese Härtefälle nicht zunehmen“, so die Rechtsanwältin. „Den betroffenen Personen, die bestens in Österreich integriert sind nach so einer langen Aufenthaltsdauer, wird der Boden unter den Füßen weggerissen.“
Weiters kritisiert sie, dass oft Abschiebungen stattfinden würden, ohne abzuwarten, ob beim Verfassungsgerichtshof aufschiebende Wirkung erteilt wird. So auch im Fall der Familie von Shona und Ashot. „Es geht immer schneller mit den Abschiebungen“, meint die Anwältin. „Es ist zwar rechtens, da durchsetzbare Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichthofes da sind, aber nicht human.“ Seit zwei bis drei Jahren beobachte sie diese Tendenz.
Seit der Veröffentlichung des Berichts der Kindeswohlkommission habe sich Velibeyoglu zufolge wenig geändert. Auch Ernst Berger sieht kaum Änderungen. „Das Einzige, was wir wahrgenommen haben, ist, dass das Justizministerium Bemühungen setzt, im eigenen Bereich Fortbildungen für die Richter*innen anzubieten, um ihnen diese Thematik näher zu bringen“, sagt Berger.
Rechtsanwältin Eva Velibeyoglu: Wünscht sich von der Politik, dass Härtefälle nicht zunehmen.
Wichtig wäre die Etablierung eines Monitoring-Systems, das die Einhaltung der Kinderrechte laufend prüft und dem Parlament berichtet. Außerdem fordert die Kommission in ihrem Bericht die Einrichtung einer Institution, die sich um das Monitoring des Kindeswohls in der Vollziehung kümmert – ähnliche Institutionen gebe es bereits in anderen Ländern.
Doch die Umsetzung der Vorschläge des Berichts sieht Berger noch in weiter Ferne. „Solange die politischen Kräfteverhältnisse in Österreich so sind, wie sie jetzt sind, das heißt, mit einer migrationsfeindlichen Dominanz in der Bundesregierung durch die Haltung der türkisen ÖVP, wird sich meines Erachtens vorerst nichts ändern“, meint der Facharzt.
Immer wieder gibt es in Wien Proteste gegen Abschiebungen. Den betroffenen Menschen, die oft schon viele Jahre bestens integriert hier leben, wird so der „Boden unter den Füßen weggerissen“, kritisiert die Rechtsanwältin Eva Velibeyoglu.
Daher sei es für ihn jetzt wichtig, die Erkenntnisse der Kommission möglichst weit zu verbreiten und Menschen zum Denken zu bringen. Gute Chancen sieht er an der Basis, etwa in den Gemeinden. „Wir hören ja immer wieder von Bürgermeistern, die darauf hinweisen, dass gut integrierte Familien nicht abgeschoben werden sollen“, so der Jugendpsychiater. „Diese Stimmen müssen mehr werden.“
Für Tina kämen die Änderungen so oder so zu spät. Die einzige rechtliche Möglichkeit nach Österreich zurückzukommen, die laut Anwalt Wilfried Embacher derzeit noch in Frage käme, wäre ein Schülervisum. Jedoch würde dieses nur für Tina gelten, nicht für den Rest ihrer Familie. Doch je länger die Unterbrechung andauere, desto mehr rückt auch dieser Hoffnungsschimmer in weite Ferne.
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